Urteil des BSG vom 25.04.2018

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Erfordernis der Zusicherung zum Umzug eines unter 25-Jährigen durch den kommunalen Träger - Abschluss eines Vertrages über die Unterkunft vor dem Umzug

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 25.4.2018, B 14 AS 21/17
R
ECLI:DE:BSG:2018:250418UB14AS2117R0
Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Erfordernis der
Zusicherung zum Umzug eines unter 25-Jährigen durch den
kommunalen Träger - Abschluss eines Vertrages über die
Unterkunft vor dem Umzug
Leitsätze
Die Zusicherung des kommunalen Trägers, nach einem Umzug
eines volljährigen Leistungsberechtigten unter 25 Jahren Bedarfe
für Unterkunft und Heizung anzuerkennen, ist nur bei einem
Umzug in eine Unterkunft erforderlich, über die durch den
Leistungsberechtigten vor dem Umzug ein Vertrag
abgeschlossen wird.
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des
Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. September
2016 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an
das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1
Im Streit ist die Höhe des Alg II des Klägers von August 2013 bis
Januar 2014 nach einem Umzug.
2
Der 1990 geborene, unverheiratete Kläger lebte bis Sommer 2013 im
Haushalt seiner Mutter in H (Landkreis L) und bezog bis 31.7.2013 als
Angehöriger einer Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter und
Geschwistern Alg II vom Jobcenter Landkreis L Dieses wies ihn zur
Verbesserung seiner Eingliederungschancen einer Maßnahme in der
Nähe von Ha zu, in deren Rahmen er dort internatsmäßig
untergebracht werden sollte. Am 1.8.2013 zog der Kläger zu seiner
Freundin A, die er 2008 kennengelernt hatte und die seit ihrem
Auszug aus dem elterlichen Haushalt bei den Eheleuten K in deren
Wohnung im Haus S in G wohnte. Eine vorherige Zusicherung des
Leistungsträgers nach § 22 Abs 5 Satz 1 SGB II holte der Kläger nicht
ein. Frau A bezog ebenso wie die Eheleute K Alg II vom beklagten
Jobcenter. Nach dem Einzug des Klägers reduzierte der Beklagte die
Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Eheleute K auf die
Hälfte der monatlichen Aufwendungen (zwei von vier Kopfteilen);
einen Kopfteil von Frau A berücksichtigte der Beklagte bei der
Leistungsbewilligung für sie nicht.
3
Auf Antrag des Klägers vom 1.8.2013 bewilligte der Beklagte ihm Alg
II für die Zeit vom 1.8.2013 bis 31.1.2014 in Höhe von monatlich 306
Euro (Bescheid vom 12.8.2013). Dabei berücksichtigte er neben dem
Regelbedarf nur in dieser Höhe keine Bedarfe für Unterkunft und
Heizung. Den Widerspruch des Klägers, mit dem er einen höheren
Regelbedarf und die anteiligen Bedarfe für Unterkunft und Heizung
geltend machte, wies der Beklagte zurück
(Widerspruchsbescheid vom 4.9.2013): Der Kläger sei als Unter-25-
Jähriger ohne Zusicherung des kommunalen Trägers umgezogen,
weshalb nach § 22 Abs 5 SGB II Bedarfe für Unterkunft und Heizung
nicht anerkannt werden könnten und nach § 20 Abs 3 SGB II der
monatliche Regelbedarf 306 Euro betrage. Durch
Änderungsbescheid vom 23.11.2013 bewilligte der Beklagte dem
Kläger für Januar 2014 einen Regelbedarf in Höhe von 313 Euro
unter Hinweis auf die zum 1.1.2014 neu festgesetzten Regelbedarfe.
4
Die auf höhere Leistungen gerichtete Klage wies das SG ab
(Urteil vom 12.12.2014). Die Berufung des Klägers wies das LSG
zurück (Urteil vom 22.9.2016): Der im streitigen Zeitraum noch nicht
25 Jahre alte Kläger habe keinen Anspruch auf die begehrten
höheren Leistungen, weil er ohne die wegen seines ersten Umzugs
aus dem elterlichen Haushalt erforderliche vorherige Zusicherung
nach § 22 Abs 5 Satz 1 SGB II umgezogen sei und von einer
Zusicherung vorliegend auch nicht nach § 22 Abs 5 Satz 3 SGB II
abgesehen werden könne. Das Erfordernis einer Zusicherung und die
leistungsrechtlichen Folgen eines Umzugs ohne Zusicherung seien
nicht verfassungswidrig.
5
Mit seiner vom BSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine
Verletzung der Ansprüche auf den höheren Regelbedarf nach § 20
Abs 2 Satz 1 SGB II und auf Anerkennung der Bedarfe für Unterkunft
und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II sowie eine Verletzung
des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums. Bei der verfassungsrechtlich gebotenen
restriktiven Anwendung des § 22 Abs 5 SGB II sei eine Zusicherung
nicht erforderlich, wenn vor dem Umzug kein Vertrag über die
Unterkunft abgeschlossen worden sei, sondern die Bedarfe für
Unterkunft und Heizung ausschließlich entstünden, weil der
Betroffene in einen anderen Haushalt einziehe und das Jobcenter die
Unterkunftsaufwendungen nach dem Kopfteilprinzip zwischen den
Haushaltsangehörigen verteile. So liege es hier, weil der Kläger keine
eigene Wohnung bezogen und keinen eigenen Mietvertrag
unterschrieben habe, sondern sich einem bestehenden Haushalt
angeschlossen habe. Seine Bedarfe für Unterkunft und Heizung
ergäben sich aus der Verteilung der Unterkunftsaufwendungen nach
dem Kopfteilprinzip auf die Haushaltsangehörigen.
6
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22.
September 2016 und des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 12.
Dezember 2014 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung
des Bescheids vom 12. August 2013 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 4. September 2013 und des
Änderungsbescheids vom 23. November 2013 zu verurteilen, ihm für
die Zeit von August 2013 bis Januar 2014 höheres Arbeitslosengeld II
zu zahlen.
7
Der Beklagte verweist auf das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
8 Die zulässige Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des
angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das
LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der
Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend
entscheiden, ob dem Begehren des Klägers nach höheren
Leistungen die leistungsrechtlichen Folgen der unterlassenen
Einholung einer Zusicherung nach § 22 Abs 5 SGB II
entgegenstehen.
9
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die Urteile des
LSG und des SG und der Bescheid des Beklagten vom 12.8.2013 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.9.2013 sowie der
Änderungsbescheid vom 23.11.2013, der für Januar 2014 eine
ersetzende Neuregelung enthält und nach § 96 SGG Gegenstand
des Klageverfahrens geworden ist. Mit seiner zulässig auf den
Erlass eines Grundurteils im Höhenstreit
(§ 130 Abs 1 SGG; BSG vom 16.4.2013 - B 14 AS 81/12 R - SozR 4-
4225 § 1 Nr 2 RdNr 10)
gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage
(§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) begehrt der Kläger als höhere
Leistungen den Regelbedarf für eine alleinstehende Person nach §
20 Abs 2 Satz 1 SGB II statt des ihm nur bewilligten geringeren
Regelbedarfs nach § 20 Abs 3 iVm Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II und die
Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II
in Höhe seines Kopfteils an den Aufwendungen für die (auch) von
ihm bewohnte Wohnung. Streitig ist der Zeitraum von August 2013
bis Januar 2014.
10
2. Rechtsgrundlage des geltend gemachten höheren
Leistungsanspruchs des Klägers sind § 19 Abs 1 Satz 1 und 3 iVm
§ 20 Abs 2 Satz 1 und § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II
(in der ab 1.4.2011 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom
13.5.2011, BGBl I 850; Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom
19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f)
.
11
3. Der Kläger erfüllte nach dem Gesamtzusammenhang der
Feststellungen des LSG die Grundvoraussetzungen des § 7 Abs 1
Satz 1 SGB II (erwerbsfähiger Leistungsberechtigter), aber keinen
Ausschlusstatbestand.
12
Er bildete im streitigen Zeitraum von August 2013 bis Januar 2014
keine Bedarfsgemeinschaft mit anderen Personen, sondern war
alleinstehend. Alleinstehend - iS des § 20 Abs 2 Satz 1 SGB II
(dazu 4.) - ist, wer keiner Bedarfsgemeinschaft mit anderen
hilfebedürftigen Personen angehört bzw allein für seine Person "eine
Bedarfsgemeinschaft" bildet
(BSG vom 17.7.2014 - B 14 AS 54/13 R - BSGE 116, 200 = SozR 4-
4200 § 7 Nr 37, RdNr 27; zur Auslegung des § 20 Abs 2 SGB II mit
Blick auf den Zweck der Zuweisung des Regelbedarfs vgl BSG vom
1.12.2016 - B 14 AS 21/15 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 26 RdNr 16)
. Der Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter gehörte der Kläger nach
seinem Auszug nicht mehr an. Mit den Eheleuten K bildete er nach
seinem Einzug keine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs 3 Nr 2 oder
4 SGB II, weil zu diesen keine Eltern-Kind-Beziehung bestand. Nach
den Feststellungen des LSG ergeben sich zudem keine
Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger im streitigen Zeitraum mit Frau
A eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs 3 Nr 1 und 3 Buchst c,
Abs 3a SGB II bildete, weil danach beide in dieser Zeit, die mit dem
Einzug des Klägers in die Wohnung der Eheleute K am 1.8.2013
begann, nicht als Partner und Partnerin in einem gemeinsamen
Haushalt als Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft
zusammenlebten
(zu den Anforderungen an die Feststellung ihres Bestehens vgl BSG
vom 23.8.2012 - B 4 AS 34/12 R - BSGE 111, 250 = SozR 4-4200 §
7 Nr 32, RdNr 13 ff, BSG vom 12.10.2016 - B 4 AS 60/15 R - SozR
4-4200 § 7 Nr 51 RdNr 25 ff)
.
13
4. Als Regelbedarf werden nach § 20 Abs 2 Satz 1 SGB II bei
Personen, die alleinstehend sind, im streitigen Zeitraum von August
bis Dezember 2013 monatlich 382 Euro und im Januar 2014 391
Euro anerkannt
(Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20
Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1.
Januar 2013 vom 18.10.2012, BGBl I 2175; Bekanntmachung über
die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2014 vom 16.10.2013,
BGBl I 3857)
.
14
Abweichend von § 20 Abs 2 Satz 1 ist nach § 20 Abs 3 SGB II bei
Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und
ohne Zusicherung des zuständigen kommunalen Trägers nach § 22
Abs 5 SGB II umziehen, bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres
der in § 20 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II genannte, geringere Betrag als
Regelbedarf anzuerkennen. Ob diese Abweichung vorliegend
zulasten des Klägers eingreift, kann der Senat auf der Grundlage
der Feststellungen des LSG nicht entscheiden (dazu 7.).
15
Anhaltspunkte für das Bestehen eines Mehrbedarfs (§ 21 SGB II)
des Klägers lassen sich den Feststellungen des LSG nicht
entnehmen.
16
5. Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden nach § 22 Abs 1 Satz
1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit
diese angemessen sind. Dies setzt bei Mitnutzung einer Wohnung
keine vertragliche Verpflichtung zur Tragung von Aufwendungen für
diese voraus. Das im Rahmen des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II
anzuwendende Kopfteilprinzip weist vielmehr bei der gemeinsamen
Nutzung einer Wohnung durch mehrere Personen unabhängig von
schuldrechtlichen Verpflichtungen jeder Person einen gleich hohen
individuellen Bedarf zu, soweit nicht abweichende vertragliche
Vereinbarungen bestehen oder sonst eine Abweichung vom
Kopfteilprinzip anzuerkennen ist
(BSG vom 14.2.2018 - B 14 AS 17/17 R - vorgesehen für BSGE und
SozR 4-4200 § 22, RdNr 13 ff)
.
17
Ob der Kläger Anspruch auf die Anerkennung der Bedarfe für
Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II in Höhe
seines Kopfteils an den Aufwendungen für die Wohnung der
Eheleute K hat oder ob dem die abweichende Regelung des § 22
Abs 5 SGB II entgegensteht, kann der Senat auf der Grundlage der
Feststellungen des LSG nicht entscheiden (dazu 7.).
18
Auf die Frage der Angemessenheit ggf anzuerkennender
Aufwendungen des Klägers käme es vorliegend schon mangels
Kostensenkungsaufforderung nach § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II nicht
an.
19
6. Dass zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen den
Bedarfen des Klägers im streitigen Zeitraum entgegenstehen
könnte, lässt sich den Feststellungen des LSG nicht entnehmen.
Vielmehr hat nach diesen der Beklagte mit seinen angefochtenen
Bescheiden den von ihm für den Kläger anerkannten Regelbedarf
nach § 20 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II in voller Höhe ohne
Berücksichtigung von Einkommen oder Vermögen bewilligt.
20
7. Ob Ansprüchen des Klägers auf den Regelbedarf nach § 20 Abs
2 Satz 1 SGB II und auf anteilige Bedarfe für Unterkunft und Heizung
nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II widerstreitet, dass er als Person, die
das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, ohne vorherige
Zusicherung des kommunalen Trägers umgezogen ist, oder ob
vorliegend die Einholung einer Zusicherung nach § 22 Abs 5 SGB II
nicht erforderlich war, kann der Senat auf der Grundlage der
Feststellungen des LSG nicht entscheiden.
21
a) § 22 Abs 5 SGB II bestimmt: Sofern Personen, die das 25.
Lebensjahr noch nicht vollendet haben, umziehen, werden Bedarfe
für Unterkunft und Heizung für die Zeit nach einem Umzug bis zur
Vollendung des 25. Lebensjahres nur anerkannt, wenn der
kommunale Träger dies vor Abschluss des Vertrages über die
Unterkunft zugesichert hat (Satz 1). Der kommunale Träger ist zur
Zusicherung verpflichtet, wenn 1. die oder der Betroffene aus
schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der
Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann, 2. der Bezug
der Unterkunft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist
oder 3. ein sonstiger, ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt
(Satz 2). Unter den Voraussetzungen des Satzes 2 kann vom
Erfordernis der Zusicherung abgesehen werden, wenn es der oder
dem Betroffenen aus wichtigem Grund nicht zumutbar war, die
Zusicherung einzuholen (Satz 3). Bedarfe für Unterkunft und
Heizung werden bei Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben, nicht anerkannt, wenn diese vor der Beantragung
von Leistungen in eine Unterkunft in der Absicht umziehen, die
Voraussetzungen für die Gewährung der Leistungen herbeizuführen
(Satz 4).
22
b) Der Kläger ist als unter 25 Jahre alte volljährige erwerbsfähige
leistungsberechtigte Person aus der bisherigen elterlichen Wohnung
ausgezogen und mit seinem Einzug in die Wohnung der Eheleute K
in eine andere Unterkunft iS des § 22 Abs 5 Satz 1 SGB II
umgezogen, ohne zuvor eine Zusicherung eingeholt zu haben. Es
handelte sich um seinen erstmaligen Umzug, sodass es vorliegend
nicht darauf ankommt, ob § 22 Abs 5 Satz 1 SGB II stets nur auf den
erstmaligen Umzug
(so Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 RdNr 185 f; Krauß in
Hauck/Noftz, SGB II, K § 22 RdNr 265 f, 268, Stand 10/12; Luik in
Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 RdNr 194 f)
oder auch auf Folgeumzüge
(so Piepenstock in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 22 RdNr 194)
Anwendung zu finden vermag. Mit seinem Umzug hat der Kläger als
Alleinstehender "eine Bedarfsgemeinschaft" neu begründet
(zu diesem Aspekt eines Umzugs iS des § 22 Abs 5 Satz 1 SGB II
vgl Luik, aaO, § 22 RdNr 202)
.
23
c) Das Zusicherungserfordernis vor einem Umzug und die
leistungsrechtlichen Folgen seiner Nichteinhaltung greifen nach § 22
Abs 5 Satz 1 SGB II nur dann, wenn eine Person, die das 25.
Lebensjahr noch nicht vollendet hat, in eine Unterkunft umzieht, über
die durch den jungen Erwachsenen vor dem Umzug ein Vertrag
abgeschlossen wird
(vgl Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 RdNr 185, 191; Luik in
Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 RdNr 203)
. Zwar kann eine Zusicherung nach § 22 Abs 5 SGB II, anders als
die nach § 22 Abs 4 SGB II, auch ohne ein konkretes
Wohnungsangebot für eine zu beziehende Wohnung eingeholt
werden
(vgl Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 22 RdNr 273, 275, Stand
10/12)
. Doch das Erfordernis der Zusicherung nach § 22 Abs 5 SGB II
erfasst nur Umzüge in eine Unterkunft, über die vor dem Umzug ein
Vertrag abgeschlossen wird. Allein ein Umzug löst nicht bereits das
Zusicherungserfordernis aus.
24
aa) Nach seinem Wortlaut setzt § 22 Abs 5 Satz 1 SGB II für die
Anerkennung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Zeit
nach einem Umzug bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres
voraus, dass der kommunale Träger die Anerkennung "vor
Abschluss des Vertrages über die Unterkunft" zugesichert hat.
Hiernach bedarf es der Zusicherung nicht bei jedem Umzug,
sondern nur vor einem Umzug in eine Unterkunft, über die ein
Vertrag abgeschlossen wird.
25
bb) Der Sinn und Zweck des Zusicherungserfordernisses und der
leistungsrechtlichen Folgen seiner Nichteinhaltung, wie er durch die
Materialien zum Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 24.3.2006 (BGBl I 558)
bestätigt wird, ergibt nichts Anderes.
26
Durch § 20 Abs 2a SGB II
(als Vorläuferregelung zu § 20 Abs 3 SGB II in Kraft getreten am
1.7.2006)
und § 22 Abs 2a SGB II
(als Vorläuferregelung zu § 22 Abs 5 SGB II in Kraft getreten am
1.4.2006)
sollte als Folgeregelung zur Einbeziehung von im Haushalt
lebenden volljährigen Kindern, die das 25. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben, in eine Bedarfsgemeinschaft mit den Eltern oder
einem Elternteil der Anreiz vermindert werden, auf Kosten der
Allgemeinheit erstmalig eine eigene Wohnung bei gleichzeitigem
Bezug der vollen Regelleistung (heute: Regelbedarf) zu beziehen.
Künftig sollten diese Personen grundsätzlich vor Abschluss des
Mietvertrags die Zustimmung des Leistungsträgers einholen müssen
(Beschlussempfehlung und Bericht vom 15.2.2006, BT-Drucks
16/688 S 14; zu den Motiven des Gesetzgebers s auch Berlit, info
also 2006, 51, 52 ff: Begrenzung des kostenträchtigen Erstbezugs
einer eigenen Wohnung; zur rechtstatsächlichen Ausgangslage vor
der Neuregelung s Wenner, SozSich 2005, 413)
.
27
Diese Anknüpfung der Zusicherung nach § 22 Abs 5 Satz 1 SGB II
an einen Vertrag ist auch sachgerecht, denn für sie spricht die
Warnfunktion des beabsichtigten Vertragsschlusses über die neue
Unterkunft. Bevor ein hilfebedürftiger junger Erwachsener
rechtsverbindliche vertragliche Pflichten mit Blick auf nach einem
Umzug zu tragende Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für
eine neue Unterkunft eingeht, besteht für diesen grundsätzlich
Veranlassung, die künftige Anerkennung von Aufwendungen für
Unterkunft und Heizung als Bedarfe nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II
durch den kommunalen Träger bei fortbestehender Hilfebedürftigkeit
zu klären. Bei einem Umzug, der nicht mit der Eingehung
vertraglicher Zahlungsverpflichtungen für die neue Unterkunft
verbunden ist, kommt diese Warnfunktion nicht zum Tragen.
28
cc) Es besteht kein Anlass, das Zusicherungserfordernis und damit
auch die leistungsrechtlichen Folgen seiner Nichteinhaltung über
den nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte
nur erfassten Fall des Umzugs in eine Unterkunft, über die vor dem
Umzug ein Vertrag abgeschlossen wird, hinaus auf jegliche Umzüge
von Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
anzuwenden. Dagegen spricht, dass bereits zum 1.7.2006 mit § 22
Abs 2a Satz 4 SGB II (heute: § 22 Abs 5 Satz 4 SGB II) eine
Regelung zur Vermeidung einer Umgehung des
Zusicherungserfordernisses eingeführt wurde
(Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende
vom 20.7.2006, BGBl I 1706)
, die nicht auf die Einbeziehung jeglicher Umzüge zielt
(zum Anwendungsbereich dieser Missbrauchsklausel vgl Luik in
Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 RdNr 192, 216 ff)
.
29
Gegen die Anwendung des Zusicherungserfordernisses bei einem
Umzug, der nicht mit dem Abschluss eines Vertrags über die
Unterkunft verbunden ist, sprechen mit Blick auf die
leistungsrechtlichen Folgen einer Nichteinhaltung des
Zusicherungserfordernisses zudem verfassungsrechtliche
Erwägungen. Die durch § 20 Abs 3 und § 22 Abs 5 SGB II
vorgesehenen leistungsbegrenzenden Ausnahmeregelungen für
junge Erwachsene sind wegen ihrer Strenge eng auszulegen, um
deren von Verfassungs wegen zu schützende Belange zu wahren
und ihnen eine grundsicherungsrechtlich folgenlose Auflösung des
bisherigen gemeinsamen Haushalts mit den Eltern oder einem
Elternteil nicht über das durch § 22 Abs 5 SGB II nach Wortlaut, Sinn
und Zweck sowie Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift gebotene
Maß hinaus zu erschweren
(vgl BSG vom 14.3.2012 - B 14 AS 17/11 R - BSGE 110, 204 =
SozR 4-4200 § 9 Nr 10, RdNr 30; vgl auch Luik in Eicher/Luik, SGB
II, 4. Aufl 2017, § 22 RdNr 190)
. Hieran ist nach dem Beschluss des BVerfG vom 27.7.2016
(1 BvR 371/11 - BVerfGE 142, 353 = SozR 4-4200 § 9 Nr 15)
festzuhalten.
30
Zwar hat das BVerfG das - mit der Verfassungsbeschwerde nicht
angegriffen gewesene - Zusicherungserfordernis des § 22 Abs 2a
SGB II (heute: § 22 Abs 5 SGB II) bei seiner Entscheidung
berücksichtigt, für zumutbar gehalten und als Einschränkung des
Selbstbestimmungsrechts für zu rechtfertigen angesehen. Doch es
hat dabei ausdrücklich nicht darüber entschieden, ob es
verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, Bedürftigen bei Auszug aus
der Wohnung einer Bedarfsgemeinschaft ohne Zustimmung des
Leistungsträgers weiter nur 80 % der existenzsichernden
Regelleistung für Alleinstehende und keinerlei Kosten der Unterkunft
und Heizung zu zahlen, obgleich der existenznotwendige Bedarf
stets zu sichern ist
(BVerfG vom 27.7.2016 - 1 BvR 371/11 - BVerfGE 142, 353 = SozR
4-4200 § 9 Nr 15, RdNr 66 f)
. Die hierin anklingende verfassungsrechtliche Relevanz der
leistungsrechtlichen Folgen einer Nichteinhaltung des
Zusicherungserfordernisses streitet dafür, es in seiner Anwendung
beschränkt zu lassen auf die Umzüge in eine Unterkunft, über die
durch den Leistungsberechtigten vor dem Umzug ein Vertrag
abgeschlossen wird.
31
d) Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben kann der Senat
nicht beurteilen, ob der ohne vorherige Zusicherung erfolgte Umzug
des Klägers dem Zusicherungserfordernis nach § 22 Abs 5 SGB II
unterlag. Es fehlen konkrete tatsächliche Feststellungen des LSG
dazu, ob der Umzug mit der Eingehung vertraglicher Verpflichtungen
durch den Kläger zur Zahlung von Aufwendungen für seine neue
Unterkunft verbunden war. Weder den Abschluss eines Vertrags
durch den Kläger über die Unterkunft, der vor seinem Abschluss
Anknüpfungspunkt für eine Entscheidung des kommunalen Trägers
über die Zusicherung nach § 22 Abs 5 Satz 1 SGB II hätte sein
können, noch das Fehlen eines Vertrags über die Unterkunft hat das
LSG konkret festgestellt. Dies wird das LSG zu klären haben, das
den Abschluss eines Vertrags vor dem Umzug ungeprüft gelassen
hat.
32
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu
entscheiden haben.