Urteil des BSG vom 15.09.2016

Urteil vom 15.09.2016

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 15.9.2016, B 12 R 4/15 R
ECLI:DE:BSG:2016:150916UB12R415R0
Parallelentscheidung zu dem Urteil des BSG vom 15.9.2016 - B
12 R 2/15 R.
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des
Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Dezember
2014 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens mit
Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 10 186,37
Euro festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Nachforderung
von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen.
2
Der Kläger ist Insolvenzverwalter der R. GmbH, über deren Vermögen
durch Beschluss des Amtsgerichts Alzey am 1.11.2010 das
Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Er zeigte dem Insolvenzgericht
gegenüber die Masseunzulänglichkeit
(§ 208 Insolvenzordnung ) an, kündigte den Arbeitnehmern
und stellte diese ab dem Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung von der
Arbeitsleistung frei, dies unter Anrechnung auf eventuell noch
bestehende Urlaubsansprüche und anderweitige
Vergütungsansprüche. Beitragsnachweise für die gekündigten
Arbeitnehmer erstellte der Kläger für die Zeit ab 1.11.2010 nicht mehr.
3
Nach einer Betriebsprüfung forderte die beklagte Deutsche
Rentenversicherung Bund vom Kläger als Insolvenzverwalter für die
Zeit vom 1.11.2010 bis 28.2.2011 Beiträge für alle Zweige der
Sozialversicherung zuzüglich Säumniszuschlägen nach. Die
Beklagte forderte die Zahlung an die beigeladenen Einzugsstellen,
sofern dem Insolvenzgericht nicht bereits Masseunzulänglichkeit
nach § 208 InsO angezeigt worden sei (Bescheid vom 16.8.2011). Im
Widerspruchsverfahren reduzierte die Beklagte die Beitragsforderung
auf insgesamt 10 186,37 Euro, weil einige Arbeitnehmer während der
Zeit der Freistellung neue Beschäftigungen aufgenommen hatten und
Beiträge von der Bundesagentur für Arbeit getragen wurden
(Bescheid vom 3.4.2012).Im Übrigen wies sie den Widerspruch
zurück (Widerspruchsbescheid vom 15.6.2012).
4
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 31.7.2013). Auf die
Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG sowie den
Bescheid der Beklagten vom 3.4.2012 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 15.6.2012 (im Tenor ist als Datum
offensichtlich irrtümlich 15.6.2010 genannt) aufgehoben, "soweit der
Kläger darin zur Zahlung von Beiträgen und Säumniszuschlägen
verpflichtet wird". Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen:
Der Bescheid vom 3.4.2012 habe den Ausgangsbescheid nicht nur
ersetzt - in Bezug auf die Höhe der Nachforderung. Zusätzlich habe
er die Verpflichtung zur Zahlung unabhängig von der Anzeige der
Masseunzulänglichkeit ausgesprochen. Damit habe er die rechtliche
Situation des Klägers iS einer reformatio in peius verschlechtert. Der
Bescheid sei insoweit rechtswidrig, als der Kläger bei sog
Altmasseverbindlichkeiten iS von § 209 Abs 1 Nr 3 InsO nach
Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Anzeige der
Masseunzulänglichkeit "nicht mehr zur Zahlung aufgefordert werden"
dürfe. Dem Bescheid komme nur die Bedeutung eines
Beitragsnachweises zu. Bei den von der Beklagten festgesetzten
Beiträgen für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens
handele es sich um sog Altmasseverbindlichkeiten, da diese nicht
vom Kläger als Insolvenzverwalter begründet worden seien. Wegen
einer solchen Masseverbindlichkeit sei die Vollstreckung nach § 210
InsO unzulässig, sobald der Insolvenzverwalter die
Masseunzulänglichkeit angezeigt habe. Dabei richte sich das
Vollstreckungsverbot nicht nur gegen titulierte Ansprüche der
Vollstreckungsverbot nicht nur gegen titulierte Ansprüche der
Massegläubiger, sondern stehe bereits einer Verfolgung der
Ansprüche im Wege der Leistungsklage entgegen. Die Beklagte sei
daher nicht berechtigt gewesen, sich durch den Erlass des
Beitragsbescheides einen Vollstreckungstitel zu verschaffen. Für den
Erlass eines zur "Zahlung" verpflichtenden Beitragsbescheides fehle
es an einer Rechtsgrundlage. Das Vollstreckungsverbot stehe
allerdings dem Erlass eines Bescheides der Beklagten mit dem Inhalt
der "Feststellung" einer Beitragsschuld in bestimmter Höhe nicht
entgegen. Die Insolvenz des Arbeitgebers und die Freistellung der
Arbeitnehmer ließen die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse
unberührt. Damit seien Beitragsansprüche nach § 22 Abs 1 S 1 SGB
IV entstanden und nach § 23 SGB IV fällig. Diese seien nicht davon
abhängig, ob das geschuldete Arbeitsentgelt den Arbeitnehmern
zugeflossen sei. Da keine Verpflichtung zur Beitragszahlung
bestanden habe, sei die Festsetzung von Säumniszuschlägen
rechtswidrig (Urteil vom 16.12.2014).
5
Hiergegen richtet sich (allein) die Revision des Klägers, der die
Verletzung von §§ 22, 23, 14 SGB IV und von § 615 BGB rügt.
Entgegen der Ansicht des LSG seien Beitragsansprüche der
Versicherungsträger von vornherein nicht entstanden. Nach dem
Entstehungsprinzip seien Sozialversicherungsbeiträge nur für
geschuldetes Arbeitsentgelt zu entrichten. Für die von der
Arbeitspflicht freigestellten und damit faktisch nicht mehr beschäftigt
gewesenen Arbeitnehmer werde aber kein Arbeitsentgelt geschuldet.
Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der R.
GmbH habe er (der Kläger) sich als Insolvenzverwalter im
Annahmeverzug befunden. In diesem Falle könnten die Arbeitnehmer
zwar für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die
vereinbarte Vergütung verlangen. Die Arbeitnehmer müssten sich
darauf jedoch nach § 615 S 2 BGB dasjenige im Wert anrechnen
lassen, was sie infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart
hätten oder durch anderweitige Verwendung ihrer Dienste erwürben
oder zu erwerben böswillig unterließen. Zur Bezifferung dieses
Wertes stehe ihm (dem Kläger) ein Auskunftsanspruch gegen die
Arbeitnehmer zu. Er habe nach der Rechtsprechung des BAG die
Zahlung des Arbeitsentgelts verweigern dürfen, da die Arbeitnehmer
trotz entsprechender Aufforderung keine Auskunft zu erzielten
Einsparungen oder Einkünften erteilt hätten
(Hinweis auf BAG Urteile vom 19.3.2002 - 9 AZR 16/01 - und vom
6.9.2006 - 5 AZR 703/05)
, weshalb diesen auch - beitragspflichtige - Vergütungsansprüche
nicht zugestanden hätten.
6
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16.
Dezember 2014 zu ändern und das Urteil des Sozialgerichts
Mannheim vom 31. Juli 2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom
3. April 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.
Juni 2012 in vollem Umfang aufzuheben.
7
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
8
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
9
Die Beigeladenen stellen keine Anträge und äußern sich nicht.
Entscheidungsgründe
10
Die Revision des Klägers bleibt ohne Erfolg. Es kann offenbleiben,
ob die Revision zulässig ist (dazu 1.). Jedenfalls ist sie unbegründet
(dazu 2.).
11
1. Der Senat muss nicht entscheiden, ob die Revision mangels einer
den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden
Revisionsbegründung im Hinblick darauf unzulässig ist, dass sie
möglicherweise in Bezug auf die gerügte Verletzung von
Vorschriften des materiellen Rechts nicht den Anforderungen des §
164 Abs 2 S 1 und 3 SGG genügt
(vgl dazu nur: BSG SozR 4-1500 § 164 Nr 3 RdNr 9; zuletzt
Senatsurteil vom 29.6.2016 - B 12 KR 14/14 R - NZS 2016, 919
RdNr 10 = Juris RdNr 10 mwN)
.
12
Um diese Voraussetzungen zu erfüllen, muss die
Revisionsbegründung ua den wesentlichen Lebenssachverhalt
darstellen, über den das LSG entschieden hat
(vgl hierzu BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 5/15 R - Juris RdNr 11
mwN - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen)
. Hierfür genügt es nach dem Verständnis des Senats, wenn der
Revisionsführer - wie der Kläger - den für die geltend gemachte
Rechtsverletzung entscheidungsrelevanten, also den vom LSG
festgestellten, Lebenssachverhalt in eigenen Worten kurz wiedergibt
(so bereits BSG Urteil vom 24.2.2016 - B 13 R 31/14 R - Juris RdNr
16 - zur Veröffentlichung in SozR 4-1500 § 164 Nr 4 vorgesehen;
BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 5/15 R - Juris RdNr 11 - zur
Veröffentlichung in SozR 4-1500 § 164 Nr 5 vorgesehen).
Ob darüber hinaus - wie der 5. Senat des BSG annimmt - auch
ausdrücklich darzulegen ist, dass und an welcher genauen Stelle
des Berufungsurteils das LSG bestimmte Tatumstände festgestellt
hat
(BSG Beschluss vom 5.11.2014 - B 5 RE 5/14 R - BeckRS 2014,
74155 RdNr 8; BSG Urteil vom 23.7.2015 - B 5 R 32/14 R - NZS
2015, 838 RdNr 7 = Juris RdNr 7)
, kann vorliegend dahinstehen. Zwar genügt die
Revisionsbegründung des Klägers diesen strengeren
Anforderungen nicht. Eine in Betracht kommende Divergenz ist
jedoch nicht entscheidungserheblich und daher nicht
klärungsbedürftig
(vgl demgegenüber ua Anfragebeschlüsse des 12. Senats an den 5.
Senat vom 27.4.2016 - B 12 KR 16/14 R und B 12 KR 17/14 R)
, weil - wie im Folgenden unter 2. näher darzulegen ist - das
angegriffene Urteil des LSG im Ergebnis aus anderen Gründen
Bestand hat.
13
2. Die Revision des Klägers bleibt ohne Erfolg, weil sie jedenfalls
unbegründet ist. Das angefochtene Urteil des LSG lässt
revisionsrechtlich bedeutsame Rechtsfehler zu Lasten des Klägers
nicht erkennen.
14
a) Gegenstand des Rechtsstreits iS von § 95 SGG sind die
Bescheide der beklagten Deutschen Rentenversicherung Bund vom
16.8.2011 und vom 3.4.2012 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 15.6.2012. Mit diesen Bescheiden
wurden im Anschluss an eine Betriebsprüfung von dem Kläger
Beiträge für alle Zweige der Sozialversicherung sowie
Säumniszuschläge zur Zahlung an die beigeladenen Einzugsstellen
nachgefordert.
15
Anders als im Tenor des LSG-Urteils angedeutet, hat der im
Widerspruchsverfahren ergangene und nach § 86 SGG zum
Gegenstand des Verfahrens gewordene Bescheid vom 3.4.2012
den vorherigen Bescheid vom 16.8.2011 nicht vollständig ersetzt,
sondern nur geändert. Ein Verwaltungsakt wird nämlich "geändert",
wenn er teilweise aufgehoben und durch eine Neuregelung ersetzt
wird; ein Verwaltungsakt wird hingegen nur dann "ersetzt", wenn der
neue Verwaltungsakt vollständig an die Stelle des bisherigen tritt
(vgl zB Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl
2014, § 86 RdNr 3; § 96 RdNr 4 mwN)
. Letzteres ist hier nicht der Fall. Mit Bescheid vom 3.4.2012 hat die
Beklagte dem Widerspruch des Klägers ausdrücklich nur "teilweise
abgeholfen". Der vorangegangene Bescheid hatte damit - sowohl
nach dem eigenen Verständnis der Beklagten als auch aus der
Sicht eines objektiv verständigen Bescheidadressaten - hinsichtlich
des nicht zurückgenommenen Teils weiter Bestand.
16
Da der abändernde Bescheid vom 3.4.2012 eine Neuregelung nur
hinsichtlich der Höhe der nachgeforderten Beiträge und
Säumniszuschläge getroffen, im Übrigen aber der Bescheid vom
16.8.2011 Bestand behalten hat, liegt entgegen der Ansicht des
LSG auch keine "reformatio in peius" durch den späteren Bescheid
vom 3.4.2012 vor. Die im früheren Bescheid vom 16.8.2011
getroffene Einschränkung hinsichtlich der Zahlungspflicht
("sofern dem Insolvenzgericht nicht bereits Masseunzulänglichkeit
nach § 208 InsO angezeigt worden ist")
, auf die das LSG bei seiner Annahme einer reformatio in peius
entscheidend abgestellt hat, wurde durch den späteren Bescheid
vom 3.4.2012 nicht geändert. Im Übrigen hat das Berufungsgericht
der Sache nach - zutreffenderweise - über den gesamten
Streitgegenstand entschieden.
17
Im Revisionsverfahren sind vor diesem Hintergrund alle genannten
Bescheide der Beklagten zu überprüfen, dies allerdings nur noch,
soweit der Kläger, der alleiniger Revisionsführer ist, in der
Berufungsinstanz unterlegen ist. Da die Beklagte keine Revision
eingelegt hat, ist das LSG-Urteil in dem Umfang rechtskräftig
geworden, in dem es der Klage stattgegeben und die Bescheide
aufgehoben hat. Damit hat der Senat die Frage der vom LSG
angenommenen fehlenden Berechtigung der Beklagten zur
Aufforderung "zur Zahlung" von Beiträgen sowie zur (nach Ansicht
des LSG bereits fehlenden) Berechtigung zur Feststellung und
Aufforderung "zur Zahlung" von Säumniszuschlägen im
Revisionsverfahren nicht (mehr) zu beantworten. Für das
Revisionsverfahren ist damit schon ein Rechtsschutzbedürfnis des
Klägers zu verneinen, soweit er mit Schreiben vom 13.10.2015
dennoch ausdrücklich eine "klarstellende Entscheidung" des Senats
"zur Aufbürdung bzw zum Unterbleiben von Säumniszuschlägen"
begehrt. Vom Senat zu überprüfen ist nur die Berechtigung der
Beklagten zur "Feststellung" einer Beitragsschuld.
18
b) Die Bescheide der Beklagten sind - in dem dargestellten noch
streitigen Umfang - rechtmäßig.
19
Die Beklagte war für den Erlass der Bescheide sachlich zuständig
(dazu aa). Für die Zahlung des
Gesamtsozialversicherungsbeitrages für die betroffenen
Beschäftigten ist der Kläger als Arbeitgeber passivlegitimiert; er ist
auch richtiger Adressat der ergangenen Bescheide (dazu bb). Der
Erteilung der Bescheide steht ein möglicherweise bestehendes
Vollstreckungsverbot nach § 210 InsO dabei nicht entgegen
(dazu cc). Der Kläger muss den Gesamtsozialversicherungsbeitrag
für die betroffenen Beschäftigten zahlen, weil diese auch nach
Eröffnung des Insolvenzverfahrens entgeltlich beschäftigt und damit
versicherungspflichtig waren, sodass Beitragsansprüche entstanden
sind (dazu dd). Fehler bei der Berechnung der Beiträge sind nicht
ersichtlich (dazu ee).
20
aa) Die Beklagte war für den Erlass der Bescheide nach der von ihr
durchgeführten Betriebsprüfung gemäß § 28p Abs 1 S 1 SGB IV
sachlich zuständig.
21
Nach dieser Regelung prüfen die Träger der Rentenversicherung
bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre
sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit
der Abführung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen stehen,
ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen insbesondere die Richtigkeit der
Beitragszahlungen und der Meldungen (§ 28a SGB IV)mindestens
alle vier Jahre. Nach Satz 5 der Vorschrift erlassen die Träger der
Rentenversicherung im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur
Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der gesetzlichen Kranken-,
sozialen Pflege- und gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach
dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der
Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern; insoweit
gelten § 28h Abs 2 SGB IV sowie § 93 iVm § 89 Abs 5 SGB X nicht.
22
bb) Der Kläger ist in seiner Funktion als Insolvenzverwalter der
insolventen R. GmbH als Arbeitgeber (§ 28e SGB IV) für die
Entrichtung der Sozialversicherungsbeiträge zuständig. Als
Schuldner ist er daher zu Recht Adressat der Bescheide der
Beklagten. Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht
nämlich das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse
gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf
den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs 1 InsO). Insofern rückt der
Insolvenzverwalter in die Arbeitgeberstellung ein und nimmt
sämtliche hiermit verbundenen Rechte und Pflichten wahr
(vgl Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes
Beschluss vom 27.9.2010 - GmS-OGB 1/09 - BGHZ 187, 105 RdNr
18 mwN)
.
23
cc) Ein - möglicherweise bestehendes - Vollstreckungsverbot nach §
210 InsO steht einer Geltendmachung der von der Beklagten
nachgeforderten Beiträge und deren Zahlung an die Einzugsstellen
gegenüber dem Kläger als Insolvenzverwalter und Arbeitgeber im
Übrigen nicht entgegen.
24
Wie der Senat bereits entschieden hat, hindert ein nach Anzeige der
Masseunzulänglichkeit bestehendes insolvenzrechtliches
Vollstreckungsverbot den prüfenden Rentenversicherungsträger
nicht daran, nach einer Betriebsprüfung ermittelte rückständige
Gesamtsozialversicherungsbeiträge gegenüber dem
Insolvenzverwalter durch Leistungs- bzw Zahlungsbescheid
festzusetzen
(vgl ausführlich BSG Urteil vom 28.5.2015 - B 12 R 16/13 R = SozR
4-2400 § 28p Nr 5 RdNr 20 ff; zustimmend Hess, EWiR 2016, 55 f;
Schmidt, jurisPR-SozR 4/2016 Anm 4; vgl auch Plagemann, NZI
2016, 31 f)
. Denn im Falle einer Betriebsprüfung, wie sie hier erfolgte, ist das
Verfahren zur Erhebung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen
grundsätzlich zweigeteilt. Der Leistungs- bzw Zahlungsbescheid des
prüfenden Rentenversicherungsträgers hat die Funktion eines
Grundlagenbescheides. Ob ein solcher Bescheid vollstreckt werden
darf oder die zwangsweise Durchsetzung der Beitragsforderung
wegen eines insolvenzrechtlichen Vollstreckungsverbots
ausscheidet, ist erst auf einer späteren Ebene von den
Krankenkassen als Einzugsstellen beim Einzug der Beiträge zu
prüfen. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
25
dd) Die Beklagte hat in ihren Bescheiden auch beanstandungsfrei
angenommen, dass der Kläger den
Gesamtsozialversicherungsbeitrag für die kraft Gesetzes in den
einzelnen Zweigen der Sozialversicherung versicherten
Beschäftigten zu zahlen hat, weil solche Beitragsansprüche
bestehen
(vgl § 28d S 1 SGB IV iVm § 7 SGB IV und § 5 Abs 1 Nr 1 SGB V, §
20 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB XI, § 1 S 1 Nr 1 SGB VI, § 24 Abs 1, § 25
Abs 1 S 1 SGB III)
. Auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen
der R. GmbH waren die Arbeitnehmer wegen Beschäftigung
versicherungspflichtig (dazu <1>) und insbesondere im Sinne des
Sozialversicherungsrechts gegen Entgelt beschäftigt (dazu <2>).
26
(1) Die Arbeitnehmer waren auch nach Eröffnung des
Insolvenzverfahrens über das Vermögen der R. GmbH wegen
Beschäftigung in den Zweigen der Sozialversicherung
versicherungspflichtig. Ihre (entgeltliche) Beschäftigung endete
insbesondere nicht durch die vom Kläger als Insolvenzverwalter
erklärte Freistellung der Arbeitnehmer von ihrer vertraglichen Pflicht
zur Arbeitsleistung. Eine versicherungspflichtige Beschäftigung setzt
nämlich nicht zwingend eine tatsächliche Arbeitsleistung voraus. Bei
einer Freistellung von Arbeitnehmern besteht die Beschäftigung
vielmehr selbst dann fort, wenn eine anschließende Fortsetzung der
vertraglichen Beziehungen mit Blick auf eine bereits konkretisierte
Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr beabsichtigt ist,
etwa - wie im vorliegenden Fall - nach dem Ablauf der
Kündigungsfrist
(vgl BSGE 59, 183, 185 = SozR 4100 § 168 Nr 19 S 44 f; BSGE 101,
273 = SozR 4-2400 § 7 Nr 10, RdNr 19)
.
27
(2) Entgegen der Ansicht des Klägers waren die Arbeitnehmer ferner
nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der R.
GmbH im Sinne des Sozialversicherungsrechts gegen Entgelt
beschäftigt
(§ 7 SGB IV iVm den oben genannten, für die einzelnen
Versicherungszweige geltenden Regelungen; vgl § 14 SGB IV)
.
28
Die betroffenen Arbeitnehmer hatten einen Entgeltanspruch aus
dem bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortbestehenden
Arbeitsverhältnis. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 611 Abs 1 BGB
iVm dem (unabhängig von der Insolvenz der R. GmbH
fortbestehenden) Arbeitsvertrag. Dabei kann es dahinstehen, ob
sich der Kläger als Arbeitgeber - wie er meint - durch die Freistellung
der Arbeitnehmer in Annahmeverzug (§ 293 BGB)befand. Liegen die
Voraussetzungen eines Annahmeverzugs vor, erhält § 615 S 1 BGB
den Arbeitnehmern - abweichend vom Grundsatz "Ohne Arbeit kein
Lohn" (§ 326 Abs 1 BGB)- jedenfalls den ursprünglichen
Vergütungsanspruch des § 611 Abs 1 BGB aufrecht
(vgl BAG AP Nr 132 zu § 615 BGB RdNr 17; BGB AP Nr 11 zu § 305
BGB RdNr 13; BAG AP Nr 1 zu § 280 nF BGB Bl 416; Krause in
Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 7. Aufl 2016, §
615 RdNr 4; Linck in Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 16. Aufl
2015, § 95 RdNr 3; Belling in Erman, BGB Kommentar, 14. Aufl
2014, § 615 RdNr 34)
. Die Höhe des Anspruchs bemisst sich dabei nach dem
Lohnausfallprinzip
(vgl BGB AP Nr 11 zu § 305 BGB RdNr 13; Henssler in Münchener
Kommentar zum BGB, 7. Aufl 2016, § 615 RdNr 51, 56)
.
29
Das Vorliegen einer entgeltlichen, zur Beitragspflicht des
Arbeitsentgelts in den Zweigen der Sozialversicherung führenden
Beschäftigung ist unabhängig davon zu bejahen, ob die
Arbeitnehmer der R. GmbH das Entgelt bereits ausgezahlt
bekommen hatten oder nicht. Das folgt aus dem im Beitragsrecht der
Sozialversicherung geltenden Entstehungsprinzip
(§ 22 Abs 1 S 1 SGB IV).
30
Danach entstehen die Beitragsansprüche (schon), sobald ihre im
Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten
Voraussetzungen vorliegen. Für die Beitragspflicht von
Arbeitsentgelt ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats,
die auch hier einschlägig ist, insoweit allein das Entstehen eines
arbeitsrechtlichen Entgeltanspruchs maßgebend, ohne Rücksicht
darauf, ob (und von wem) dieser Anspruch im Ergebnis erfüllt wird
oder nicht
(stRspr; vgl zuletzt BSG Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R
<"CGZP"> - Juris RdNr 25 mwN - SozR 4-2400 § 28p Nr 6, auch zur
Veröffentlichung in BSGE 120 vorgesehen; zuletzt BSG Urteil vom
29.6.2016 - B 12 R 8/14 R - RdNr 18 - zur Veröffentlichung in BSGE
und SozR vorgesehen; aus dem Schrifttum vgl zB Hase in
Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S 167 ff; Axer in von
Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl 2012, § 14
RdNr 32; Mette in Beck'scher Online-Kommentar Sozialrecht, Stand
Dezember 2015, § 22 SGB IV RdNr 4; Roßbach in
Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4.
Aufl 2015, § 22 SGB IV RdNr 4 f; Zieglmeier in Kasseler Komm,
Stand Juni 2016, § 22 SGB IV RdNr 5 f; zur Verfassungskonformität
des Prinzips vgl BVerfG SozR 4-2400 § 22 Nr 3)
. Dabei ist es für die Beitragsbemessung unerheblich, ob der einmal
. Dabei ist es für die Beitragsbemessung unerheblich, ob der einmal
entstandene Entgeltanspruch - zB wegen tarifvertraglicher
Verfallklauseln oder wegen Verjährung - vom Arbeitnehmer
(möglicherweise) nicht mehr realisiert werden kann. Sobald die
Voraussetzungen eines Vergütungsanspruchs vorliegen, entsteht
kraft Gesetzes die Beitragspflicht, und zwar unabhängig davon, ob
und in welcher Höhe das Arbeitsentgelt tatsächlich ausgezahlt wird
(vgl Schlegel, NZA 2011, 380, 382 mwN; Körner, ASR 2014, 57, 60).
Der (tatsächliche) Zufluss von Arbeitsentgelt ist für das Beitragsrecht
der Sozialversicherung dagegen nur relevant, soweit der
Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mehr leistet als Letzterem unter
Beachtung der gesetzlichen, tariflichen oder einzelvertraglichen
Regelungen zusteht, also dann, wenn ihm über das geschuldete
Arbeitsentgelt hinaus überobligatorische Zahlungen zugewandt
werden
(vgl zuletzt BSG Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R, aaO, Juris
RdNr 25 mwN)
.
31
Aus diesem Grunde ist es im zu entscheidenden Fall ohne
Bedeutung, ob sich der Kläger als Insolvenzverwalter nach
Freistellung der Arbeitnehmer der R. GmbH im Annahmeverzug
befand, insbesondere, ob (und mit welchen Folgen) die
Arbeitnehmer auf ein rechtmäßiges Auskunftsverlangen des Klägers
zur Höhe anderweitigen Verdienstes (§ 615 S 2 BGB) geschwiegen
hatten. Zwar trifft es zu - worauf sich der Kläger beruft -, dass nach
der Rechtsprechung des BAG im Falle des Annahmeverzugs ein
Auskunftsrecht des Arbeitgebers bezüglich der Höhe anderweitigen
Verdienstes für den Gesamtzeitraum des Annahmeverzugs in
entsprechender Anwendung des § 74c Abs 2 HGB besteht; dieses
Auskunftsrecht befreit den Arbeitgeber allerdings nicht davon,
insoweit gegenüber dem Arbeitnehmer zumindest greifbare
Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines anderweitigen
Verdienstes darzulegen und dieses ggf zu beweisen
(stRspr; vgl. BAG EzA § 615 BGB Nr 108, S 4; BAG AP Nr 1 zu §
615 BGB Anrechnung, Bl 1088; BAG AP Nr 52 zu § 615 BGB, Bl
700 R; ebenso Joussen in Beck'scher Online-Kommentar
Arbeitsrecht, Stand Juni 2016, § 615 BGB RdNr 82; Preis in Erfurter
Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl 2016, § 615 BGB RdNr 111)
. Auch kann der Arbeitgeber die Zahlung des Arbeitsentgelts
. Auch kann der Arbeitgeber die Zahlung des Arbeitsentgelts
verweigern, solange die betroffenen Arbeitnehmer die verlangte
Auskunft nicht erteilen
(stRspr; vgl BAG EzA § 615 BGB Nr 108, S 4; BAG AP Nr 1 zu § 615
BGB Anrechnung, Bl 1088 f; BAG AP Nr 52 zu § 615 BGB, Bl 700 R;
ebenso Henssler, aaO, § 615 RdNr 124; Krause, aaO, § 615 RdNr
110; Linck, aaO, § 95 RdNr 78; Preis, aaO, § 615 BGB RdNr 111;
Weidenkaff in Palandt, BGB, 75. Aufl 2016, § 615 BGB RdNr 19)
. Dieses Zurückbehaltungsrecht hat jedoch auf das im Beitragsrecht
der Sozialversicherung allein maßgebende, dem zeitlich
vorangehenden Entstehen des Entgeltanspruchs der Arbeitnehmer
keinen Einfluss. Erst recht entfaltet ein Zurückbehaltungsrecht aus
dem Arbeitsverhältnis - also aus dem Innenverhältnis zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer - keine Rechtswirkungen für das in §
22 SGB IV iVm den für die einzelnen Versicherungszweige
geltenden sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen geregelte
Entstehen des Beitragsanspruchs der Sozialversicherungsträger.
Ein solches Zurückbehaltungsrecht lässt damit die Pflicht des
Arbeitgebers zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen
gänzlich unberührt.
32
ee) Für Fehler bei der Berechnung der Beiträge durch die Beklagte
bestehen keine Anhaltspunkte. Der Kläger hat im Rechtsstreit
insoweit auch keine Einwände erhoben.
33
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG
iVm § 154 Abs 2, § 162 Abs 3 VwGO, da weder der Kläger noch die
Beklagte zu dem in § 183 SGG genannten Personenkreis gehören.
34
4. Der Streitwert für das Revisionsverfahren war gemäß § 197a Abs
1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1
GKG in Höhe des Betrags der streitigen Beitragsforderung
festzusetzen.