Urteil des BSG vom 25.04.2018

Urteil vom 25.04.2018

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 25.4.2018, B 14 AS 15/17
R
ECLI:DE:BSG:2018:250418UB14AS1517R0
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des
Landessozialgerichts für das Saarland vom 9. Mai 2017 geändert
und das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 21. April
2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Umstritten ist die Rücknahme von Bewilligungen und die Erstattung
von Leistungen und Beiträgen wegen verschwiegenen Vermögens
für den Zeitraum von Januar 2005 bis Januar 2007.
2
Der 1966 geborene, alleinstehende Kläger bezog zwischen Januar
2005 und Januar 2007 von der Rechtsvorgängerin des beklagten
Jobcenters Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II unter Berücksichtigung der Regelleistung und von
Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich
237 Euro. Zu seinem Vermögen hatte er im Erstantrag ein Girokonto
mit 1656,83 Euro und Fondsanteile von 1374,13 Euro angegeben
und die Frage nach weiteren Kapitalanlagen verneint. Im April 2008
legte er eine Aufstellung über Bankguthaben mit 7040,27 Euro bzw
3191,08 Euro zum 31.12.2004 bzw 31.12.2005 und im Juli 2010 eine
Bescheinigung über die Kündigung einer Lebensversicherung zum
1.9.2007 vor, die zum 1.1.2005 einen Rückkaufswert von 5304,67
Euro aufwies. Auf die Angaben zu der Lebensversicherung nahm der
Beklagte die Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 1.1.2005 bis
31.1.2007 nach Anhörung des Klägers vollständig zurück und setzte
Erstattungen einschließlich der Beiträge zur Kranken- und
Pflegeversicherung von insgesamt 17 789,04 Euro fest
(Bescheide vom 10.10.2011; Widerspruchsbescheid vom 9.10.2012).
3
Das SG hat die Rücknahme- und Erstattungsbescheide aufgehoben
(Urteil vom 21.4.2015): Zwar seien die Bewilligungen anfänglich
rechtswidrig gewesen. Jedoch sei nicht erwiesen, dass die Angaben
des Klägers in einer Vertrauensschutz ausschließenden Weise
unvollständig gewesen seien. Das LSG hat das Urteil des SG
abgeändert und die Bescheide aufgehoben, soweit die
Erstattungssumme 5342,07 Euro übersteigt und die Klage im Übrigen
abgewiesen (Urteil vom 9.5.2017): Der Kläger habe zwar bei der
Beantragung der Leistungen zumindest grob fahrlässig Angaben
gemacht, die in wesentlicher Beziehung unrichtig bzw unvollständig
gewesen seien. Jedoch sei die Rückforderung entsprechend der
Härteregelung des § 12 Abs 3 Satz 1 Nr 6 Alternative 2 SGB II auf
den Wert des zu Beginn des Bewilligungszeitraums zu
berücksichtigenden Vermögens in Höhe von 5342,07 Euro zu
begrenzen.
4
Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung von §§ 45, 50
SGB X sowie der §§ 7, 9 und 12 SGB II. Für eine Begrenzung der
Rückforderung bestehe keine Rechtsgrundlage. Herzustellen sei der
bei Erlass der zurückgenommenen Bescheide rechtmäßige Zustand.
An der dafür vorausgesetzten Hilfebedürftigkeit habe es wegen des
zu berücksichtigenden Vermögens des Klägers gefehlt.
5
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 9. Mai
2017 zu ändern und das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland
vom 21. April 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
7
Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet
(§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Zu Recht macht er geltend, dass für
Rücknahme und Erstattung einer Alg II-Bewilligung wegen
verschwiegenen Vermögens unbeachtlich ist, in welchem Umfang
das Vermögen bei rechtmäßigem Verhalten einzusetzen gewesen
wäre. Dass er einen Forderungserlass zur Vermeidung unbilliger
Härten bislang nicht geprüft hat, berührt die Rechtmäßigkeit von
Rücknahme und Erstattung nicht.
8 1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den
vorinstanzlichen Urteilen die Rücknahme- und Erstattungsbescheide
vom 10.10.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
9.10.2012, soweit sie auf die - statthafte - Anfechtungsklage
(§ 54 Abs 1 Satz 1 Alternative 1 SGG) des Klägers vom SG
aufgehoben worden sind und das LSG die Berufung des Beklagten
hiergegen zurückgewiesen hat. Streitbefangen ist danach die
Rücknahme der Leistungsbewilligungen und die Erstattung von
Leistungen und Beiträgen für den Zeitraum vom 1.1.2005 bis
31.1.2007 durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten nur
(noch), soweit die von ihm festgesetzte Erstattungssumme 5342,07
Euro übersteigt. Soweit das LSG die Klage bis zu diesem Betrag
abgewiesen hat, sind die Rücknahme- und Erstattungsbescheide
dagegen mangels Revision oder Anschlussrevision des Klägers
bindend geworden.
9 2. In formeller Hinsicht sind die angefochtenen Bescheide nicht zu
beanstanden. Der Kläger ist vor ihrem Erlass angehört worden
(§ 24 Abs 1 SGB X) und hatte zudem im Widerspruchsverfahren
weitere Gelegenheit zur Äußerung. Gewahrt ist auf die Anhörung im
Mai 2011 auch die Jahresfrist nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X
(stRspr; vgl nur BSG vom 8.2.1996 - 13 RJ 35/94 - BSGE 77, 295,
299 f = SozR 3-1300 § 45 Nr 27 S 93 f)
. Schließlich bezeichnen die Bescheide hinreichend bestimmt
(§ 33 Abs 1 SGB X) jeweils die Bewilligungsentscheidungen, die
"ganz zurückgenommen" werden, und beziffern die jeweils zu
erstattende "Überzahlung" und die Teilbeträge, aus denen sie sich
zusammensetzt.
10
3. Rechtsgrundlage der Rücknahmebescheide ist § 40 Abs 1 Satz 1,
Abs 2 Nr 2 SGB II in der im Rücknahmezeitpunkt geltenden
Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011
(BGBl I 850; zur Maßgeblichkeit des im Zeitpunkt der Aufhebung
geltenden Rechts vgl letztens BSG vom 7.12.2017 - B 14 AS 7/17 R
- vorgesehen für SozR 4-4200 § 7 Nr 55 RdNr 10)
iVm § 45 SGB X und § 330 Abs 2 SGB III. Danach ist eine
rechtswidrige begünstigende Bewilligung von Leistungen nach dem
SGB II auch nach Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die
Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sie auf Angaben beruht, die
der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher
Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
11
Zu Recht hat aufgrund dieser Vorschriften der Beklagte die Alg II-
Bewilligungen für den streitbefangenen Zeitraum wegen
Rechtswidrigkeit im Zeitpunkt ihres Erlasses ohne Rücksicht auf den
im Fall eines rechtmäßigen Verhaltens des Klägers zu
berücksichtigenden Vermögenswert (dazu 4. und 5.)
zurückgenommen, weil der Kläger sich auf Vertrauen nicht berufen
kann (dazu 6.) und die Rücknahme deshalb wegen der für das SGB
II entsprechend anwendbaren Sonderregelung des § 330 Abs 2
SGB III zwingend ist, ohne dass insoweit Korrekturmöglichkeiten
verbleiben (dazu 7.). Das gilt ebenso für die Erstattungsforderung,
die ebenfalls rechtmäßig ist (dazu 8.). Soweit Korrekturmöglichkeiten
in solchen Fällen nach dem Regelungskonzept des SGB II in das
Billigkeitsverfahren nach § 44 SGB II verlagert sind, ist darüber
mangels dessen Einleitung durch den Beklagten vorliegend nicht zu
befinden, ohne dass dies die Rechtmäßigkeit der Rücknahme- und
Erstattungsbescheide berührt (dazu 9.).
12
4. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Alg II-
Bewilligungen für den streitbefangenen Zeitraum bei Erlass mangels
Hilfebedürftigkeit des Klägers objektiv rechtswidrig waren.
13
a) Rechtsgrundlage des dem Kläger zuerkannten Alg II ist § 19 iVm
§§ 7, 9, 11, 20 ff SGB II in der im Bezugszeitraum jeweils geltenden
Fassung; denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene
Bewilligungsabschnitte ist das zum damaligen Zeitpunkt geltende
Recht anzuwenden
(Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15
R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 15 mwN)
. Maßgebend für die Hilfebedürftigkeit des Klägers - der nach dem
Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG die
Grundvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, aber keinen
Ausschlusstatbestand erfüllte - war danach § 9 Abs 1 SGB II in der
vom 1.1.2005 bis 31.12.2010 geltenden Fassung des Vierten
Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom
24.12.2003(BGBl I 2954), wonach hilfebedürftig ist, wer ua seinen
Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften
und Mitteln, vor allem nicht 1. durch Aufnahme einer zumutbaren
Arbeit, 2. aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder
Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von
anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen erhält.
14
b) Der zu deckende Bedarf des Klägers belief sich in dem von der
Rücknahme betroffenen Zeitraum auf 582 Euro monatlich,
zusammengesetzt aus der Regelleistung (heute: Regelbedarf) von
durchgehend 345 Euro
(§ 20 Abs 2 Satz 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954)
und den tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in
Höhe von 237 Euro (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II).
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c) Diesem Bedarf standen nach den bindenden (§ 163 SGG)
Feststellungen des LSG im gesamten Rücknahmezeitraum zu
Beginn eines jeden Monats ausreichende Vermögensmittel
gegenüber, die vorrangig zur Sicherung seines Lebensunterhalts
einzusetzen waren
(vgl § 2 Abs 2 SGB II; zur monatsweisen Gegenüberstellung von
Bedarfen und Bedarfsdeckungsmöglichkeiten vgl nur BSG vom
24.8.2017 - B 4 AS 9/16 R - SozR 4-4200 § 11b Nr 10 RdNr 31
mwN)
, ohne dass es auf zeitweilig erzieltes Einkommen (§ 11 SGB II)
ankommt.
16
Einzusetzen waren danach gemäß § 12 Abs 1 SGB II
(in der seit dem 1.1.2005 unverändert geltenden Fassung des
Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
vom 24.12.2003, BGBl I 2954)
alle verwertbaren und nicht nach § 12 Abs 3 SGB II von der
Berücksichtigung ausgenommenen Vermögensgegenstände
abzüglich der nach § 12 Abs 2 SGB II abzusetzenden Beträge; das
waren gemäß § 12 Abs 2 Nr 1 Halbsatz 1 SGB II
(hier vom 1.1.2005 bis 31.7.2006 idF des Vierten Gesetzes für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I
2954; seit dem 1.8.2006 in der insoweit seither unverändert
geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006, BGBl I 1706)
der Grundfreibetrag in Höhe von 200 Euro bzw 150 Euro je
vollendetem Lebensjahr des volljährigen Hilfebedürftigen sowie
nach § 12 Abs 1 Nr 4 SGB II
(in der seit dem 1.1.2005 unverändert geltenden Fassung des
Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
vom 24.12.2003, BGBl I 2954)
der Freibetrag für notwendige Anschaffungen in Höhe von 750 Euro
für jeden in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Hilfebedürftigen.
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Der Kläger verfügte demgemäß nach den Feststellungen des LSG
zu Beginn der Bewilligungsabschnitte über zu berücksichtigendes
Vermögen wie folgt: 5342,07 Euro zum 1.1.2005
(13 692,07 Euro Gesamtguthaben - 7600 Euro Grundfreibetrag - 750
Euro Freibetrag für notwendige Anschaffungen)
, 5142,07 Euro zum 1.6.2005
(13 692,07 Euro Gesamtguthaben - 7800 Euro Grundfreibetrag - 750
Euro Freibetrag für notwendige Anschaffungen)
, 1292,88 Euro zum 1.12.2005
(9842,88 Euro Gesamtguthaben - 7800 Euro Grundfreibetrag - 750
Euro Freibetrag für notwendige Anschaffungen)
, 1092,88 Euro zum 1.6.2006
(9842,88 Euro Gesamtguthaben - 8000 Euro Grundfreibetrag - 750
Euro Freibetrag für notwendige Anschaffungen)
und 2946,69 Euro zum 1.12.2006
(9696,69 Euro Gesamtguthaben - 6000 Euro Grundfreibetrag - 750
Euro Freibetrag für notwendige Anschaffungen)
.
18
d) Dass diese Vermögensgegenstände nicht verwertbar gewesen
wären, ist nicht erkennbar
(vgl dazu nur BSG vom 20.2.2014 - B 14 AS 10/13 R - BSGE 115,
148 = SozR 4-4200 § 12 Nr 23, RdNr 22 mwN)
. Ebenso spricht - nicht zuletzt im Hinblick auf die zum 1.9.2007
erfolgte Kündigung - nichts für eine offensichtliche
Unwirtschaftlichkeit der Auflösung der Lebensversicherung
(dazu vgl nur BSG ebenda RdNr 36 mwN).
19
5. Ob dieses Vermögen zur Deckung der Bedarfe des Klägers über
den gesamten Rücknahmezeitraum ausgereicht hätte - wie er in
Zweifel zieht -, ist für die anfängliche Rechtswidrigkeit der
zurückgenommenen Alg II-Bewilligungen unbeachtlich.
20
Maßgeblich für die Rechtswidrigkeit der zurückgenommenen
Bewilligungen als Voraussetzung für deren Rücknahme nach § 45
SGB X ist die Situation bei ihrem Erlass
(vgl nur Steinwedel in Kasseler Komm, § 45 SGB X RdNr 24, Stand
März 2018)
. In der Situation der Leistungsbewilligung
(zur Unterscheidung zwischen Bewilligungs- und
Rückabwicklungsperspektive vgl Berlit, info also 2011, 225 f)
ist vorhandenes, zu verwertendes und verwertbares Vermögen in
den Existenzsicherungssystemen des SGB II und SGB XII indes so
lange zu berücksichtigen, wie es tatsächlich vorhanden ist
(zum SGB II vgl bereits BSG vom 30.7.2008 - B 14 AS 14/08 B - juris
RdNr 5; zum SGB XII vgl nur BSG vom 20.9.2012 - B 8 SO 20/11 R -
SozR 4-3500 § 19 Nr 4 RdNr 14 f mwN; zur Rechtslage nach dem
BSHG ebenso BVerwG vom 19.12.1997 - 5 C 7.96 - BVerwGE 106,
105, 110 f)
.
21
Das belegt insbesondere die historische Entwicklung im bis zur
Einführung des SGB II geltenden Recht der Arbeitslosenhilfe, an die
die vermögensbezogenen Regelungen des § 12 SGB II im
Wesentlichen anknüpfen (vgl BT-Drucks 15/1516 S 53). Für sie galt
nach § 9 Arbeitslosenhilfe-Verordnung (AlhiV) vom 7.8.1974
(BGBl I 1929), dass Bedürftigkeit nicht für die Zeit voller Wochen
bestand, die sich aus der Teilung des zu berücksichtigenden
Vermögens durch das Arbeitsentgelt ergab, nach dem sich die
Arbeitslosenhilfe richtete. Diese Regelung war mit Wirkung zum
1.1.2002 ersatzlos gestrichen
(vgl AlhiV 2002 vom 13.12.2001, BGBl I 3734)und damit der
Rechtsprechung des BSG
(vom 9.8.2001 - B 11 AL 11/01 R - BSGE 88, 252 = SozR 3-4300 §
193 Nr 2)
die Grundlage entzogen worden, dass der Arbeitslose im Rahmen
der Arbeitslosenhilfe nur einmal auf das gleiche Vermögen
verwiesen werden könne
(vgl näher Spellbrink in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des
Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 13 RdNr 189 ff)
. Dass die frühere Regelung des § 9 AlhiV bei Einführung des SGB II
nicht wieder aufgegriffen worden ist, belegt deutlich, dass tatsächlich
vorhandenes und zu berücksichtigendes Vermögen einem
Anspruch auf existenzsichernde Leistungen ggf auch mehrfach
entgegenzuhalten ist, von einem fiktiven Vermögensverbrauch also
nicht ausgegangen werden kann
(zum SGB II vgl BSG vom 30.7.2008 - B 14 AS 14/08 B - juris RdNr
5; zum SGB XII vgl nur BSG vom 20.9.2012 - B 8 SO 20/11 R -
SozR 4-3500 § 19 Nr 4 RdNr 15 mwN; ebenso Berlit, info also 2011,
225; Geiger in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 12 RdNr 7; Hengelhaupt
in Hauck/Noftz, SGB II, K § 12 RdNr 223 f, Stand Januar 2016;
Lange in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 12 RdNr 30; Radüge in
jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 12 RdNr 36; Striebinger in Gagel,
SGB II/SGB III, § 12 SGB II RdNr 16 und 21, Stand Dezember 2017)
.
22
6. Die Voraussetzungen für die zwingende Rücknahme der
Leistungsbewilligungen mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 40
Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III sind auch insoweit
gegeben, als die Bewilligungen auf zumindest grob fahrlässig
unrichtigen bzw unvollständigen Angaben des Klägers iS des § 45
Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X beruhten. Wie das LSG nach erneuter
Beweisaufnahme anders als vor ihm das SG beanstandungsfrei
angenommen hat, kann sich der Kläger auf Vertrauensschutz nicht
berufen, weil er im Rahmen des Erstantrags die ausdrückliche
Nachfrage, ob er über Kapitallebens- oder private
Rentenversicherungen verfüge, zumindest grob fahrlässig verneint
hat. Soweit er demgegenüber geltend gemacht hat, dass der seinen
Erstantrag aufnehmende Sachbearbeiter einerseits nicht gewusst
habe, auf welche Unterlagen genau es ankomme, und er ihm - dem
Kläger - andererseits vermittelt habe, dass er die Angaben zur
Lebensversicherung nicht benötige, hat das LSG dies als eine nicht
nachvollziehbare und durch die Einvernahme des Sachbearbeiters
widerlegte Schutzbehauptung angesehen. Anhaltspunkte dafür,
dass das LSG dabei den revisionsrechtlich nur eingeschränkt
überprüfbaren Spielraum bei der Feststellung der groben
Fahrlässigkeit überschritten hat, sind nicht ersichtlich
(zu den Maßstäben vgl letztens etwa BSG vom 4.4.2017 - B 11 AL
19/16 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 25 RdNr 41 mwN)
.
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7. Ist die Rücknahme einer Alg II-Bewilligung wegen
verschwiegenen Vermögens vom Begünstigten zu vertreten, kommt
es auf das Verhältnis zwischen dem zu erstattenden Betrag und
dem ursprünglich einzusetzenden Vermögenswert nicht an.
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a) Soweit nach dem allgemeinen Verfahrensrecht des SGB X im
Rahmen der Ermessensausübung nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X
auch bei fehlendem Vertrauensschutz besonderen Härten
Rechnung zu tragen sein kann
(vgl etwa BSG vom 31.10.1991 - 7 RAr 60/89 - SozR 3-1300 § 45 Nr
10 S 29, 34;
zur Rechtsprechungsentwicklung vgl nur Steinwedel in Kasseler
Komm, § 45 SGB X RdNr 61, Stand März 2018)
, ist dies für das Verfahrensrecht des SGB II durch den Verweis auf §
330 Abs 2 SGB III ausgeschlossen. Liegen die in § 45 Abs 2 Satz 3
SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines
rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts vor, so "ist" dieser
danach auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Abweichend vom allgemeinen Verfahrensrecht ergeht die
Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten
bei Bösgläubigkeit des Begünstigten im Anwendungsbereich des §
330 Abs 2 SGB III mithin nicht als Ermessensentscheidung, sondern
als gebundene Entscheidung (stRspr;
vgl zu § 330 SGB III nur BSG vom 29.6.2000 - B 11 AL 85/99 R -
BSGE 87, 8, 10 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9 S 28; zum SGB II vgl nur
BSG vom 22.8.2012 - B 14 AS 165/11 R - SozR 4-1300 § 50 Nr 3
RdNr 29 ff)
. Raum für eine Abwägung der berührten öffentlichen und privaten
Interessen unter Berücksichtigung der Rücknahmefolgen für den
Erstattungspflichtigen und seiner wirtschaftlichen Lage bei
rechtmäßigem Verhalten im Ermessenswege bietet daher in
Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter den
Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X erst das
Erlassverfahren nach § 44 SGB II (dazu 9.) und nicht schon das
Rücknahmeverfahren nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II, § 45 SGB X.
25
b) Anders verhält es sich entgegen einer in der Literatur vertretenen
Auffassung nicht deshalb, weil die Berücksichtigung des im
Rücknahmezeitraum (tatsächlich vorhandenen) Vermögens im
Rückabwicklungsverhältnis eine besondere Härte iS von § 12 Abs 3
Satz 1 Nr 6 Alternative 2 SGB II bedeuten würde
(so Berlit, info also 2011, 225 f; dies aufgreifend Geiger in LPK-SGB
II, 6. Aufl 2017, § 12 RdNr 105)
. Ob der Vermögenseinsatz eine besondere Härte in diesem Sinne
bedeuten würde, kann in der Rücknahmeperspektive nicht anders
als auch sonst im Rahmen von § 45 Abs 1 SGB X nur mit Blick auf
die Umstände bei Bekanntgabe des zu überprüfenden Bescheids,
also in der Bewilligungssituation beurteilt werden. Nur aus dieser
Perspektive lässt sich bewerten, ob der Vermögenseinsatz eine
atypische Sonderlage im Sinne der Rechtsprechung zu § 12 Abs 3
Satz 1 Nr 6 Alternative 2 SGB II darstellt. Das setzt
außergewöhnliche Umstände des Einzelfalls voraus, die dem
Betroffenen ein eindeutig größeres Opfer abverlangen als eine
einfache Härte und erst recht als die mit der Vermögensverwertung
stets verbundenen Einschnitte
(stRspr; vgl zuletzt etwa BSG vom 24.5.2017 - B 14 AS 16/16 R -
vorgesehen für BSGE sowie SozR 4-4200 § 9 Nr 16, juris RdNr 30
mwN)
. Ob es sich so verhält, kann sich nur bei einem Vergleich mit
anderen Betroffenen in vergleichbarer Bewilligungslage und nicht
nachträglich aus der Rückabwicklungsperspektive ergeben.
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8. Nicht anders liegt es bei den auf § 40 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Nr 5
SGB II iVm § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X sowie § 335 Abs 1, 2 und 5
SGB III gestützten Erstattungsverwaltungsakten, die ebenfalls
rechtmäßig sind. Maßgebend für die Erstattung des gezahlten Alg II
ist danach nur die Aufhebung der zugrunde liegenden Bewilligungen
("Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits
erbrachte Leistungen zu erstatten"), ohne dass Raum wäre für eine
Begrenzung unter Härtefallgesichtspunkten, wie es das LSG mit der
Korrektur der "Rückforderung" der Sache nach erwogen hat. Das
bestätigt auch die nunmehr aufgehobene Sonderregelung des § 40
Abs 9 SGB II
(idF des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur
vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom
26.7.2016, BGBl I 1824, zuvor § 40 Abs 4 SGB II bzw § 40 Abs 2
Satz 1 SGB II; dazu BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 56/13 R - SozR
4-4200 § 40 Nr 8)
, deren Erstattungsbegrenzung in Fällen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB
X gerade ausgeschlossen war (vgl § 40 Abs 9 Satz 2 SGB II). Dass
die Berechnung der Erstattungsforderung fehlerhaft ist - sowohl was
das aufgehobene Alg II als auch die Beiträge zur Kranken- und
Pflegeversicherung betrifft -, lassen weder die Feststellungen des
LSG noch das Vorbringen des Klägers erkennen.
27
9. Dass der Beklagte einen Forderungserlass zur Vermeidung
unbilliger Härten bislang nicht geprüft hat, berührt die
Rechtmäßigkeit der Rücknahme und der Erstattungsforderung nicht.
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a) Nach § 44 SGB II dürfen die Träger von Leistungen nach dem
SGB II Ansprüche erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des
einzelnen Falles unbillig wäre. Diese § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV
nachgebildete Regelung (vgl BT-Drucks 15/1516 S 63) eröffnet nicht
nur die Möglichkeit, bei den Rücknahmefolgen besonderen
persönlichen Umständen Rechnung zu tragen
(Erlass wegen persönlicher Unbilligkeit; vgl zur entsprechenden
Vorschrift des § 227 AO dazu letztens etwa BFH vom 7.9.2017 - X B
52/17 - juris RdNr 30 ff mwN; zu § 44 SGB II vgl Kemper in
Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 44 RdNr 10; Wendtland in Gagel,
SGB II/SGB III, § 44 SGB II RdNr 8, Stand Dezember 2017)
.
29
Vielmehr kann eine Billigkeitsmaßnahme auch angezeigt sein, wenn
die Anwendung einer in ihren generalisierenden Wirkungen
verfassungsmäßigen Regelung im Einzelfall zu
Grundrechtsverstößen führt, solange nicht die Geltung des
Gesetzes unterlaufen wird
(Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit; grundlegend BVerfG vom
5.4.1978 - 1 BvR 117/73 - BVerfGE 48, 102, 116; letztens etwa
BVerfG vom 28.2.2017 - 1 BvR 1103/15 - juris RdNr 9
mwN; zu § 44 SGB II eingehend Kemper in Eicher/Luik, SGB II, 4.
Aufl 2017, § 44 RdNr 12 ff; Merten in Beck'scher Online-Komm, § 44
SGB II RdNr 7 ff, Stand März 2018; zu § 227 AO vgl nur Loose in
Tipke/Kruse, AO/FGO, § 227 AO RdNr 77 ff mwN, Stand Juli 2017)
. Davon ist nach der Rechtsprechung zu § 227 AO vor allem
auszugehen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs im
Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, sie aber
nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht zu
rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft
(vgl zuletzt etwa BFH vom 9.11.2017 - III R 10/16 - BFHE 260, 9,
juris RdNr 54 mwN; zu § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV dies aufgreifend BSG
vom 4.3.1999 - B 11/10 AL 5/98 R - BSGE 83, 292, 296 = SozR 3-
2400 § 76 Nr 2 S 11)
.
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b) Zu berücksichtigen ist danach hier, dass die eine
Ermessensbetätigung in den Fällen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X
ausschließende Vorschrift des § 330 Abs 2 SGB III nach
Entstehungsgeschichte und Systematik allein der
Verfahrensökonomie dient
(ebenso Groth in Hohm, GK-SGB II, VI-§ 44 RdNr 45, Stand Oktober
2009)
, nicht aber jeden Übermaßeinwand bei der Rücknahme anfänglich
rechtswidriger begünstigender Leistungsbewilligungen ausschließen
soll. Die auf § 152 Abs 2 AFG zurückgehende Regelung ist aus der
Erwägung heraus eingeführt worden, dass die meisten Leistungen
nach Arbeitsförderungsrecht kurzfristig zu erbringen und
Überzahlungen praktisch nicht zu vermeiden seien, weshalb im Jahr
vor ihrer Einführung in über 1,85 Millionen Fällen über die Erstattung
überzahlter Leistungen zu entscheiden gewesen sei. Dem
Rechnung tragend solle ua in den Fallgestaltungen nach § 45 Abs 2
Satz 3 SGB X anstelle einer Ermessensentscheidung eine
gebundene Entscheidung treten (vgl BT-Drucks 12/5502 S 37).
31
Das rechtfertigt sich typisierend vor der Annahme, dass in diesen
Fällen Vertrauensschutz regelmäßig ausscheidet - was von
Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist
(zu einer vergleichbaren Bewertung vgl nur BVerfG vom 2.12.1969 -
2 BvR 560/65 - BVerfGE 27, 231, 238 f)
- und deshalb für eine Ermessensentscheidung überwiegend kein
Anlass gegeben ist. Indes besteht weder ein Anhaltspunkt dafür
noch wäre es vereinbar mit verfassungsrechtlichen Vorgaben, dass
hierdurch die Berücksichtigung auch jeglicher atypischer
Besonderheiten ausgeschlossen sein sollte, denen ansonsten im
Rahmen der Ermessensbetätigung nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X
auch bei fehlendem Vertrauensschutz Rechnung zu tragen sein
kann
(ähnlich Groth in Hohm, GK-SGB II, VI-§ 44 RdNr 45, Stand Oktober
2009: mindestens beim Hinzutreten persönlicher Billigkeitsumstände
ist es gerechtfertigt, Sachverhalte in die Billigkeitsentscheidung
einzubeziehen, die eigentlich im Rahmen der
Ermessensentscheidung ua nach § 45 SGB X zu berücksichtigen
wären; aA wohl Merten in Beck'scher Online-Komm, § 44 SGB II
RdNr 7 ff, Stand März 2018: Ausgestaltung als gebundene
Entscheidung bewusste Wertentscheidung des Gesetzgebers)
.
32
c) In diesem regelungssystematischen Gefüge vermittelt § 44 SGB II
einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen
Forderungserlass. Das hat das BSG zu § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV
bereits aus dessen Entstehungsgeschichte und der Parallele zu §
59 BHO abgeleitet
(BSG vom 13.6.1989 - 2 RU 32/88 - BSGE 65, 133, 137 = SozR
2100 § 76 Nr 2 S 8; BSG vom 29.10.1991 - 13/5 RJ 36/90 - BSGE
69, 301, 306 = SozR 3-2400 § 76 Nr 1 S 6; in diesem Sinne auch
BVerfG vom 13.8.1998 - 1 BvL 25/96 - NJW 1998, 3557,
3558)
. Für § 44 SGB II gilt Anderes schon deshalb nicht, weil die Vorschrift
nach den Gesetzesmaterialien einen Gleichklang mit § 76 Abs 2 Nr
3 SGB IV herstellen soll (vgl BT-Drucks 15/1516 S 63). Auch die
aufgezeigte "Ausgleichsfunktion" in den Fällen der zwingenden
Rücknahme verlangt, dass Vorbringen zu einer atypischen Härte
geprüft und hierüber entschieden wird. Demgemäß vermittelt das
durch § 44 SGB II eröffnete Ermessen ("Die Träger ... dürfen
Ansprüche erlassen") entsprechend § 39 SGB I, § 54 Abs 2 Satz 2
SGG einen verfahrensrechtlichen Anspruch auf
ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Erlass eines
Erstattungsanspruchs
(vgl eingehend dazu und zu weiteren Instrumenten zur
"Veränderung von Ansprüchen" jüngst Becker, SGb 2018, 129, 131
ff; ebenso Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 44 RdNr 35,
Stand November 2004)
.
33
d) Dass der Beklagte eine Prüfung nach § 44 SGB II noch nicht
vorgenommen hat, berührt die Rechtmäßigkeit der Rücknahme- und
Erstattungsbescheide indes nicht. Zwar schließt deren fehlende
Bestandskraft die Prüfung nach § 44 SGB II nicht aus
(vgl nur BSG vom 29.10.1991 - 13/5 RJ 36/90 - BSGE 69, 301, 306
= SozR 3-2400 § 76 Nr 1 S 6 zu § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV)
. Auch konnte der Einwand des Klägers im Klageverfahren - der
Erstattungsbetrag übersteige das Vermögen, das er je gehabt habe
- dem Beklagten Anlass zu einer entsprechenden Prüfung
mindestens von Amts wegen geben, wenn darin nicht schon ein
Antrag nach § 44 SGB II zu sehen war
(vgl BSG vom 29.10.1991 - 13/5 RJ 36/90 - BSGE 69, 301, 306 =
SozR 3-2400 § 76 Nr 1 S 6)
. Ist eine - durch Verwaltungsakt zu treffende
(vgl BSG vom 29.10.1991 - 13/5 RJ 36/90 - BSGE 69, 301, 306 =
SozR 3-2400 § 76 Nr 1 S 6)
- Entscheidung im Verfahren nach § 44 SGB II noch nicht ergangen,
ist insoweit für eine gerichtliche Überprüfung indes kein Raum; der
Streitgegenstand des Verfahrens hier bleibt davon unberührt
(vgl nur BSG vom 29.10.1991 - 13/5 RJ 36/90 - BSGE 69, 301, 306 f
= SozR 3-2400 § 76 Nr 1 S 6)
.
34
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.