Urteil des BSG vom 09.02.2007
BSG (rente, vollendung, erwerbsfähigkeit, stand, kläger, gesetz, altersrente, eintritt des versicherungsfalls, gebot der erforderlichkeit, klage auf zahlung)
BUNDESSOZIALGERICHT Beschluß vom 29.1.2008, B 5a/5 R 32/07 R
Anfrage - Erwerbsminderungsrente - Bezugszeiten vor Vollendung des 60.
Lebensjahres - Rentenabschlag - Verfassungsmäßigkeit
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten darüber, ob die dem Kläger bewilligte Rente wegen
Erwerbsminderung mit dem ungeminderten Zugangsfaktor von 1,0 oder mit einem
Zugangsfaktor von 0,892 ("Abschlag" von 10,8 %) zu berechnen ist.
2 Die Beklagte bewilligte dem am 1952 geborenen Kläger mit Bescheid vom 9.6.2005 eine
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung mit Wirkung vom 1.7.2004. Laut Anlage 6 des
Bescheids wurde der Zugangsfaktor von 1,0 um 0,108 auf 0,892 vermindert; der
Rentenberechnung wurden dementsprechend an Stelle von 50,2611 persönlichen
Entgeltpunkten (EP) nur 44,8329 EP zu Grunde gelegt. Dies hatte eine Absenkung der
Rentenhöhe um 10,8 % zur Folge, wodurch sich (ab 1.7.2004) ein monatlicher Zahlbetrag von
585,74 Euro (brutto) ergab. Zugleich wurde im Versicherungsverlauf eine Zurechnungszeit
vom Eintritt der Erwerbsminderung am 18.2.2004 bis zum Tag vor Vollendung des 60.
Lebensjahres am 10.2.2012 (insgesamt 96 Monate) berücksichtigt.
3 Auf den Widerspruch des Klägers gegen die Bewilligung nur einer Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 18.5.2006 für die Zeit vom
1.9.2004 bis 31.8.2007 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Auch dieser Rente legte
die Beklagte die genannte Zurechnungszeit sowie den geminderten Zugangsfaktor zu
Grunde. Der Kläger hielt seinen Widerspruch aufrecht und begehrte nun zum einen eine
Dauerrente und zum anderen - unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundessozialgerichts
(BSG) vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3) - die
Berechnung seiner Rente auf Grund eines ungeminderten Zugangsfaktors von 1,0. Beides
lehnte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.9.2006 ab.
4 Die hiergegen erhobene Klage, mit der zuletzt nur noch die Zahlung der Rente ohne Kürzung
des Zugangsfaktors beantragt wurde, hat das Sozialgericht Aachen (SG) mit Urteil vom
9.2.2007 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Entscheidung
des BSG vom 16.5.2006 stehe im Widerspruch zur unbestrittenen Auffassung in der gesamten
Rentenliteratur. Die Regelung des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch
(SGB VI) über die Höhe des Zugangsfaktors bei einer Rente wegen Erwerbsminderung vor
Vollendung des 63. Lebensjahrs sei für sich genommen zwar nicht ausreichend, da sie bei
isolierter Anwendung zur Folge haben könnte, dass der Zugangsfaktor auf Null absinke und
deshalb keine Rente zu bewilligen sei. § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI regele aber eine
Begrenzung der Absenkung des Zugangsfaktors um maximal 10,8 % (36 Kalendermonate x
0,003 = 0,108). Im Hinblick auf diese maximale Absenkung des Zugangsfaktors bestimme §
77 Abs 2 Satz 3 SGB VI, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60.
Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelte. Diese
Regelungsabsicht werde durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Mit dem Gesetz zur Reform
der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (RRErwerbG) vom 20.12.2000 (BGBl I
1827) sei eine Anpassung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit an die Höhe der
vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten beabsichtigt gewesen. Der Gesetzgeber
habe damit Ausweichreaktionen entgegenwirken wollen, die im Hinblick auf Abschläge bei
vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten zu befürchten gewesen seien.
Übergeordnetes Ziel sei gewesen, Vorteile eines längeren Rentenbezugs durch einen
verminderten Zugangsfaktor auszugleichen (Bezug auf BT-Drucks 14/4230 S 26 zu Nr 16) .
Der Gesetzesbegründung sei nicht zu entnehmen, dass ein verminderter Zugangsfaktor
lediglich für Versicherte gelten solle, die das 60. Lebensjahr vollendet hätten. Zudem sei das
Ergebnis der Rechtsprechung des BSG nicht mit der zeitgleich ab 1.1.2001 eingeführten
Verlängerung der Zurechnungszeit zu vereinbaren. Durch die Verlängerung der
Zurechnungszeit habe der Gesetzgeber die Auswirkungen der Verminderung des
Zugangsfaktors abmildern wollen. Es sei nicht möglich, einen Teil des Regelungskomplexes
für verfassungswidrig zu erklären und den anderen (begünstigenden) Teil unangetastet zu
lassen. Dies habe zur Folge, dass an Stelle einer Verminderung der vorzeitig in Anspruch
genommenen Erwerbsminderungsrenten deren Erhöhung eintrete. Die von der Beklagten
angewandte Verwaltungspraxis sei verfassungsgemäß, sodass eine Vorlage an das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht geboten sei.
5 Gegen dieses Urteil richtet sich die vom SG nachträglich zugelassene Sprungrevision des
Klägers. Er rügt eine Verletzung von § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3, Satz 2 und 3 SGB VI. Das SG
habe verkannt, dass der Gesetzgeber bei der Bestimmung des Zugangsfaktors bei
Erwerbsminderungsrenten eine Altersober- und Altersuntergrenze eingeführt habe. Die
Bestimmung in § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI markiere die Altersobergrenze der
Personengruppe der Erwerbsminderungsrentner, die einen Abschlag des Zugangsfaktors
hinnehmen müssten. § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI bestimme sodann die Altersuntergrenze für
die Maßgeblichkeit des Zugangsfaktors und lege diese auf die Vollendung des 60.
Lebensjahres fest. Ohne die gesetzliche Anordnung der Altersuntergrenze ergäbe sich bei
ihm ein Zugangsfaktor von 0,378 (= 126 Kalendermonate x 0,003); bei noch jüngeren
Erwerbsminderungsrentnern könne der Zugangsfaktor auf Null absinken. Um dies zu
vermeiden sei in § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI eine Untergrenze für den Rentenabschlag für
Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres normiert worden. Dafür spreche auch die
Regelung des § 77 Abs 2 Satz 3 SGB VI, wonach Bezugszeiten einer
Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeiten einer
vorzeitigen Renteninanspruchnahme zu behandeln seien. Der Regelung des § 77 Abs 3 Satz
3 Nr 2 SGB VI sei zu entnehmen, dass das Gesetz nur zwischen der Altersuntergrenze ab
Vollendung des 60. Lebensjahres und der Altersobergrenze ab Vollendung des 63.
Lebensjahres einen Abschlag wegen vorzeitiger Inanspruchnahme eingeführt habe. Dieses
Normverständnis werde zudem durch die Entstehungsgeschichte und den darin
dokumentierten Gesetzgebungswillen bestätigt. Die Ansicht des SG, wonach Vorteile eines
längeren Rentenbezugs durch einen verminderten Zugangsfaktor individuell auszugleichen
seien, finde in den Gesetzesmaterialien keine Grundlage. Die Verlängerung der
Zurechnungszeiten unter Beibehaltung eines Zugangsfaktors von 1,0 führe zudem nicht zu
einem ungerechtfertigten Vorteil, sondern diene der teilweisen Kompensation dafür, dass
durch den vollständigen Verlust der Erwerbsfähigkeit ein zusätzlicher Rentenschaden für
seine Altersrente entstehe. Eine Minderung des Zugangsfaktors würde ihn in seinem
Grundrecht aus Art 14 Abs 1 Grundgesetz (GG) verletzen, denn ihm stehe ohne den
vorzeitigen Rentenbeginn eine Vollerwerbsminderungsrente in Höhe von 1.313,32 Euro
(50,26611 EP x 1 x 26,13 Euro) zu; stattdessen erhalte er nur 1.171,48 Euro. Es ergebe sich
mithin ein monatlicher Fehlbetrag von 141,84 Euro. Auf Grund des im Wesentlichen durch
Pflichtbeiträge geprägten gesetzlichen Rentenversicherungsverhältnisses und des
Systemversprechens, hieraus bei Invalidität oder bei Erreichen der Regelaltersgrenze
Leistungszusagen zu gewähren, die einen Lebensstandard über Sozialhilfeniveau
garantierten, müsse der Eingriff auf Grund einer Gesetzesnorm in eigentumsrechtlich
geschützte Rentenanwartschaften den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die
Zulässigkeit einer unechten Rückwirkung genügen. Diese Grenze sei hier wegen des großen
zeitlichen Zwischenraums zwischen Erwerb von Rentenanwartschaften mit Beginn der
beitragsbegründenden Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung im April 1969
und dem Eintritt des Versicherungsfalls der vollen Erwerbsminderung im Februar 2004
überschritten. Er habe jetzt keine Möglichkeit mehr, für einen Ausgleich durch eine private
Kapitalvorsorge zu sorgen. Außerdem liege eine Verletzung von Art 3 Abs 1 GG vor. Eine
Gleichbehandlung derjenigen Versichertengruppe, die ab Vollendung des 60. Lebensjahres
auf Grund ihrer Wahl freiwillig eine Altersrente in Anspruch nehme, mit dem Kläger, der
unfreiwillig seine Erwerbsfähigkeit verloren habe, sei nicht zu rechtfertigen. Schließlich liege
auch eine Verletzung des Art 3 Abs 3 GG vor. Die Minderung des Zugangsfaktors bewirke
eine mittelbare Benachteiligung des Klägers wegen seiner krankheitsbedingten Behinderung.
6 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 9. Februar 2007 aufzuheben und die Beklagte unter
Abänderung der Bescheide vom 9. Juni 2005 und 18. Mai 2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 14. September 2006 zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Juli bis
31. August 2004 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sowie vom 1. September 2004
bis zum 31. August 2007 Rente wegen voller Erwerbsminderung, jeweils unter
Berücksichtigung des Zugangsfaktors von 1,0 zu zahlen.
7 Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
8 Der Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 16.5.2006 sei nicht zu folgen. Entgegen der
Ansicht des 4. Senats stelle § 77 Abs 2 Satz 3 SGB VI keine inhaltsleere Regelung dar,
sondern sei eine notwendige Ergänzung zu § 77 Abs 3 SGB VI. Die isolierte Berücksichtigung
der Verlängerung der Zurechnungszeit ohne Absenkung des Zugangsfaktors stelle eine
Überkompensation dar, die in den Gesetzesmaterialien keine Grundlage finde. Eine
Rentenkürzung erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres, ohne dass sonst eine Veränderung
in den Verhältnissen eingetreten wäre, stehe im deutlichen Widerspruch zu § 88 Abs 1 SGB
VI, der einen umfassenden Besitzschutz für Folgerenten gewährleiste. Im Übrigen genüge der
Eingriff in den Eigentumsschutz den Grenzen einer Inhalts- und Schrankenbestimmung iS des
Art 14 Abs 1 Satz 2 GG.
Entscheidungsgründe
9 Der Senat beabsichtigt, die Revision des Klägers zurückzuweisen. Er sieht sich jedoch
durch das Urteil des 4. Senats vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R - BSGE 96, 209 = SozR 4-
2600 § 77 Nr 3) gehindert; würde er die Rechtsauffassung, auf der dieses Urteil beruht, auch
im vorliegenden Fall zu Grunde legen, wären auf die Revision des Klägers das angegriffene
Urteil aufzuheben und die angefochtenen Bescheide abzuändern und der Klage damit
stattzugeben. Dies macht die aus dem Entscheidungssatz ersichtliche Anfrage gemäß § 41
Abs 3 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erforderlich .
10 1. Die vom SG auf Antrag des Klägers nachträglich durch Beschluss zugelassene
Sprungrevision ist zulässig. Die Voraussetzungen des § 161 Abs 1 SGG sind erfüllt, da die
Zustimmung der Beklagten dem Antrag des Klägers auf Zulassung der Sprungrevision
beigefügt war und die Beklagte in diesem Schreiben (vom 8.3.2007) ausdrücklich ihr
Einverständnis zur Einlegung der Sprungrevision erteilt hat (zum Erfordernis der
Zustimmung zur "Einlegung" - und nicht lediglich zur "Zulassung" - BSG SozR 3-1500 § 161
Nr 7 S 15) .
11 Der Kläger ist auch beschwert. Ihm stünde ein höherer Monatsbetrag der Rente zu, wenn der
Rentenberechnung an Stelle des Zugangsfaktors von 0,892 ein solcher von 1,0 zu Grunde
zu legen wäre. Bezogen auf den aktuellen Rentenwert bewirkt die Absenkung des
Zugangsfaktors eine Rentenminderung um 142,59 Euro, die durch die gleichzeitig mit der
gesetzlichen Regelung erfolgte Verlängerung der Zurechnungszeit nicht ganz ausgeglichen
wird. Die Neuregelung hat demnach insgesamt in der Auslegung durch die Beklagte eine
Rentenminderung um (aktuell) 44,66 Euro zur Folge.
12 2. Die Sprungrevision des Klägers ist nach Auffassung des Senats unbegründet. Das SG hat
die zulässige Klage auf Zahlung einer höheren Erwerbsminderungsrente zu Recht
abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors 1,0. Die Rechtsanwendung
der Beklagten, den Zugangsfaktor bei Beginn einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung
des 60. Lebensjahres zu mindern, ist nicht zu beanstanden.
13 Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich gemäß § 63 Abs 6, § 64 Nr 1 bis 3 SGB VI, wenn die
unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen EP, der Rentenartfaktor
und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt
werden. Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen EP.
14 Nach § 77 Abs 1 SGB VI in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Sicherung der
nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom
21.7.2004 (BGBl I 1791; zur Gesetzesentwicklung Blüggel in Wannagat, SGB VI, § 77 RdNr
6 f, Stand 7/2007; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr 1 ff, Stand 12/2005) richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der
Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang EP bei der
Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche EP zu berücksichtigen sind. Der
Zugangsfaktor ist für EP, die noch nicht Grundlage von persönlichen EP einer Rente waren,
gemäß § 77 Abs 2 Nr 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei
Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des
Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um
0,003 niedriger als 1,0. So liegt der Fall beim Kläger. Er hat eine Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen. Zum
Zeitpunkt des Rentenbeginns wegen voller Erwerbsminderung hatte der Kläger das 52.
Lebensjahr vollendet (zur Auslegung des Begriffs "Rentenbeginn" im Sinne des
Rentenzahlbeginns s Senatsbeschluss vom 17.4.2007 - B 5 RJ 15/04 R, unveröffentlicht;
BSG SozR 3-2600 § 71 Nr 2).
15 Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60.
Lebensjahres, so bestimmt § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI, dass die Vollendung des 60.
Lebensjahres für die "Bestimmung des Zugangsfaktors" maßgebend ist. Davon abweichend
regelt § 264c SGB VI (idF der Bekanntmachung vom 19.2.2002, BGBl I 754; zur Neufassung
ab dem 1.1.2008 s Art 1 Nr 72 des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die
demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen
Rentenversicherung = RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007, BGBl I 554) ,
dass bei der Ermittlung des Zugangsfaktors an Stelle der Vollendung des 60. Lebensjahres
die Vollendung des in Anlage 23 zum SGB VI (in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung; zur
Aufhebung der Anlage 23 ab dem 1.1.2008 s Art 1 Nr 83 des RV-
Altersgrenzenanpassungsgesetzes) angegebenen Lebensalters maßgebend ist, wenn eine
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1.1.2004 beginnt. Die
Voraussetzungen dieser Übergangsvorschrift liegen beim Kläger nicht vor, da die Rente
wegen voller Erwerbsminderung erst ab dem 1.9.2004, dh nach dem genannten Stichtag
begann.
16 Die Regelung des § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI (ggf iVm § 264c SGB VI und der Anlage 23 zum
SGB VI in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung) ist nach Auffassung des 5. Senats als
Berechnungsregel zu verstehen, mit der Folge, dass bei Inanspruchnahme von Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres der
Zugangsfaktor um maximal 0,108 (36 Kalendermonate x 0,003) zu mindern ist. Hierdurch
ergibt sich in diesen Fällen ein Zugangsfaktor von 0,892. Der Senat vermag sich der
entgegenstehenden Rechtsauffassung des 4. Senats im Urteil vom 16.5.2006 nicht
anzuschließen ( ablehnend auch die überwiegende Rechtsprechung der Instanzgerichte, vgl
insbesondere - alle veröffentlicht in Juris - Hessisches Landessozialgericht vom
24.8.2007 - L 5 R 228/06, derzeit anhängig beim BSG; LSG Niedersachsen-Bremen vom
20.9.2007 - L 2 R 415/07, derzeit anhängig beim BSG; Schleswig-Holsteinisches LSG vom
4.9.2007 - L 7 R 97/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Berlin vom 11.10.2007 - S 9 R
5458/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Köln vom 14.9.2007 - S 11 R 6/07, derzeit
anhängig beim BSG; SG Detmold vom 14.8.2007 - S 20 R 83/07; SG Köln vom 13.8.2007 - S
3 R 85/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Leipzig vom 3.7.2007 - S 3 R 1397/06; SG
Duisburg vom 2.7.2007 - S 21 R 145/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Freiburg vom
14.6.2007 - S 6 R 886/07; SG Nürnberg vom 30.5.2007 - S 14 R 4013/07; SG Aachen vom
29.5.2007 - S 13 Kn 9/07; SG für das Saarland vom 8.5.2007 - S 14 R 82/07; SG Augsburg
vom 23.4.2007 - S 3 R 26/07; der Auffassung des 4. Senats angeschlossen haben sich
hingegen insbesondere LSG Nordrhein-Westfalen vom 9.5.2007 - L 8 R 353/06, derzeit
anhängig beim BSG; LSG für das Saarland vom 9.2.2007 - L 7 R 40/06; SG Mannheim vom
9.11.2007 - S 9 R 2887/07; SG Lübeck vom 26.4.2007 - S 14 R 191/07; in der Literatur ist die
Auffassung des 4. Senats weitgehend auf Ablehnung gestoßen, vgl insbesondere Bredt,
NZS 2007, 192 ff; von Koch/Kolakowski, SGb 2007, 71 ff; Ruland, NJW 2007, 2086 ff; Mey,
RVaktuell 2007, 44 ff, Plagemann in jurisPR-SozR 20/2006 Anm 4).
17 Für die Auffassung des erkennenden Senats sprechen Wortlaut und systematische Stellung
des § 77 SGB VI wie auch Sinn und Zweck, systematischer Gesamtzusammenhang und
Entstehungsgeschichte dieser Norm.
18 a) Nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung ist § 77 SGB VI eine Norm, die
Berechnungsregeln zur Umsetzung der allgemeinen Grundsätze zur Rentenhöhe iS des §
63 Abs 5 iVm § 64 Nr 1 SGB VI enthält (so auch stellvertretend: Bredt, NZS 2007, 193;
Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, § 77 SGB VI RdNr 1,
Stand 12/2005; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB § 77 SGB VI
Anm 1, Stand 5/2005; Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 77 RdNr 4, Stand 2/2002) .
19 aa) Nach § 77 Abs 1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten
bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang EP bei der Ermittlung des
Monatsbetrags der Rente als persönliche EP zu berücksichtigen sind. Durch diese
Grundregel fließt zum einen das Alter des Versicherten in die Rentenberechnung mit ein,
und zum anderen wird die Funktion des Zugangsfaktors als Berechnungskomponente bei
der Ermittlung der persönlichen EP deutlich. Für die Bestimmung des Zugangsfaktors ist
nach dieser Grundregel somit das Alter des Versicherten zum Zeitpunkt des Rentenbeginns
maßgebend. Damit bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass der Zugangsfaktor für die
gesamte Dauer des ununterbrochenen Rentenbezugs und auch für eine sich daran
anschließende Rente einheitlich zu bestimmen ist - die nach § 77 Abs 2, 3 SGB VI zu
ermittelnden "Abschläge" oder "Zuschläge" also für die gesamte ununterbrochene
Rentenlaufzeit gelten (vgl BSG vom 28.10.2004 - B 4 RA 42/02 R - Juris RdNr 281 ff; Stahl in
Hauck/Noftz, SGB VI, K § 77 RdNr 10, Stand 2/2002; Blüggel in Wannagat, SGB, § 77 SGB
VI RdNr 18, Stand 7/2007; Ohsmann/Stolz/Thiede, DAngVers 2003, 171).
20 bb) § 77 Abs 2 SGB VI enthält sodann Regelungen zur Berechnung der Höhe des
Zugangsfaktors. Für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bestimmt Satz 1 Nr 3,
dass der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des
Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um
0,003 niedriger ist als 1,0. Somit erfolgt eine Absenkung des Zugangsfaktors nur bei einer
Inanspruchnahme der Rente vor dem 63. Lebensjahr. Da für die Anzahl der Monate, um die
Rente vor dem 63. Lebensjahr beansprucht wird, der Zugangsfaktor jeweils um 0,003
niedriger als 1,0 anzusetzen ist, würde sich bei einem sehr frühen Rentenbeginn eine
Absenkung des Zugangsfaktors auf Null ergeben, wenn § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI
isoliert anzuwenden wäre. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses bestimmt jedoch § 77 Abs 2
Satz 2 SGB VI, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des
Zugangsfaktors maßgebend sein soll, wenn eine Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit bereits vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt. Damit wird der
Versicherte hinsichtlich der Höhe des Zugangsfaktors so behandelt, als habe er das 60.
Lebensjahr bereits vollendet. Entgegen der Grundregel des § 77 Abs 1 SGB VI, wonach sich
der Zugangsfaktor nach dem (tatsächlichen) Alter des Versicherten bei Rentenbeginn
bestimmt, ordnet das Gesetz eine fiktive Rentenberechnung unter der Annahme an, der
Versicherte habe das 60. Lebensjahr bereits vollendet, um auf diese Weise die Minderung
des Zugangsfaktors entsprechend der 36 Monate zwischen dem vollendeten 60. und dem
vollendeten 63. Lebensjahr auf maximal 0,108 zu begrenzen (so auch Ruland, NJW 2007,
2087; Mey, RVaktuell 2007, 46; Bredt, NZS 2007, 194; Blüggel in Wannagat, SGB, § 77 SGB
VI RdNr 28, Stand 7/2007; Kreikebohm in BeckOK, § 77 SGB VI RdNr 5, Stand 9/2007;
Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, § 77 SGB VI Anm 3b, Stand
5/2005; Stahl in Hauck/Noftz, K § 77 SGB VI, RdNr 28, Stand 2/2002;
Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, § 77 SGB VI RdNr
16, Stand 12/2005; Polster in Kasseler Kommentar, § 77 SGB VI RdNr 12, Stand 9/2006).
Eine weitere Herabsetzung des Zugangsfaktors für die Monate der tatsächlichen
Inanspruchnahme der Erwerbsminderungsrente, die vor der Vollendung des 60.
Lebensjahres liegen, ist somit ausgeschlossen; dadurch ist sichergestellt, dass der
Zugangsfaktor nicht unter 0,892 absinkt und die Rente somit niemals um mehr als 10,8 % zu
mindern ist (36 Kalendermonate x 0,003 = 0,108). Dass es bei der Bezugnahme auf das 60.
Lebensjahr des Versicherten um eine fiktive Rechengröße für die Bestimmung des
Zugangsfaktors und nicht etwa um die Festlegung des Beginns der Rentenminderung geht,
wird insbesondere daran deutlich, dass dieselbe Vorschrift auch bei der
Hinterbliebenenrente auf die Vollendung des 60. Lebensjahres abstellt, um die Höhe des
Zugangsfaktors zu bestimmen. Andernfalls müsste dem Gesetz unterstellt werden, es wolle
eine Regelung für die Zeit treffen, nachdem der verstorbene Versicherte das genannte
Lebensalter erreicht haben würde.
21 § 77 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB VI dienen ausschließlich der Berechnung des Zugangsfaktors.
Das vom 4. Senat entwickelte Konzept der "Vorzeitigkeit" einer Rente wegen
Erwerbsminderung (BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3, jeweils RdNr 22 f) findet im
Gesetz keine Stütze. Eine "vorzeitige" Inanspruchnahme einer Rente wegen
Erwerbsminderung im Sinne einer freien Entscheidung des Versicherten, vorzeitig aus dem
Erwerbsleben ausscheiden zu wollen, ist nicht möglich, da der Leistungsfall (Eintritt der
Erwerbsminderung) in der Regel unabhängig vom Willen des Versicherten eintritt (vgl
insoweit auch die Kritik des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des VdK im Rahmen der
57. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 20.10.2000, Prot 14/57 S 18,
26) . Streng genommen kann somit im Hinblick auf eine Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit nicht von einer vorzeitigen, sondern allenfalls von einer früheren oder
späteren Inanspruchnahme gesprochen werden (in diesem Sinne auch
Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, § 63 SGB VI Anm 6, Stand
12/2005) . Dessen war sich der Gesetzgeber auch bewusst, wie nicht nur die
Auseinandersetzung im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (aaO) zeigt, sondern auch
im Wortlaut des § 77 Abs 2 Satz 1 SGB VI zum Ausdruck kommt. Denn das Gesetz spricht in
Satz 1 Nr 2a von einer "vorzeitigen" Inanspruchnahme nur insoweit, als Renten wegen Alters
vor Vollendung des 65. Lebensjahres (ab 1.1.2008: "Erreichen der Regelaltersgrenze"; vgl
Art 1 Nr 23 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes) bezogen werden.
22 Dies bestätigt die Änderung des Wortlauts des § 63 Abs 5 SGB VI, welcher vom 1.1.1992 bis
31.12.2000 auf Grund des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
(Rentenreformgesetz 1999 - RRG 1999) vom 16.12.1997 (BGBl I 2998) folgende Fassung
hatte: "Bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente oder bei Verzicht auf eine
Altersrente nach dem 65. Lebensjahr werden Vorteile oder Nachteile einer unterschiedlichen
Rentenbezugsdauer durch einen Zugangsfaktor vermieden." Mit der Einführung des
abgesenkten Zugangsfaktors auch bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor
Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, durch das RRErwerbG
vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) wurde § 63 Abs 5 SGB VI entsprechend neu gefasst: "Vorteile
und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer werden durch einen
Zugangsfaktor vermieden." Der Begriff der "Vorzeitigkeit" ist somit entfallen. Danach gilt,
dass bei allen Rentenarten Vorteile oder Nachteile einer unterschiedlichen
Rentenbezugsdauer durch einen Zugangsfaktor vermieden werden sollen.
23 cc) An diesem Ergebnis ändert auch die Regelung des § 77 Abs 2 Satz 3 SGB VI nichts.
Danach "gilt" die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des
Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme. Durch die Fiktion des § 77
Abs 2 Satz 3 SGB VI wird gewährleistet, dass sich der geminderte Zugangsfaktor bei einem
Wegfall der Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres (zB bei einem
Rentenbezug zwischen dem 42. und 44. Lebensjahr) auf eine spätere Rente (neue
Erwerbsminderungsrente oder Rente wegen Alters ab dem 65. Lebensjahr bzw ab dem
1.1.2008 nach Erreichen der Regelaltersgrenze) nicht mehr auswirkt. § 77 Abs 2 Satz 3 SGB
VI statuiert insoweit eine Ausnahme zu dem Grundsatz (vgl § 77 Abs 3 Satz 1 SGB VI) , dass
ein früherer Zugangsfaktor auch für spätere Renten maßgeblich bleibt (ebenso Ruland, NJW
2007, 2087; Bredt, NZS 2007, 194; Mey, RVaktuell 2007, 46 f; Blüggel in Wannagat, SGB, §
77 SGB VI RdNr 30 ff, Stand 7/2007; Kreikebohm SGB VI, 2. Aufl 2003, § 77 RdNr 16;
Polster in Kasseler Kommentar, § 77 SGB VI RdNr 21, Stand 9/2006; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K § 77 RdNr 47 mit Beispiel, Stand 2/2002; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr,
Handbuch der Rentenversicherung, § 77 SGB VI RdNr 18 f mit Beispiel; Stand 12/2005;
unklar hingegen Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, § 77 SGB
VI Anm 4, Stand 5/2005). Insoweit handelt es sich um eine "Schutzvorschrift" zu Gunsten des
Versicherten, die es ihm ermöglicht, bei Inanspruchnahme einer späteren Rente einen
höheren Zugangsfaktor als den bei der früher gewährten Rente zu erhalten, und ihn vor
einem "immerwährenden Abschlag" schützt.
24 Infolge des § 77 Abs 2 Satz 3 SGB VI bestimmt sich der Zugangsfaktor für eine spätere
Rente demnach wiederum allein nach § 77 Abs 2 Satz 1 SGB VI. Etwas anderes gilt nur
dann, wenn die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit über das 60. Lebensjahr hinaus
bezogen wird und sich daran nahtlos eine Folgerente anschließt. Zwar handelt es sich bei
Folgerenten um eigenständige Leistungsansprüche mit eigenen, ggf neu zu ermittelnden
Berechnungsfaktoren. Damit aber die Dauerwirkung des Abschlags aus der Vorrente
gewährleistet bleibt, ordnet § 77 Abs 3 Satz 1 SGB VI die Übernahme des bisherigen
Zugangsfaktors in die Berechnung der Folgerente an (vgl hierzu im Einzelnen Schmitz, LVA
Rheinprovinz Mitteilungen 2003, 142 ff) . Sachlicher Hintergrund für diese
Ausnahmeregelung ist der Umstand, dass Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
gemäß § 102 Abs 2 SGB VI grundsätzlich nur auf Zeit und längstens für drei Jahre gewährt
werden (so auch Bredt, NZS 2007, 194) .
25 dd) Gestützt wird dieses Normverständnis durch die Regelung des § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2
SGB VI. Danach wird der Zugangsfaktor für EP, die Versicherte bei einer Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Zugangsfaktor kleiner als 1,0 nach Ablauf des
Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Ende des Kalendermonats
der Vollendung des 63. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,003 je
Kalendermonat erhöht. Die Normierung dieses "Zuschlags" nach Ablauf des
Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bei einem Zugangsfaktor "kleiner als
1,0" wäre sinnlos, hätte die gesetzgeberische Absicht tatsächlich darin bestanden, die
Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf die Zeit
ab dem 60. Lebensjahr zu beschränken (zutreffend Mey, RVaktuell 2007, 47) .
26 b) Auch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für die Auffassung, dass in § 77 Abs 2 SGB
VI "Rentenabschläge" in Folge der Minderung des Zugangsfaktors auch für Zeiten des
Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor der Vollendung des 60. Lebensjahres geregelt
sind.
27 § 77 SGB VI wurde neu gefasst durch Art 1 Nr 22 RRErwerbG vom 20.12.2000 (BGBl I 1827)
. Nach der bisherigen Fassung waren EP bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
und bei Renten wegen Todes in vollem Umfang (Zugangsfaktor 1,0) zu berücksichtigen.
Einen "Abschlag" sah das Gesetz nur bei der vorzeitigen Inanspruchnahme von Altersrenten
vor.
28 Mit dem RRErwerbG wurde das Ziel verfolgt, die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die
Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten anzupassen, und zwar bei
gleichzeitiger Verlängerung der Zurechnungszeit bis zum 60. Lebensjahr (vgl BT-Drucks
14/4230 S 23 f, II Nr 3) . Mit der Umsetzung dieses Ziels folgte der Gesetzgeber einer
Aufforderung des Bundesrates, der bereits im Jahr 1989 in seiner Stellungnahme zum RRG
1992 die Bundesregierung aufforderte, eine Änderung des Rechts der
Erwerbsminderungsrenten vorzubereiten, die verhindern sollte, dass die im RRG 1992
angeordnete Heraufsetzung der Altersgrenzen unterlaufen wird (vgl BR-Drucks 120/89 S 8) .
Dabei ging es dem Gesetzgeber des RRErwerbG nur um eine "Anpassung" und nicht um
eine "Gleichbehandlung"; denn bei einer vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente
kann der "Abschlag" bis zu 18 % betragen (vgl zur Anhebung der Altersgrenzen bei der
Altersrente BSG SozR 4-2600 § 237 Nr 1 mwN) . Dass der Gesetzgeber nur eine
Anpassung, nicht aber eine Gleichbehandlung der Erwerbsminderungsrenten mit den
vorzeitigen Altersrenten beabsichtigte, findet seinen Ausdruck zum einen darin, dass die
maximale Rentenabsenkung durch den geminderten Zugangsfaktor nur 10,8 % beträgt. Zum
anderen wird der Versicherte mit Hilfe der Erhöhung der Zurechnungszeit bis zur Vollendung
des 60. Lebensjahres (vgl §§ 59 Abs 1 und 2, 253a SGB VI) jetzt so gestellt, als ob er bis zur
Vollendung des 60. Lebensjahres weitergearbeitet hätte; dann aber hätte er - bei einer
vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente - einen Abschlag von bis zu 18 % in Kauf
nehmen müssen (vgl BT-Drucks 14/4230 S 23, II Nr 3).
29 Mit der Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in
Anspruch genommenen Altersrenten wollte der Gesetzgeber zwar einerseits
Ausweichreaktionen in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenwirken,
wie sich in der Gesetzesbegründung zu § 77 SGB VI zeigt (vgl BT-Drucks 14/4230 S 26 zu
Nr 22) . Andererseits sollten die Vorteile eines längeren Rentenbezuges durch einen
verminderten Zugangsfaktor ausgeglichen werden, dessen Wirkung jedoch für
erwerbsgeminderte Versicherte und deren Hinterbliebene durch die Verlängerung der
Zurechnungszeit gemildert werden sollte (vgl § 59 Abs 2 Satz 2, § 63 Abs 5 SGB VI idF des
RRErwerbG; BT-Drucks 14/4230 S 26 zu Nr 16) . Der Vorteil einer früheren
Inanspruchnahme einer Rente liegt (statistisch gesehen) darin, dass die Rentensumme
desto höher ist, je länger die Rentenlaufzeit insgesamt ist. Ein früher Renteneintritt bedeutet
somit eine Mehrbelastung der Versichertengemeinschaft, die durch einen abgesenkten
Zugangsfaktor begrenzt werden soll. Ziel ist es, dass der Gesamtwert der lebenslangen
Rente unabhängig vom Rentenbeginn im statistischen Durchschnitt gleich hoch ist (vgl
Ohsmann/Stolz/Thiede, DAngVers 2003, 172; Ruland in GK-SGB VI, § 63 RdNr 53 f, Stand
9/2006). Denn die möglichst frühzeitige Inanspruchnahme einer Rente entspricht nicht dem
eine Versicherung prägenden Prinzip der Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung. Eine
wesentliche Durchbrechung dieses Äquivalenz- bzw Versicherungsprinzips lag im früheren
Recht darin, dass Versicherte die Altersrente ohne Abschlag bis zu fünf Jahren vor der
regulären Altersgrenze erhalten konnten und durch den "statistisch" verlängerten
Rentenbezug die insgesamt zu zahlende Rentensumme beträchtlich erhöhten. Das
Äquivalenzprinzip kommt durch die Neuregelung des § 63 Abs 5 SGB VI durch das
RRErwerbG deutlicher zum Ausdruck als bisher (vgl Ruland, aaO vor §§ 63 ff RdNr 14 ff,
Stand 9/2006) . Dass die Stärkung des Äquivalenzprinzips auf die Fälle des Rentenbezugs
nach Vollendung des 60. Lebensjahres beschränkt und der Vorteil einer längeren
Rentenbezugsdauer erst ab diesem Zeitpunkt ausgeglichen werden sollte, lässt sich weder
dem Wortlaut des § 63 Abs 5 SGB VI noch sonstigen Anhaltspunkten im Gesetz entnehmen.
30 Die Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in
Anspruch genommenen Altersrenten wird durch die Verlängerung der Zurechnungszeit nach
§ 59 Abs 2 Satz 2 SGB VI begrenzt (vgl die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr.
Ruland im Rahmen der 57. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am
20.10.2000, Prot 14/57 S 8; BT-Drucks 14/4230 S 23 f, II Nr 3) . Bei Inanspruchnahme einer
Rente wegen Erwerbsminderung im Alter von 56 Jahren und acht Monaten ergibt sich
danach bei einem "Eckrentner" eine um 3,3 % niedrigere Rente. Je mehr sich der
Versicherte der Altersgrenze von 60 Jahren nähert, desto höher ist der effektive Abschlag bis
maximal 10,8 %. Gerade bei diesen altersrentennahen Versicherten sind zusätzliche
Anträge auf Erwerbsminderungsrente zu befürchten, um der maximal 18-prozentigen
Minderung einer vorzeitigen Altersrente auszuweichen. Es wäre jedoch insbesondere vor
dem Hintergrund des Art 3 Abs 1 GG nicht gerechtfertigt, die längere Rentenbezugsdauer
nur bei der Gruppe der altersrentennahen Versicherten zu berücksichtigen, sodass sich die
allmähliche Steigerung der Rentenminderung, je näher sich die Betroffenen der Vollendung
des 60. Lebensjahres nähern, und ihre Verringerung, je länger das 60. Lebensjahr bereits
hinter dem Versicherten liegt, ein in sich schlüssiges Konzept darstellt (ebenso Mey,
RVaktuell 2007, 48) .
31 c) Der weitere systematische und rechtspolitische Gesamtzusammenhang spricht ebenfalls
für dieses Normverständnis. Die Anhebung des Renteneintrittsalters, beginnend mit dem
RRG 1992, und die Minderung des Zugangsfaktors ist Teil einer Gesamtstrategie zur
Sicherung der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung und Reaktion auf die
demografische Entwicklung (vgl diesbezüglich die Begründung zum RV-
Altersgrenzenanpassungsgesetz, BT-Drucks 16/3794 S 1) . Die stufenweise Anhebung des
Renteneintrittsalters dient einer sozial angemessenen und finanziell tragfähigen
Alterssicherungspolitik und ist nach Ansicht der Bundesregierung ein wichtiger Beitrag zu
mehr Wachstum und Beschäftigung (vgl dazu Nationaler Strategiebericht Sozialschutz und
soziale Eingliederung vom 9.8.2006 der Bundesregierung, BR-Drucks 583/06 S 33) . Die
Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme von Renten wegen
Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres bei gleichzeitiger Verlängerung
der Zurechnungszeit ist Teil dieser Gesamtstrategie. Bei den § 59 Abs 2 Satz 2, § 63 Abs 5,
§§ 77, 253a, 264c SGB VI handelt es sich um ein aufeinander abgestimmtes "Gesamtpaket"
(vgl Klattenhoff in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 253a RdNr 2; Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI, K §
264c RdNr 4 f) . Dies findet auch seinen Ausdruck in der Anlage 23, die übergangsweise
sowohl für die Bestimmung des Zugangsfaktors (§ 264c SGB VI) als auch für die Anhebung
der Zurechnungszeit (§ 253a SGB VI) anzuwenden ist. Danach mindert sich der
Zugangsfaktor je nach Rentenbeginn in abgestuften Schritten, die jeweils der ebenfalls
stufenweise angeordneten Verlängerung der Zurechnungszeit entsprechen.
32 Aus einem weiteren Grund kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber
den abgesenkten Zugangsfaktor erst ab dem vollendeten 60. Lebensjahr bei den
Versicherten hat einführen wollen, deren Rente vor dem 60. Lebensjahr begonnen hat und
darüber hinaus zu zahlen ist. Ungeachtet möglicher verfassungsrechtlicher Bedenken
verstieße die Minderung einer laufenden Erwerbsminderungsrente ab Vollendung des 60.
Lebensjahres (vgl BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3, jeweils RdNr 37) bereits gegen
den Grundsatz des § 88 Abs 1 Satz 2 SGB VI, wonach die in einer zuvor festgestellten Rente
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ermittelten EP auch für eine Folgerente zu
übernehmen sind, wenn diese innerhalb von 24 Kalendermonaten nach der
Erwerbsminderungsrente beginnt (so auch von Koch/Kolakowski, SGb 2007, 73; Plagemann
in jurisPR-SozR 20/2006 Anm 4). Laufende Renten werden demnach nicht neu berechnet
oder gekürzt, auch dann nicht, wenn eine Rente wegen Erwerbsminderung in eine
Altersrente übergeht. Bei einer vom Gesetzgeber gewollten Durchbrechung dieser
Grundsätze wären deutliche Hinweise, wenn nicht im Gesetzeswortlaut, so zumindest in der
Gesetzesbegründung zu erwarten gewesen.
33 Als Fortführung der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention ist auch die Einfügung von
Abs 4 in § 77 SGB VI durch Art 1 Nr 23 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom
20.4.2007 (BGBl I 554) ab dem 1.1.2008 zu werten (vgl zum Inkrafttreten Art 27, zur
Neufassung des § 264c s Art 1 Nr 72 des genannten Gesetzes) , der in der ab 1.1.2008
geltenden Fassung (nF) lautet: "Bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei
Hinterbliebenenrenten, deren Berechnung 40 Jahre mit den in § 51 Abs. 3a und 4 und mit
den in § 52 Abs. 2 genannten Zeiten zugrunde liegen, sind die Absätze 2 und 3 mit der
Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle der Vollendung des 65. Lebensjahres die
Vollendung des 63. Lebensjahres und an die Stelle der Vollendung des 62. Lebensjahres
die Vollendung des 60. Lebensjahres tritt." In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu (vgl
BT-Drucks 16/3794 S 36 zu Nr 23) : "In Anlehnung an die Regelung für Versicherte, die nach
45 Pflichtbeitragsjahren abschlagsfrei in die neue Altersrente für besonders langjährig
Versicherte gehen können, wird für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eine
besondere Regelung für Versicherte getroffen, die 40 Pflichtbeitragsjahre zurückgelegt
haben. Für sie verbleibt es beim bisherigen Recht. Entsprechendes gilt für
Hinterbliebenenrenten. Übergangsregelung ist § 264c."
34 Wollte man der Auffassung des 4. Senats folgen (vgl nochmals BSGE 96, 209 = SozR 4-
2600 § 77 Nr 3, jeweils RdNr 37) , wonach der "Rentenabschlag" erst ab Vollendung des 60.
Lebensjahres greifen soll, so würde die Vertrauensschutzregelung des § 77 Abs 4 SGB VI
nF in ihr Gegenteil verkehrt: Versicherte mit mindestens 40 Pflichtbeitragsjahren würden
durch die Herabsetzung des 62. auf das 60. Lebensjahr nicht begünstigt, sondern
benachteiligt, obwohl es für diesen Personenkreis beim bisherigen Recht bleiben soll.
35 3. Entgegen der Ansicht des Klägers verstößt die Regelung des § 77 Abs 2 SGB VI nicht
gegen das GG.
36 a) Der Kläger ist nicht dadurch in seinem Grundrecht aus Art 14 Abs 1 GG
(Eigentumsgarantie) verletzt, dass bei der Berechnung des Monatsbetrags seiner Rente
wegen Erwerbsminderung statt eines Zugangsfaktors von 1,0 ein Zugangsfaktor von 0,892
(Abschlag von 10,8 %) zu Grunde gelegt wird.
37 aa) Rentenansprüche und -anwartschaften werden vom verfassungsrechtlichen
Eigentumsschutz nach Art 14 Abs 1 GG erfasst (vgl zuletzt BVerfGE 117, 272, 292 = SozR 4-
2600 § 58 Nr 7 RdNr 50 mwN; stRspr) . Der Schutzbereich des Art 14 Abs 1 GG ist
vorliegend dadurch tangiert, dass im Vergleich zur früheren Rechtslage mit der
Rechtsänderung durch das RRErwerbG eine Verschlechterung für den Kläger insoweit
eingetreten ist, als nunmehr bei einer Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres der Zugangsfaktor gemindert wird.
Dass der Gesetzgeber die EP als solche nicht gekürzt hat, ändert am Ergebnis einer
Verschlechterung der bisherigen Rechtsposition nichts (vgl zur Kürzung von EP zuletzt BSG
SozR 4-2600 § 237 Nr 11; BSGE 85, 161, 164 ff mwN = SozR 3-5050 § 22 Nr 7) .
38 Der Kläger wird jedoch nicht in seinem Grundrecht aus Art 14 GG verletzt. Bei der in Streit
stehenden Vorschrift handelt es sich um eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung
des Gesetzgebers. Der Eingriff in die Rechtsposition des Klägers erweist sich gemessen an
der gesetzgeberischen Zielsetzung als geeignet und erforderlich und ist andererseits
gemessen an der vom Kläger erworbenen Rechtsposition sowie Art und Umfang seiner
Beitragsleistung verhältnismäßig und zumutbar.
39 bb) Eingriffe in rentenrechtliche Anwartschaften sind zulässig, wenn sie einem
Gemeinwohlzweck dienen und verhältnismäßig sind. Dabei verengt sich die
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in dem Maße, in dem Rentenanwartschaften durch
den personalen Anteil eigener Leistungen der Versicherten geprägt sind (vgl zuletzt
BVerfGE 117, 272, 294 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 54 mwN; stRspr) . Die eigene
Leistung findet vor allem in einkommensbezogenen Beitragszahlungen ihren Ausdruck. Sie
rechtfertigt es, dass der durch sie begründeten rentenrechtlichen Rechtsposition ein höherer
Schutz gegen staatliche Eingriffe zuerkannt wird als einer Anwartschaft, soweit sie nicht auf
Beitragsleistungen beruht (vgl hierzu BVerfGE 116, 96, 122 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr
81; BVerfGE 100, 1, 33 = SozR 3-8570 § 10 Nr 3; kritisch zur Zuordnung der
Zurechnungszeit zum Eigentumsschutzbereich im Hinblick auf das Erfordernis der
"Eigenleistung" Plagemann in jurisPR-SozR 20/2006 Anm 4) . Knüpft der Gesetzgeber an
ein bereits bestehendes Versicherungsverhältnis an und verändert er die in dessen Rahmen
begründete Anwartschaft zum Nachteil des Versicherten, so ist darüber hinaus ein solcher
Eingriff am rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes zu messen, der für die
vermögenswerten Güter und damit auch für die rentenrechtliche Anwartschaft in Art 14 GG
eine eigene Ausprägung erfahren hat (vgl zuletzt BVerfGE 117, 272, 294 = SozR 4-2600 §
58 Nr 7 RdNr 55 mwN) .
40 Mit den in Frage stehenden Regelungen des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3, Satz 2 und 3 SGB VI
idF des RRErwerbG hat der Gesetzgeber zum einen der Gefahr Rechnung getragen, dass
im Hinblick auf die gesetzlich normierten Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme von
Altersrenten unverhältnismäßig viele Anträge auf Erwerbsminderungsrenten zu befürchten
waren. Zum anderen hat er das Ziel verfolgt, das Versicherungsrisiko der unterschiedlich
langen Rentenbezugsdauer mit Hilfe versicherungsmathematischer Abschläge zu
neutralisieren (vgl Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 77 RdNr 26) . Bereits anlässlich des
RRG 1992 wurde die Bundesregierung vom Bundesrat aufgefordert, das Recht der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu reformieren und dabei der Gefahr zu begegnen,
dass die im RRG 1992 normierte Heraufsetzung der Altersrenten unterlaufen wird (vgl BR-
Drucks 120/89 S 8) . Dem Kläger ist zuzustimmen, dass ein Versicherter es letztlich nicht in
der Hand hat, den Zeitpunkt einer rentenberechtigenden Erwerbsminderung selbst zu
bestimmen. Jedoch kann es bei länger währender Arbeitslosigkeit im rentennahen Alter
ebenfalls kaum noch praktische Alternativen zu einem Antrag auf vorgezogene Altersrente
mit Rentenabschlägen geben; bei Entlassungen gegen Abfindung kann sogar eine
arbeitsrechtliche Verpflichtung zu einem solchen Antrag bestehen. Für die
verfassungsrechtliche Beurteilung der in Frage stehenden Rentenminderung darf dieser
Gesichtspunkt daher nicht überbewertet werden.
41 Die mit dem RRErwerbG normierte Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme
einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres
stellt allein schon deshalb eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung dar, weil sie
ersichtlich dazu dient, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung im
Interesse aller zu erhalten und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen.
Hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen der im RRErwerbG vorgesehenen Maßnahmen
ist ua ausgeführt (BT-Drucks 14/4230 S 2) : "Aus der Beseitigung der sozialen Härten bei
den Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bedingt durch die landwirtschaftliche
Ausnahmeregelung zur Ökosteuer ergeben sich in der Rentenversicherung um 1 bis 2
Zehntel höhere Beitragssätze. Dadurch ergeben sich für den Bund höhere Ausgaben für den
allgemeinen Bundeszuschuss, Beiträge für Kindererziehungszeiten und für
Arbeitslosenhilfeempfänger sowie Entlastungen durch die landwirtschaftliche
Ausnahmeregelung. Insgesamt wird der Bund im Zeitraum 2001 bis 2004 um 1,5 Mrd. DM
entlastet."
42 Im Bereich der Rentenversicherung wurde eine Entlastung von knapp 0,5
Beitragssatzpunkten angestrebt, wobei wegen der Umgestaltung der Renten wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit der um 0,1 Prozentpunkt höhere Beitragssatz berücksichtigt
wurde (vgl BT-Drucks 14/4230 S 36 mit Tabelle Nr 1) . Sind allein die finanziellen
Erwägungen ein legitimer Grund für den Eingriff, so kann offen bleiben, ob auch andere mit
der Regelung vom Gesetzgeber verfolgte Ziele für sich oder zusätzlich die in Frage stehende
Regelung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE 117, 272, 297 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr
63) .
43 cc) Die im öffentlichen Interesse liegende Minderung des Zugangsfaktors bei
Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63.
Lebensjahres war auch verhältnismäßig im weiteren Sinne (dh geeignet, erforderlich und
zumutbar).
44 Die Regelung war geeignet, die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele zu erreichen. Ihm steht
- wie dies das BVerfG erneut in seinem Beschluss vom 27.2.2007 (BVerfGE 117, 272, 295 f
= SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 58 f) zum Ausdruck gebracht hat - im
Sozialversicherungsrecht wie in allen komplexen, auf künftige Entwicklungen ausgelegten
Rechtsbereichen ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Bei der Ausgestaltung der
Versicherungsverhältnisse benötigt der Rentengesetzgeber Flexibilität, die ihm nach der
Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich nicht verwehrt werden kann. Mit Rücksicht
auf das unterschiedliche Versicherungsrisiko von in niedrigerem oder höherem Alter
beginnenden Renten und auf die dadurch gebotene Annäherung von Erwerbsminderungs-
und Altersrenten bewegt sich die Vorschrift über die Absenkung des Zugangsfaktors bei
Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres
innerhalb dieses verfassungsrechtlichen Einschätzungsspielraums.
45 Die Regelung genügt auch dem Gebot der Erforderlichkeit. Es ist nicht ersichtlich, dass der
Gesetzgeber ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht des Klägers nicht oder
doch weniger einschränkendes Mittel hätte wählen können. Der Gesetzgeber kann
insbesondere nicht darauf verwiesen werden, eine Einsparung in anderen, von dem
betroffenen Gesetz nicht erfassten Bereichen zu erzielen (vgl BVerfG SozR 4-5050 § 22
RdNr 91 mwN; stRspr) . Unter dem Gesichtspunkt des Erforderlichkeitsgrundsatzes war er
nicht verpflichtet, auf andere Maßnahmen auszuweichen, insbesondere - im Rahmen der
verfassungsrechtlichen Grenzen - die Beitragssätze zu erhöhen, die Bestandsrenten
abzusenken oder auf eine Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung zu
verzichten. Ebenso wenig war er, um dem Erforderlichkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen,
gehalten, einen höheren Bundeszuschuss vorzusehen und ggf für diesen Zweck Steuern
einzuführen oder zu erhöhen.
46 Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres ist für den Kläger auch zumutbar.
Hierbei ist zu beachten, dass beim Kläger kein Eingriff in einen schon bestehenden
Rentenanspruch vorgenommen wird. Allerdings hat das Gesetz in seine Rentenanwartschaft
eingegriffen. Anwartschaften sind aber wegen des großen Zeitraums zwischen ihrem Erwerb
und der Aktivierung des Rentenanspruchs naturgemäß stärker einer Veränderung der für die
Rentenberechnung maßgeblichen Verhältnisse unterworfen (vgl BSGE 92, 206 = SozR 4-
2600 § 237 Nr 1, jeweils RdNr 43) und genießen nicht denselben eigentumsrechtlichen
Schutz wie die Rente. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der
Gesetzgeber durch die Übergangsregelung des § 264c SGB VI (iVm der Anlage 23 des SGB
VI; jeweils in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) und die Kompensation über die
verlängerte Zurechnungszeit nach §§ 59, 253a SGB VI die Wirkung der Absenkung des
Zugangsfaktors abgemildert hat (zur Aufhebung der Anlage 23 und der Neufassung des §
264c SGB VI ab dem 1.1.2008 s Art 1 Nr 72 und 83 des RV-
Altersgrenzenanpassungsgesetzes) . Die den Eingriff in die Rentenanwartschaft mindernde
Wirkung der Anhebung der Zurechnungszeit wirkt sich gerade beim Kläger deutlich aus und
führt im Ergebnis dazu, dass an Stelle der durch die Absenkung des Zugangsfaktors
bewirkten Minderung um 142,59 Euro, der Rentenzahlbetrag im Ergebnis nur 44,66 Euro
weniger beträgt. Der Senat verkennt nicht, dass dies immer noch eine Einbuße von ca 3,8
vH bedeutet, die aber im Hinblick auf die Einbußen anderer Versicherter zumutbar ist. Der
um 3,8 vH herabgesenkte Rentenbetrag führt noch nicht zu wesentlichen, unzumutbaren
Einschränkungen im Lebensstandard des Versicherten, wie er ihn aufgrund seines
durchschnittlichen Verdienstes im aktiven Erwerbsleben aufbauen konnte.
47 dd) Die Neuregelung durch das RRErwerbG genügt auch dem verfassungsrechtlichen
Grundsatz des Vertrauensschutzes. Dabei kann offen bleiben, ob sich dieser Grundsatz bei
Rentenanwartschaften aus Art 14 Abs 1 GG ergibt oder aus Art 2 Abs 1 iVm dem
Rechtsstaatsgebot des Art 20 Abs 3 GG hergeleitet wird (vgl BSGE 92, 206 = SozR 4-2600 §
237 Nr 1 jeweils RdNr 44 mwN) .
48 Die hier für den Eingriff - Absenkung des Zugangsfaktors - maßgebliche Regelung des § 77
Abs 2 Nr 3 SGB VI idF des RRErwerbG greift nicht im Sinne einer (echten) Rückwirkung zu
Ungunsten des Klägers in eine Rechtsposition ein, die dieser bereits vor Inkrafttreten am
1.1.2001 (vgl Art 24 Abs 1 RRErwerbG) inne hatte. Im Übrigen ist hierbei zu berücksichtigen,
dass der Bundesrat bereits im April 1989 die Bundesregierung aufgefordert hatte, der Gefahr
zu begegnen, dass die im RRG 1992 vorgesehene Heraufsetzung der Altersgrenzen
unterlaufen wird. Die Änderung der Rechtslage war für die Versicherten daher nicht völlig
überraschend.
49 b) Die Regelungen des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3, Satz 2 und 3 SGB VI verstoßen auch nicht
gegen Art 3 Abs 1 GG.
50 Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu
behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von
Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl
zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht
bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten (BVerfGE 75, 348, 357 =
SozR 2200 § 555a Nr 3, stRspr) ; entsprechendes gilt für eine Gleichbehandlung trotz
Bestehens gewichtiger Unterschiede.
51 Im Hinblick auf die Versichertengruppe, die wegen eines Rentenbeginns vor dem 1.1.2001
nicht von der Absenkung des Zugangsfaktors betroffen war, ist die unterschiedliche
Behandlung durch hinreichende sachliche Gründe gerechtfertigt. Sowohl das vorrangige Ziel
der Vermeidung von Vor- und Nachteilen einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer als
auch das Ziel der Vermeidung von Ausweichreaktionen von rentenberechtigten Versicherten
von der Altersrente auf die Rente wegen Erwerbsminderung sind sachlich rechtfertigende
Gründe für die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer
Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres. Ohne die entsprechenden
Maßnahmen des RRErwerbG wären sowohl die Altersgrenzenanhebung des RRG 1992 als
auch das Vorziehen und Beschleunigen dieser Anhebung im Wachstums- und
Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25.9.1996 (BGBl I 1461) in ihrer Wirkung
gefährdet gewesen.
52 c) Ein Verstoß gegen Art 3 Abs 3 Satz 2 GG liegt ebenfalls nicht vor.
53 Art 3 Abs 3 Satz 2 GG bezweckt die Stärkung der Stellung behinderter Menschen in Recht
und Gesellschaft. Sie enthält ein Gleichheitsrecht zu Gunsten Behinderter sowie einen
Auftrag an den Staat, auf die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen hinzuwirken
(vgl Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl 2007, Art 3 RdNr 142) . Es ist bereits fraglich, ob der
Schutzbereich des Grundrechts, der zunächst eine Ungleichbehandlung voraussetzt, tangiert
ist. Jedenfalls liegt eine Benachteiligung wegen Behinderung nicht vor. Die Absenkung des
Zugangsfaktors nach § 77 Abs 2 SGB VI betrifft seit dem RRErwerbG alle Rentenarten,
wenn die jeweilige Rente vor der im Gesetz normierten Altersgrenze in Anspruch genommen
wird. Damit sollen Vor- und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer bei allen
Rentenarten ausgeglichen werden. Eine Benachteiligung des Klägers wegen einer
Behinderung liegt somit nicht vor.
54 4. Unter Zugrundelegung der hier vertretenen Auffassung wäre die Revision des Klägers
mithin zurückzuweisen. Eine Entscheidung in diesem Sinne ist dem Senat jedoch nicht ohne
Abweichung von dem Urteil des 4. Senats vom 16.5.2006 (BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 §
77 Nr 3) möglich.
55
55 In dem vom 4. Senat entschiedenen Fall hatte die im August 1960 geborene Klägerin ein
Recht auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und begehrte von der Beklagten für
Bezugszeiten ab dem 1.3.2003 die Berechnung der Rente unter Zugrundelegung des
Zugangsfaktors 1,0. Sie beanstandete, dass die Beklagte den Zugangsfaktor auf 0,919
abgesenkt hatte. Der 4. Senat hat der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage auf
Zahlung einer höheren Rente stattgegeben. Dabei hat er ua ausgeführt (aaO, RdNr 21 ff) :
"Nach dieser Vorschrift gibt es drei Gruppen von Erwerbsminderungsrentnern:
-
Erstens die 63- bis 65-jährigen, die keine Kürzung ihrer Vorleistung hinnehmen müssen
...
-
Zweitens ältere Rentner, bei denen der Versicherungsfall der 'Erwerbsminderung' zwar
vor Vollendung des 63. Lebensjahres, aber erst eingetreten ist, als sie älter als 35 Jahre
und zwei Monate waren. Diese müssen für jeden Monat der 'vorzeitigen
Renteninanspruchnahme' eine Minderung des Zugangsfaktors ('Rentenabschlag') um
0,003 hinnehmen.
-
Drittens die Versicherten, die im Alter von 35 Jahren und zwei Monaten oder früher nach
Erfüllung der Wartezeit einen der Versicherungsfälle der Sparte der
Erwerbsminderungsversicherung erleiden; sie erhalten keine Rente. Denn bei ihnen ist
gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI idF des RRErwerbG (333,3 Periode an
Kalendermonaten mal 0,003 = 1) der gesamte Zugangsfaktor abgeschmolzen und
deshalb überhaupt keine Vorleistung mehr anzurechnen (Zugangsfaktor 0,0) mit der
Folge, dass dieses Recht (als nudum ius) keinen Geldwert mehr hat.
Diese Regelung ist schon deshalb in sich schlechthin objektiv willkürlich, wenn man sie
nicht verfassungskonform auf die Anordnung reduziert, dass zwischen einer
'Regelerwerbsminderungsrente', die nach Vollendung des 63. Lebensjahres (anders als die
flexible AlR nach § 36 SGB VI) 'abschlagsfrei' zusteht, und 'vorzeitigen
Erwerbsminderungsrenten' zu unterscheiden ist. § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI stellt somit
klar, dass es 'vorzeitige' Erwerbsminderungsrenten bei Rentenbeginn 'vor' dem 64.
Lebensjahr gibt, lässt aber offen, wann der 'Vorzeitigkeitszeitraum' beginnt.
Den Beginn der 'Vorzeitigkeit' regelt ausdrücklich § 77 Abs 2 Satz 2 (und Satz 3 - dazu
sogleich) SGB VI idF des RRErwerbG. Die Vorschrift legt - wie bei den AlRn - den frühesten
Beginn der 'Vorzeitigkeit' auf die Vollendung des 60. Lebensjahres fest.
... Das Gesetz schließt ausdrücklich einen verringerten Zugangsfaktor ('Rentenabschlag') für
Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus.
... Vielmehr legt dieses fest, dass Erwerbsminderungsrenten erst dann eine 'Bestimmung des
Zugangsfaktors' (also einer von 1,0 abweichenden Festsetzung) unterworfen sind, wenn der
Rentner 'das 60. Lebensjahr vollendet hat' und damit erstmals ein Ausweichen vor
Abschlägen bei Altersrenten überhaupt theoretisch möglich wird."
56 Diese Auffassung ist für die Entscheidung des 4. Senats insoweit tragend, als dieser die
Anfechtungsklage für zulässig und begründet erachtet hat. Die Rechtsauffassung des 4.
Senats ist mit der Rechtsauffassung des erkennenden Senats nicht zu vereinbaren. Auf den
Fall des Klägers angewandt, würde sie bedeuten, dass auf die Revision des Klägers das
Urteil des SG Aachen vom 9.2.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen wäre, eine
höhere Rente unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors 1,0 zu leisten.
57 5. Zwar kann der 4. Senat wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit
Wirkung zum 1.1.2008 mit dieser Rechtsfrage nicht mehr befasst werden. Der 13. Senat ist
aber nach dem Geschäftsverteilungsplan in der ab 1.1.2008 gültigen Fassung wie auch der
erkennende Senat an die Stelle des 4. Senats getreten. Der erkennende Senat kann somit
nicht allein die bisherige Rechtsprechung des 4. Senats aufgeben, sodass gemäß § 41 Abs
3 Satz 1 und 2 SGG beim 13. Senat des BSG anzufragen ist, ob dieser an der
Rechtsauffassung des 4. Senats festhält.