Urteil des BSG vom 25.05.2018

Bewilligung einer nachrangigen Rente - anfängliche Rechtswidrigkeit - Anordnung des Ruhens nachrangiger Renten - Regelungen des Sozialverwaltungsrechts über die Rücknahme und Aufhebung von Verwaltungsakten

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 25.5.2018, B 13 R 33/15
R
ECLI:DE:BSG:2018:250518UB13R3315R0
Bewilligung einer nachrangigen Rente - anfängliche
Rechtswidrigkeit - Anordnung des Ruhens nachrangiger
Renten - Regelungen des Sozialverwaltungsrechts über die
Rücknahme und Aufhebung von Verwaltungsakten
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen
Landessozialgerichts vom 14. Juli 2015 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten
des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
1
Im Streit stehen die Rücknahme eines Verwaltungsakts über
Zahlungsansprüche aus einer Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung aufgrund einer später mit Wirkung für denselben
Zeitraum bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung und eine
daraus folgende Erstattungsforderung.
2
Der beklagte Rentenversicherungsträger bewilligte der Klägerin mit
Bescheid vom 19.9.2011 eine (befristete) Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.2.2011 bis 30.9.2013 iHv
394,29 Euro monatlich. Auf den Widerspruch der Klägerin bewilligte
ihr die Beklagte mit Bescheid vom 23.1.2012 "anstelle" der bisherigen
Rente für denselben Zeitraum eine (befristete) Rente wegen voller
Erwerbsminderung iHv monatlich 788,58 Euro. Der Bescheid enthielt
den Hinweis, dass die Nachzahlung iHv 10 212,79 Euro für die Zeit
vom 1.2.2011 bis 29.2.2012 vorläufig nicht ausgezahlt, sondern erst
bei Kenntnis der Höhe der Ansprüche anderer Stellen abgerechnet
werde.
3
Nachdem sie der Krankenkasse der Klägerin und der Bundesanstalt
für Arbeit das zeitgleich zur Rente gezahlte Kranken- bzw
Arbeitslosengeld erstattet hatte, hob die Beklagte den Bescheid über
die befristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung vom
19.9.2011 "hinsichtlich des Zahlungsanspruchs für die Zeit vom
1.2.2011 bis 30.9.2013 nach § 48 SGB X" auf. Zugleich rechnete sie
ihre Forderung aus der "Überzahlung" dieser Rente gegen den
Anspruch auf Nachzahlung der Rente wegen voller
Erwerbsminderung auf, soweit dieser nach Erfüllung der og
Erstattungsansprüche verblieben war und forderte von der Klägerin
eine Erstattung der überzahlten Leistung iHv noch 1305,56 Euro
(Bescheid vom 21.5.2012). Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne
Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 20.11.2012).
4
Das SG Darmstadt hat den Bescheid der Beklagten vom 21.5.2012 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.11.2012 aufgehoben
(Urteil vom 27.10.2014). Das LSG hat die Berufung der Beklagten
zurückgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt, die
Voraussetzungen des § 48 SGB X seien nicht erfüllt. Eine
wesentliche Änderung der Verhältnisse sei durch Erteilung des
Bescheids über die Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht
eingetreten, denn die Klägerin habe bereits von Anfang an - ab
Februar 2011 - sowohl einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung als auch einen Anspruch auf Rente wegen voller
Erwerbsminderung gehabt. Eine Rücknahme des
Zahlungsanspruchs komme nur unter den Voraussetzungen des § 45
SGB X in Betracht; insoweit sei jedoch von einem schützenswerten
Vertrauen der Klägerin in den Bestand des ursprünglichen
Verwaltungsakts auszugehen(Urteil vom 14.7.2015).
5
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 45, 48 SGB
X. Zwar habe die Klägerin ab 1.2.2011 Anspruch sowohl auf eine
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung als auch Anspruch auf
eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gehabt. Jedoch werde
nach § 89 SGB VI nur die höchste Rente "geleistet". Der
Verwaltungsakt vom 19.9.2011 über den Auszahlungsanspruch auf
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sei somit für Zeiten ab
Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung rechtswidrig
geworden. Diese Rechtswidrigkeit habe nicht von Anbeginn an
bestanden; vielmehr sei erst durch die Festsetzung des
Auszahlungsanspruchs der Rente wegen voller Erwerbsminderung
am 23.1.2012 eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des §
48 Abs 1 S 1 SGB X eingetreten. Mit der Bewilligung der Rente
wegen voller Erwerbsminderung habe die Klägerin Einkommen iS des
§ 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X erzielt, auch wenn ihr das Mehr an
Einkünften nur indirekt durch Befriedigung von
Erstattungsansprüchen zugutegekommen sei.
6
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Juli 2015
und des Sozialgerichts Darmstadt vom 27. Oktober 2014 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
7
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision ist zulässig, aber unbegründet und deshalb
zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).
10
Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das die
angefochtenen Bescheide aufhebende Urteil des SG zu Recht
zurückgewiesen. Die Beklagte war nicht berechtigt, den Bescheid
vom 19.9.2011 über die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung
für den Zeitraum vom 1.2.2011 bis 29.2.2012 hinsichtlich des
Zahlungsanspruchs zurückzunehmen und Erstattung einer
Überzahlung iHv 1305,56 Euro von der Klägerin zu verlangen.
Sowohl der Aufhebungs-Verwaltungsakt im Bescheid vom
21.5.2012 (dazu unter 1.) als auch der Erstattungs-Verwaltungsakt
sind rechtswidrig (dazu unter 2.).
11
1. Die Aufhebung des Rentenzahlungsanspruchs aus dem
Bescheid vom 19.9.2011 ist rechtswidrig, weil die Voraussetzungen
des § 48 Abs 1 SGB X, der von der Beklagten gewählten
Rechtsgrundlage, nicht erfüllt sind (dazu unter a)und der
Verwaltungsakt weder in eine Rücknahme nach § 45 Abs 1 SGB X
(dazu unter b) noch in einen Widerruf (§§ 46, 47 SGB X) umgedeutet
bzw durch Auswechseln der Rechtsgrundlage bzw Nachschieben
von (Rechts-)Gründen aufrechterhalten werden kann (dazu unter c).
Allein auf § 89 SGB VI kann der Verwaltungsakt nicht gestützt
werden (dazu unter d).
12
a) Die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 SGB X
(idF der Neubekanntmachung vom 18.1.2001, BGBl I 130), auf den
die Beklagte ihre Aufhebungsentscheidung stützt, liegen nicht vor.
Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung wegen einer nach
seinem Erlass (Bekanntgabe) eingetretenen wesentlichen Änderung
der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse mit Wirkung für die
Zukunft aufzuheben (S 1); unter weiteren Voraussetzungen soll er
mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werden (S 2).
13
Vorliegend fehlt es bereits an einer erst nach Bekanntgabe des
Bescheids vom 19.9.2011 eingetretenen wesentlichen Änderung.
Der Verwaltungsakt über die Festsetzung des monatlichen
Zahlbetrags der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung war,
anders als die Beklagte annimmt, schon in seinem Erlasszeitpunkt
materiell rechtswidrig. Denn ein befristetes (Stamm-)Recht auf Rente
wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs 2, § 102 Abs 2 S 2
SGB VI mit der Folge hieraus monatlich entstehender
Einzel(zahlungs)ansprüche ab dem 1.2.2011 war bereits kraft
Gesetzes entstanden, als die Beklagte den Bescheid vom
19.9.2011 erließ
(zur Unterscheidung zwischen Renten-Stammrecht und -
zahlungsanspruch vgl Senatsurteil vom 21.1.1993 - 13 RJ 19/91 -
BSGE 72, 39 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 9; BSG Urteil vom 23.6.1994
- 4 RA 70/93 - SozR 3-2600 § 300 Nr 3; BSG Urteil vom 30.9.1997 -
4 RA 6/96 - SozR 3-2200 § 1304a Nr 3)
. Bereits damals stand "bei objektiver Betrachtung" und unabhängig
von der Kenntnis der Beklagten fest, dass daneben keine
durchsetzbaren Ansprüche auf eine Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung bestehen konnten, sondern im Hinblick auf den
zeitgleich entstandenen Anspruch auf Rente wegen voller
Erwerbsminderung ruhten
(§ 89 Abs 1 S 1 SGB VI, damals idF durch Gesetz vom 21.7.2004,
BGBl I 1791)
. Das hat zur Folge, dass die aus dem Stammrecht auf Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung resultierenden Einzelansprüche
während der Dauer des Bezugs der vollen Erwerbsminderungsrente
nicht zur Entstehung gelangten
(zum Ganzen vgl BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R - SozR 4-
2600 § 89 Nr 3 RdNr 31 mwN)
. Eine Rücknahme anfänglich rechtswidriger begünstigender
Verwaltungsakte - hier des Rentenbescheids vom 19.9.2011 - ist
aber nicht auf Grundlage des § 48 SGB X möglich, sondern allein
auf Grundlage des § 45 SGB X.
14
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Beklagten in
Bezug genommenen Entscheidung des 5. Senats vom 7.9.2010
(B 5 KN 4/08 R - SozR 4-2600 § 89 Nr 2). Dieser lag eine
nachträgliche Änderung der Verhältnisse (im Gesundheitszustand
des dortigen Versicherten) nach Erlass des später aufgehobenen
Rentenverwaltungsakts zugrunde. Ihr ist kein Rechtssatz des Inhalts
zu entnehmen, dass in Fällen des § 89 SGB VI stets § 48 SGB X zur
Anwendung kommen müsse
(so bereits BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R - SozR 4-2600
§ 89 Nr 3 RdNr 32)
. Zu Unrecht nimmt die Beklagte an, dass der Zahlungsanspruch auf
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung erst entfiel, als sie der
Klägerin mit Bescheid vom 23.1.2012 Rente wegen voller
Erwerbsminderung zuerkannte. Denn im Rahmen des § 48 Abs 1
SGB X kommt es weder auf die im aufzuhebenden Bescheid
genannten noch auf die damals von der Behörde zugrunde gelegten
Verhältnisse noch auf die Kenntnis der Behörde von den wirklichen
Verhältnissen an, sondern allein auf die in Wirklichkeit vorliegenden
Verhältnisse und deren objektive Änderung. Dies folgt aus dem
Wortlaut des § 48 Abs 1 S 1 SGB X, der von der Änderung der
Verhältnisse spricht, die beim Erlass des Verwaltungsakts
"vorgelegen haben"
(vgl BSG Urteil vom 11.10.1994 - 9 RVs 2/93 - SozR 3-1300 § 48 Nr
35 - Juris RdNr 15 mwN; BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R -
SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 32)
.
15
Auch wenn darauf abgestellt würde, dass der Zahlungsanspruch
mangels Selbstvollzug des Gesetzes einen den Rentenwert und
den Beginn (der Rente wegen voller Erwerbsminderung)
festsetzenden Verwaltungsakt erfordert, so ergibt sich daraus keine
andere Bewertung. Denn auch insoweit kommt es nicht auf die
Bekanntgabe dieses Verwaltungsakts als den Zeitpunkt der
äußeren Wirksamkeit an, sondern darauf, dass dessen inhaltliche
Regelung - hier auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns am 1.2.2011 -
zurückwirkt (innere Wirksamkeit).
16
b) Die Aufhebungsentscheidung lässt sich auch nicht im Wege der
Umdeutung auf § 45 Abs 1 SGB X stützen und damit
aufrechterhalten. Nach § 43 Abs 1 SGB X kann ein fehlerhafter
Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet
werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der
erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und
Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die
Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Dies gilt nicht, wenn
der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt
umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden
Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen
ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsakts
(Abs 2 S 1). Eine Umdeutung ist ferner unzulässig, wenn der
fehlerhafte Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden dürfte
(Abs 2 S 2). Eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene
Entscheidung ergehen kann, kann nicht in eine
Ermessensentscheidung umgedeutet werden (Abs 3). § 24 SGB X
ist entsprechend anzuwenden (Abs 4). Die Befugnis zur Umdeutung
steht auch den Gerichten zu; die Grundsätze des § 43 SGB X sind
auch im gerichtlichen Verfahren anwendbar
(stRspr; vgl zB BSG Urteil vom 13.5.2015 - B 6 KA 14/14 R - BSGE
119, 57 = SozR 4-2500 § 34 Nr 17, RdNr 49 mwN; Leopold in
jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, § 43 RdNr 63 mwN; aA Littmann in
Hauck/Noftz, SGB, Oktober 2009, K § 43 SGB X RdNr 14 mwN)
.
17
Im konkreten Fall liegen die Voraussetzungen einer Umdeutung
nach § 43 Abs 1 SGB X jedoch nicht vor. Zwar wären der fehlerhafte
Verwaltungsakt nach § 48 SGB X und der Ersatzakt nach § 45 SGB
X auf dasselbe Ziel gerichtet, nämlich auf die Beseitigung eines
Verwaltungsakts (hier: als Rechtsgrund für den Bezug bzw das
Behaltendürfen der bewilligten Zahlungsansprüche aus der Rente
wegen teilweiser Erwerbsminderung). Soweit der Verwaltungsakt
vom 19.9.2011 über die Bewilligung der monatlichen
Zahlungsansprüche für die Vergangenheit zurückgenommen
werden soll, fehlen aber bereits die (materiell-rechtlichen)
Voraussetzungen iS des § 43 Abs 1 S 1 SGB X für den Erlass des
Ersatzakts gemäß § 45 Abs 1 SGB X anstelle von § 48 Abs 1 S 2
SGB X (dazu unter aa); soweit die Rücknahme für die Zukunft
wirken soll, verbietet § 43 Abs 3 SGB X die Umdeutung einer
gebundenen Entscheidung nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X in eine
Ermessensentscheidung nach § 45 Abs 1 SGB X (dazu unter bb).
18
aa) Der streitige Verwaltungsakt kann nicht in eine Rücknahme für
die Vergangenheit umgedeutet werden; die Voraussetzungen für
den Erlass eines Ersatzverwaltungsakts nach § 45 SGB X liegen
nicht vor. Nach § 45 Abs 1 SGB X darf ein (im Zeitpunkt seiner
Bekanntgabe) rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch
nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den
Einschränkungen der Abs 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung
für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen
werden. Mit Wirkung für die Vergangenheit wird der Verwaltungsakt
nur in den Fällen von § 45 Abs 2 S 3 und Abs 3 S 2 SGB X
zurückgenommen (§ 45 Abs 4 S 1 SGB X). Soweit die Beklagte den
Verwaltungsakt über den monatlichen Rentenzahlbetrag im
Bescheid vom 19.9.2011 mit dem (Gegen-)Verwaltungsakt vom
21.5.2012 rückwirkend, dh für die Zeit vom 1.2.2011 bis zum
30.9.2013 aufgehoben hat, geben die Feststellungen des LSG
keinen Anlass, die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 SGB
X (Ausschluss von Vertrauen in den Bestand des Verwaltungsakts,
den der Begünstigte durch arglistige Täuschung, Drohung oder
Bestechung erwirkt hat) und des § 45 Abs 3 S 2 SGB X
(Vorliegen von Wiederaufnahmegründen entsprechend § 580 ZPO;
vgl hierzu Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, §
45 SGB X RdNr 72 mwN)
zu prüfen. Der Verwaltungsakt vom 19.9.2011 beruht auch nicht auf
Angaben, welche die Klägerin vorsätzlich oder grob fahrlässig in
wesentlicher Beziehung unrichtig gemacht hat
(§ 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X). Ebenso wenig kannte sie die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts oder war ihr dessen
Rechtswidrigkeit infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben
(§ 45 Abs 2 S 3 Nr 3 Halbs 1 SGB X).
19
bb) Aber auch soweit der Verwaltungsakt vom 19.9.2011 in die
Zukunft wirkt, liegen die Umdeutungsvoraussetzungen nicht vor.
Denn die Aufhebung eines (Dauer-)Verwaltungsakts "mit Wirkung für
die Zukunft" ergeht gemäß § 48 Abs 1 S 1 SGB X als gesetzlich
gebundene Entscheidung, während die Rücknahme eines
ursprünglich rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts "mit
Wirkung für die Zukunft" nach § 45 Abs 1 SGB X im pflichtgemäßen
Ermessen (§ 39 Abs 1 S 2 SGB I) der Behörde steht. Eine
gebundene Entscheidung nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X, wie sie die
Beklagte ausweislich des Verfügungssatzes ihres (Gegen-
)Verwaltungsakts vom 21.5.2012 getroffen hat, kann nach § 43 Abs
3 SGB X aber nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet
werden
(BSG Urteil vom 10.2.1993 - 9/9a RV 43/91 - SozR 3-3660 § 1 Nr 1;
BSG Urteil vom 20.10.2005 - B 7a AL 18/05 R - BSGE 95, 176 =
SozR 4-4300 § 119 Nr 3; BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R -
SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 37)
.
20
Eine Umdeutung ist hier auch nicht ausnahmsweise deshalb
zulässig, weil auch eine Entscheidung gemäß § 45 Abs 1 SGB X
"gebunden" wäre. Dies wäre nur dann der Fall, wenn
ausnahmsweise nur eine bestimmte Rücknahmeentscheidung
rechtmäßig wäre, wenn sich also das Ermessen durch "Verdichtung
der Ermessensgrenzen" auf Null reduziert hätte und jeder
Verwaltungsakt mit einem anderen Regelungsinhalt rechtsfehlerhaft
wäre
(BSG Urteil vom 20.5.2014 - B 10 EG 2/14 R - SozR 4-7837 § 2 Nr
27 RdNr 29; BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R - SozR 4-2600
§ 89 Nr 3 RdNr 37; BVerwG Urteil vom 23.1.1975 - III C 40.74 -
Buchholz 427.3. § 335a LAG Nr 54)
. Dies trifft hier nicht zu. Denn dass die Komplettrücknahme des
zahlungsanspruchsgewährenden Verwaltungsakts im
Rentenbescheid vom 19.9.2011 die einzige rechtmäßige
Entscheidung gewesen wäre (Ermessensschrumpfung auf Null), ist
angesichts der "Gutgläubigkeit" der Klägerin
(vgl dazu Senatsurteil vom 11.2.2015 - B 13 R 15/13 R - UV-Recht
Aktuell 2015, 725, 729 - Juris RdNr 12)
und der Möglichkeit, eine zeitlich, summen- oder quotenmäßig
differenzierte Rücknahmeentscheidung zu treffen
(vgl dazu Lang/Waschull in Diering/Timme, SGB X, 4. Aufl 2016, §
45 RdNr 61 mwN; Siewert/Lang in Fichte/Plagemann,
Sozialverwaltungsverfahrensrecht, 2. Aufl 2016, § 4 RdNr 177 mwN)
, auszuschließen.
21
Die Möglichkeit zur Umdeutung ergibt sich schließlich auch nicht
daraus, dass die Beklagte im angefochtenen Bescheid vom
21.5.2012 den Anforderungen des § 45 SGB X genügende
Ermessenserwägungen angestellt hätte. Wenn die Beklagte darin
ausführt, sie sehe sich nicht dazu in der Lage, "von der Aufhebung
des bisherigen Bescheides für die Zukunft abzusehen, da in Fällen
einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen die Aufhebung
des Bescheides für die Zukunft zwingend vorzunehmen" sei, macht
sie deutlich, dass sie (irrtümlich) davon ausging, eine gebundene
Aufhebungsentscheidung treffen zu müssen und zu einer
Ermessensausübung nicht befugt zu sein. Soweit sie weiter erklärt,
die ihr "bekannten Umstände, die der Aufhebung des bisherigen
Bescheides entgegenstehen könnten, … bei der Prüfung der
genannten Voraussetzungen beachtet" zu haben, genügen diese
pauschalen Ausführungen nicht den Anforderungen an eine
pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs 1 S 2 SGB I).
Auch die Erklärung der Beklagten, sie sei davon ausgegangen,
dass die Aufrechnung des Nachzahlungsanspruchs der Klägerin mit
ihrem eigenen Rückzahlungsanspruch "in Ihrem Interesse" (dh dem
der Klägerin) liege, stellt keine Ermessensausübung dar, sondern
bezieht sich im Kern auf den Erstattungsanspruch und die damit
verbundene "Rückzahlung" bzw den "Rückforderungsanspruch"
und bewegt sich damit vordergründig auf der Ebene des
Haushaltswesens und der Forderungsdurchsetzung
(§ 76 Abs 2 SGB IV; vgl BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R -
SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 38 mwN)
.
22
c) Eine Umdeutung der Aufhebungsentscheidung in einen Widerruf
des Bescheids vom 19.9.2011 (§§ 46, 47 SGB X) kommt ebenfalls
nicht in Betracht. Die jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen
dafür sind nicht erfüllt.
23
Da die Voraussetzungen für den Erlass eines auf §§ 45, 46 oder 47
SGB X gestützten Ersatzverwaltungsakts - wie gezeigt - nicht
vorliegen, lässt sich die Aufhebungsentscheidung auch nicht mittels
Auswechseln der Rechtsgrundlage bzw durch Nachschieben von
(Rechts-)Gründen aufrechterhalten. Denn auch dies ist unter
solchen Umständen ausgeschlossen
(vgl hierzu allg BSG Urteil vom 25.4.2002 - B 11 AL 69/01 R - Juris
RdNr 16 ff)
.
24
d) Entgegen der Auffassung der Beklagten war die
sozialverwaltungsverfahrensrechtliche Aufhebung des
Verwaltungsakts über die Zahlungsansprüche aus der Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung auch nicht mit Rücksicht auf die
Ruhensregelung des § 89 Abs 1 S 1 SGB VI entbehrlich. Bestehen
für denselben Zeitraum Ansprüche auf mehrere Renten aus eigener
Versicherung, wird gemäß § 89 Abs 1 S 1 SGB VI nur die höchste
Rente geleistet. Dies ist vorliegend die Rente wegen voller
Erwerbsminderung. Die Vorschrift lässt den Anspruch auf Rente
dem Grunde nach unberührt
(BSG Urteil vom 7.9.2010 - B 5 KN 4/08 R - SozR 4-2600 § 89 Nr 2
RdNr 27; Jentsch in jurisPK-SGB VI, 2. Aufl 2013, § 89 RdNr 7)
, sodass bei konkurrierenden Rentenansprüchen iS des § 89 Abs 1
S 1 SGB VI beide Rentenansprüche dem Grunde nach
nebeneinander bestehen bleiben
(BSG Urteil vom 7.9.2010 - B 5 KN 4/08 R - SozR 4-2600 § 89 Nr 2
RdNr 27;
Fichte in Hauck/Noftz, SGB, September 2011, K § 89 SGB VI RdNr
11)
. Damit trifft § 89 Abs 1 S 1 SGB VI aber ausschließlich eine
materielle Regelung über den Zahlanspruch. Ist ein
Rentenzahlanspruch - wie vorliegend - durch einen Bescheid
festgestellt, so bedarf es zur Beseitigung dieses
Zahlungsanspruchs, auch wenn er die niedrigere Rente betrifft,
zwingend eines förmlichen Verwaltungsverfahrens. Eines solchen
hat sich die Beklagte zwar bedient, es jedoch mit einem materiell
rechtswidrigen Aufhebungsbescheid abgeschlossen.
25
2. Auch das Erstattungsverlangen der Beklagten im Bescheid vom
21.5.2012 ist materiell rechtswidrig. Die Beklagte hat gegen die
Klägerin keinen Erstattungsanspruch nach § 50 Abs 1 S 1 iVm Abs
3 S 1 SGB X. Danach sind bereits erbrachte Leistungen zu
erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Jedoch
ist der Verwaltungsakt im Bescheid vom 21.5.2012, mit dem die
Beklagte den Bescheid vom 19.9.2011 hinsichtlich des
Rentenzahlungsanspruchs für die Zeit vom 1.2.2011 bis 30.9.2013
aufgehoben hat, rechtswidrig. Eine andere Rechtsgrundlage für die
Festsetzung der Erstattungsforderung kommt nicht in Betracht.
26
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 S 1 SGG.