Urteil des BSG vom 02.10.2008

BSG (bvg, antrag, wiedereinsetzung in den vorigen stand, europäischer gerichtshof für menschenrechte, sgg, gegenstand des verfahrens, gerichtshof für menschenrechte, pflegezulage, leistung, verwaltungsakt)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 2.10.2008, B 9 VH 1/07 R
Kriegsopferversorgung - Beschädigtenversorgung - Schwerstbeschädigtenzulage -
Zugunstenverfahren - nachträgliche Leistungsgewährung - Leistungsbeginn -
wesentliche Änderung der Verhältnisse - überlange Verfahrensdauer
Leitsätze
1. Die in § 48 Abs 4 S 1 iVm § 44 Abs 4 SGB 10 vorgesehene strikte zeitliche Grenze einer
nachträglichen Leistungsgewährung wird im sozialen Entschädigungsrecht durch den auf die
individuellen Verhältnisse des Betroffenen abstellenden § 60 Abs 2 BVG verdrängt.
2. Wird ein Grundrentenbescheid gemäß § 44 Abs 1 SGB 10 teilweise zurückgenommen, so
sind bei der nachträglichen Leistungsgewährung alle seit dem damaligen Bescheid
eingetretenen, für den gesamten Versorgungsanspruch wesentlichen Änderungen der
Verhältnisse zu berücksichtigen.
3. Eine förmliche Feststellung einer Menschenrechtsverletzung durch überlange
Verfahrensdauer ist nach geltendem Recht ausgeschlossen; das Bundessozialgericht kann
jedoch im Rahmen seiner Revisionsentscheidung über das Vorliegen eines entsprechenden
vorinstanzlichen Verfahrensmangels befinden.
Tatbestand
1 In der Hauptsache ist noch die nachträgliche Gewährung von Geldleistungen der
Beschädigtenversorgung streitig.
2 Die Klägerin ist die Tochter des am 1901 geborenen und am 1987 verstorbenen S. L. Dieser
erhielt auf seinen Antrag vom 19.10.1956 mit Bescheid des Versorgungsamtes Köln vom
8.1.1957 nach dem Häftlingshilfegesetz (HHG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG)
wegen eines "Nährstoffmangelschadens nach langjähriger Inhaftierung" Beschädigtenrente
nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH. Dabei wurde ihm ua mitgeteilt,
dass die beginnende Verhärtung der Hauptkörperschlagader konstitutionell bedingt sei und
mit der Inhaftierung in keinem Zusammenhang stehe. Durch Bescheid vom 14.4.1959 stellte
das Versorgungsamt fest, dass die durch die Schädigungsfolge "Herzmuskelschaden"
bedingte MdE nunmehr 30 vH betrage. Ein nach einem Herzinfarkt gestellter
Rentenerhöhungsantrag des Beschädigten wurde durch Bescheid vom 24.3.1961 mit der
Maßgabe abgelehnt, dass die Schädigungsfolge "Herzmuskelschaden nach Dystrophie"
neu gefasst wurde.
3 Mit Schreiben vom 18.10.1984 teilte die Ehefrau des Beschädigten in dessen Auftrag dem
Versorgungsamt Köln mit, dass dieser aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage
sei, den Schriftverkehr selbst zu führen. Im November zögen sie nach Berlin. Daraufhin
wurden die Versorgungsakten vom Beklagten übernommen.
4 Am 4.3.1986 beantragte die Klägerin für den Beschädigten beim Bezirksamt Charlottenburg
von Berlin Hilflosenpflegegeld nach dem Berliner Gesetz über die Gewährung von
Leistungen an Zivilblinde, Gehörlose und Hilflose (ZGHG), das diesem nach ärztlicher
Begutachtung gewährt wurde.
5 Am 9.6.1986 erteilte der Beschädigte der Klägerin die notarielle Vollmacht, ihn in allen
vermögens- und personenrechtlichen Angelegenheiten vor Behörden und Privatpersonen zu
vertreten.
6 In dem für den Beschädigten beim Beklagten gestellten Formularantrag nach dem
Schwerbehindertengesetz (SchwbG) vom 14.10.1986 (Eingang am 20.10.1986) gab die
Klägerin als bestehende Behinderung ua "Herzmuskelschaden" … "gemäß HHG/BVG" mit
dem Klammerzusatz "seit Feststellung mehrere Infarkte hinzugekommen" an. Daraufhin
wurde mit Bescheid vom 24.11.1986 folgende Behinderung festgestellt:
a) Schädigungsfolgen nach dem HHG - Herzmuskelschaden nach Dystrophie -
b) Aphasie, Lese- und Schreibunfähigkeit bei Zustand nach Schlaganfall,
Herzminderleistung bei koronarer Herzkrankheit und Zustand nach mehreren
Herzinfarkten,
Harninkontinenz
bei
Prostatavergrößerung,
Verschleißerscheinungen am Skelettsystem, Sehminderleistung.
Der Grad der Behinderung (GdB) betrage 100; es lägen die Merkmale "B", "aG", "H" und
"RF" vor.
7 Nach dem Tode des Beschädigten beantragte seine Witwe am 7.12.1987 formlos
"Leistungen irgendwelcher Art aufgrund der … Rente des Verstorbenen". Die daraufhin
gestellten Formularanträge auf Leistungen an Hinterbliebene hatten nur teilweise Erfolg.
Während des anschließenden Klageverfahrens machte die Witwe mit Schreiben vom
4.10.1990 an den Beklagten geltend, dass schon der Erstbescheid vom 8.1.1957 und die
daran anschließenden Folgebescheide im Hinblick auf eine fehlende Anerkennung der
damals festgestellten Arteriosklerose fehlerhaft seien. Am 3.8.1993 erhob sie Klage auf
höhere Leistungen der Beschädigtenversorgung unter Aufhebung des Bescheides vom
24.3.1961. Dieses Verfahren wurde mit dem bereits anhängigen verbunden. Unter dem
5.8.1993 trat die Witwe des Beschädigten ihre Versorgungsansprüche an ihren Enkel und
Prozessbevollmächtigten C.-P. E. ab. Im Oktober 1993 rügte sie im Rahmen ihrer Klage
auch die Nichtbescheidung ihres Überprüfungsantrages betreffend die Bescheide vom
8.1.1957, 14.4.1959 und 24.3.1961. Nachdem das Sozialgericht Berlin (SG) die Klagen
insgesamt abgewiesen hatte (Urteil vom 26.11.1993) und die Klägerin nach dem Tode ihrer
Mutter (15.5.1994) als deren Alleinerbin in das Verfahren eingetreten war, lud das
Landessozialgericht (LSG) Berlin den Enkel des Beschädigten im Termin zur mündlichen
Verhandlung vom 5.5.1998 bei und wies die Berufung durch Urteil vom selben Tage zurück.
8 Während des anschließenden Revisionsverfahrens vor dem Bundessozialgericht (BSG)
lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.3.2000 eine Rücknahme der Bescheide vom
8.1.1957 und 14.4.1959 ab. Daraufhin erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich
der Untätigkeitsklage für erledigt. Durch Urteil des BSG vom 12.4.2000 wurde sodann das
Urteil des LSG wegen eines Verfahrensmangels aufgehoben und die Sache an dieses
Gericht zurückverwiesen, das die Berufung erneut zurückwies; die mit Einverständnis des
Beklagten in den Rechtsstreit einbezogene Klage gegen den Bescheid vom 31.3.2000 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.8.2000 wurde abgewiesen (Urteil des LSG
vom 15.4.2003). Die gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung
eingelegte Beschwerde des Beigeladenen führte zu einer erneuten Zurückverweisung
(Beschluss des BSG vom 25.3.2004).
9 Während des weiteren Verfahrens vor dem LSG trat der Beigeladene die
Versorgungsansprüche am 8.7.2005 an die Klägerin ab. Daraufhin hob das LSG Berlin-
Brandenburg die Beiladung auf (Beschluss vom 29.8.2006). Des Weiteren hob es durch
Teilurteil vom 29.8.2006 - soweit es die jetzt noch streitige Beschädigtenversorgung betrifft -
den Bescheid des Beklagten vom 31.3.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 25.8.2000 auf und verurteilte den Beklagten, den Bescheid vom 24.3.1961 aufzuheben
sowie den Bescheid vom 8.1.1957 idF des Bescheides vom 14.4.1959 zu ändern. Weiter
stellte es fest, dass die beim Beschädigten diagnostizierten arteriosklerotischen
Gefäßveränderungen Schädigungsfolgen im Sinne des HHG waren. In Ausführung dieser
Entscheidung erließ der Beklagte unter dem 14.2.2007 zwei Bescheide:
Zum einen nahm er den Bescheid vom 31.3.2000 idF des Widerspruchsbescheides vom
25.8.2000 gemäß § 44 SGB X mit Wirkung vom 1.1.1986 bis 31.12.1987 zurück und traf für
diesen Zeitraum folgende Zugunstenentscheidung:
Als weitere Schädigungsfolgen iS des § 4 HHG würden anerkannt:
"Aphasie mit Lese- und Schreibunfähigkeit nach Hirninfarkt;
Herzminderleistung
bei
koronarer
Herzkrankheit,
Herzrhythmusstörungen, allgemeine Gefäßsklerose".
Die Bezeichnung der Schädigungsfolgen laute nunmehr:
1. Aphasie mit Lese- und Schreibunfähigkeit nach Hirninfarkt
2. Herzmuskelschaden,
Herzminderleistung
bei
koronarer
Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen, allgemeine Gefäßsklerose.
Die durch diese Gesundheitsstörungen bedingte MdE betrage nach § 30 Abs
1 BVG vom 1.1.1986 bis 31.12.1987 100 vH.
10
Der zweite Verwaltungsakt erging nach § 48 SGB X im Anschluss an den auf § 44 SGB
X gestützten Bescheid. Darin wurde geregelt:
Durch die nunmehr beim Beschädigten anerkannten
Schädigungsfolgen, und zwar hervorgerufen durch schädigende
Einwirkungen iS des § 4 HHG, betrage die MdE nach § 30 Abs 1
BVG 100 vH. Die Höhe und die Art der Leistungen sei den Anlagen
zu entnehmen.
In diesen Anlagen wurden für die Zeit vom 1.1.1986 bis 31.12.1987 folgende
Leistungen berechnet:
Grundrente nach einer MdE von 100 vH
Schwerstbeschädigtenzulage Stufe I
Pflegezulage Stufe I
Halbe Ausgleichsrente
Ehegattenzuschlag.
11 Durch Zusatzbescheid vom 16.3.2007 ergänzte der Beklagte den Tenor des
Ausführungsbescheides vom 14.2.2007 dahingehend, dass der Bescheid vom 24.3.1961
aufgehoben und der Bescheid vom 8.1.1957 in der Fassung des Bescheides vom 14.4.1959
nach Maßgabe des Teilurteils vom 29.8.2006 geändert wurde.
12 Alle drei Bescheide enthalten die Rechtsmittelbelehrung, dass sie nach § 96 SGG
Gegenstand des anhängigen Streitverfahrens würden.
13 Mit Schreiben vom 7.6.2007 an das LSG hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis dahingehend
abgegeben, dass - jeweils für den Zeitraum vom 1.1.1986 bis 31.12.1987 - Pflegezulage
nach Stufe II, Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe III und ein Pauschbetrag für
Kleiderverschleiß nach der Bewertungszahl 53 gewährt würden. Dieses Anerkenntnis hat
die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 26.6.2007
angenommen. Sie hat sodann eine Verurteilung des Beklagten zur Gewährung der ihr
zuerkannten Leistungen schon ab Januar 1973 und einer höheren
Schwerstbeschädigtenzulage (Januar 1973 bis Juli 1980 nach Stufe III; August 1980 bis
Dezember 1987 nach Stufe V) beantragt. Durch Teil- und Schlussurteil des LSG vom
26.6.2007 ist der Bescheid des Beklagten vom 14.2.2007 idF des Zusatzbescheides vom
16.3.2007 - unter Klageabweisung im Übrigen - geändert und der Beklagte - zum Teil
aufgrund des Anerkenntnisses vom 7.6.2007 - verurteilt worden, der Klägerin (auch) für die
Zeit vom 1.1.1982 bis 31.12.1985 Beschädigtenrente nach einer MdE von 100 vH, einen
vollen Ehegattenzuschlag und die halbe Ausgleichsrente sowie für die Zeit vom 1.1.1982 bis
31.12.1987 Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe III, Pflegezulage nach Stufe II und
einen Pauschbetrag für Kleidermehrverschleiß nach Bewertungszahl 53 zu zahlen. Diese
Entscheidung ist auf folgende Erwägungen gestützt:
14 Die Klägerin sei zur Geltendmachung der Versorgungsansprüche aktivlegitimiert, die dem
Beschädigten zugestanden hätten. Ihre Mutter habe die dieser als Sonderrechtsnachfolgerin
des Beschädigten zustehenden Ansprüche an C.-P. E. abgetreten, der sie wiederum an die
Klägerin abgetreten habe. Die Witwe sei berechtigt gewesen, die dem Beschädigten
zustehenden Ansprüche auf Neufeststellung der Beschädigtenrente bzw Bewilligung
zusätzlicher Leistungen geltend zu machen. Sie habe mit ihrem Antrag vom 7.12.1987
ausdrücklich auch Leistungen aufgrund der Rente des Verstorbenen beantragt. Dieser
Antrag sei ua als Überprüfungsantrag zur Beschädigtenversorgung auszulegen gewesen.
Die Abtretung der Versorgungsansprüche sei mit dem Tod der Witwe rückwirkend wirksam
geworden. Mit diesem Zeitpunkt seien die einschränkenden Voraussetzungen des § 53 SGB
I weggefallen.
15 In dem Antrag des Beschädigten vom 4.3.1986 auf Leistungen nach dem ZGHG sei zugleich
ein Antrag auf Gewährung von Pflegezulage gemäß § 35 BVG zu erkennen. Bei dem
beantragten Pflegegeld handele es sich um eine subsidiäre Leistung. Das Bezirksamt habe
die Subsidiarität der Leistung zu prüfen und ggf den Antrag entsprechend § 16 Abs 2 SGB I
an das Versorgungsamt weiterzuleiten gehabt.
16 Auf der Grundlage des im März 1986 gestellten Antrags sei unter Berücksichtigung des
Teilanerkenntnisses des Beklagten Pflegezulage nach Stufe II für die Zeit ab 1.1.1982 zu
erbringen. Ein Anspruch für einen weiter in die Vergangenheit reichenden Zeitraum scheide
aus.
17 Der Beschädigte erfülle allerdings die Voraussetzungen, unter denen nach § 60 BVG
Leistungen für Zeiträume vor der Antragstellung zu erbringen gewesen seien. Denn er sei
seit Januar 1973 durch den damals erlittenen Schlaganfall gehindert gewesen, einen Antrag
auf höhere Versorgung zu stellen, da er seitdem unter Sprachstörungen gelitten habe,
insgesamt stark verlangsamt reagiert habe und psychisch sehr labil gewesen sei.
18 Der Annahme einer Verhinderung stehe nicht entgegen, dass die Ehefrau des Beschädigten
mit Schreiben vom 18.10.1984 mitgeteilt habe, nunmehr den Schriftwechsel mit der
Versorgungsbehörde selbst zu führen. Denn mit dem Schriftwechsel seien lediglich die sich
aus dem Versorgungsverhältnis ergebenden Mitwirkungspflichten erfüllt worden, eine
Änderung der Adresse und des Kontos mitzuteilen. Einen Auftrag, weitergehende Anträge zu
stellen, könne dem nicht entnommen werden. Ob die Witwe des Beschädigten oder die
Klägerin in der Lage gewesen wären, einen derartigen Antrag zu stellen, könne dahingestellt
bleiben, weil für Angehörige eine Rechtspflicht, Anträge zu stellen, deren schuldhafte
Nichterfüllung dem Berechtigten zuzurechnen wäre, nicht bestehe. Die Ehe begründe keine
gesetzliche Vertretungsmacht eines Ehegatten für den jeweils anderen. Entsprechendes
gelte für das Verhältnis zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern.
19 Die danach grundsätzlich gegebene Rückwirkung des Antrags auf Pflegezulage führe
jedoch nicht dazu, dass Leistungen für einen Zeitraum von mehr als vier Jahren vor dem
Beginn des Jahres der Antragstellung zu gewähren seien. Zwar beginne nach § 60 Abs 2
Satz 1 Halbsatz 2 BVG die höhere Leistung mit dem Monat, von dem an die Verhinderung
nachgewiesen sei, wenn der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Wegfall des
Hinderungsgrundes gestellt werde. Unter höherer Leistung sei insoweit die Erhöhung der
Gesamtleistung zu verstehen; hierzu gehöre auch die Gewährung weiterer Einzelleistungen.
Demnach seien für den Leistungszeitraum die Regelungen des § 48 Abs 4 SGB X zu
beachten. Denn in § 60 BVG sei lediglich der Beginn einer Leistung unter der
Voraussetzung geregelt, dass darüber erstmalig oder unter Beseitigung einer
Bindungswirkung entschieden werden dürfe und müsse. Ob diese Feststellung zulässig und
geboten sei, richte sich nach dem SGB X.
20 Für die Zeit vor dem 1.1.1982 stehe dem Anspruch die Regelung des § 48 Abs 4 SGB X iVm
§ 44 Abs 4 SGB X entgegen. Zwar verweise § 48 Abs 4 SGB X erst seit der Neufassung
durch das Gesetz vom 13.6.1994 auf § 44 Abs 4 SGB X. Die geänderte Vorschrift sei jedoch
immer dann anzuwenden, wenn zu diesem Zeitpunkt noch nicht bindend über einen
Anspruch entschieden worden sei. Allenfalls entfalte die geänderte Vorschrift dann, wenn sie
auf Sachverhalte Anwendung finde, bei denen die wesentliche Änderung schon vor dem
14.6.1994 eingetreten sei, eine unechte Rückwirkung. Gegen eine solche tatbestandliche
Rückanknüpfung bestünden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur
dann Bedenken, wenn Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes nicht berücksichtigt würden.
Bestandsinteressen des Betroffenen seien hier schon deswegen nicht berührt, weil lediglich
die Gewährung einer höheren Leistung streitbefangen sei.
21 Selbst wenn § 48 SGB X nicht für einschlägig erachtet würde, weil der Antrag auf
Pflegezulage als Erstantrag auf eine Leistung angesehen werde, bestünde kein
weitergehender Leistungsanspruch. Denn es sei dem § 44 Abs 4 SGB X der allgemeine
Rechtsgedanke zu entnehmen, dass Sozialleistungen nicht über vier Jahre hinaus
rückwirkend zu gewähren seien. In dieser Auffassung sehe sich der Senat dadurch bestärkt,
dass auch die Verjährungsfrist nach § 45 Abs 4 SGB I vier Jahre betrage. Der Grund für eine
Begrenzung der rückwirkenden Leistungsgewährung, dass Sozialleistungen im
Wesentlichen dem Unterhalt des Berechtigten dienten, rechtfertige insbesondere im
vorliegenden Fall eine Begrenzung der Leistungspflicht auf vier Jahre, da die Leistungen
dem Beschädigten selbst nicht mehr zugute kämen.
22 Hinsichtlich des Anspruchs auf höhere Beschädigtengrundrente einschließlich
Alterszuschlag, Pflegezulage nach Stufe II, halbe Ausgleichsrente, vollen
Ehegattenzuschlag, Kleiderpauschale und Schwerstbeschädigtenzulage sei die Klägerin im
Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe der
Beschädigte schon im Jahre 1986 einen Anspruch auf höhere Versorgung und die übrigen
Leistungen gestellt. In dem für den Beschädigten gestellten Antrag auf Ausstellung eines
Schwerbehindertenausweises habe die Klägerin angegeben, dass mehrere Infarkte
hinzugekommen seien, nachdem die Feststellungen nach dem HHG/BVG getroffen worden
seien. Dies habe zwar keine Pflicht des Beklagten dahingehend ausgelöst, hinsichtlich der
Höhe der Beschädigtenversorgung einen Neufeststellungsantrag anzuregen, denn ein
Leistungsträger sei nur gehalten, spontan auf klar zu Tage liegende
Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen. Das sei nach den Umständen hier nicht
anzunehmen, weil im vorliegenden Verfahren letztendlich erst nach Einholung von
insgesamt drei Gutachten ein Ursachenzusammenhang angenommen worden sei.
Insbesondere habe der Beschädigte im Hinblick auf sein fortgeschrittenes Alter gerade nicht
die Voraussetzungen der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) erfüllt, unter denen
eine Kannversorgung in Betracht gekommen wäre.
23 Aufgrund des Hinweises auf die weiteren Infarkte habe den Beklagten aber die Pflicht
getroffen, beim Beschädigten nachzufragen, ob er zugleich einen Verschlimmerungsantrag
hinsichtlich seiner Schädigungsleiden stellen wolle. Wäre der Beklagte dieser Pflicht
nachgekommen, sei im Hinblick auf die Verfolgung aller denkbaren Ansprüche durch die
Klägerin als Generalbevollmächtigte des Beschädigten davon auszugehen gewesen, dass
diese bei einer derartigen Rückfrage einen Verschlimmerungsantrag gestellt hätte, der
letztlich zum Erfolg geführt hätte.
24 Dass der Beschädigte mit der Erteilung der Vollmacht an die Klägerin am 9.6.1986 nicht
mehr gehindert gewesen sei, Überprüfungsanträge bzw Neufeststellungsanträge zu stellen,
stehe der Rückwirkung eines wegen des unterbliebenen Hinweises des Beklagten nicht
gestellten Antrages nach dem HHG/BVG im Zusammenhang mit dem Antrag auf Erteilung
eines Ausweises nach dem SchwbG nicht entgegen, da insoweit die Frist von einem halben
Jahr nach § 60 Abs 2 BVG für den Neufeststellungsantrag zur Beschädigtenversorgung wie
auch diejenige Frist gewahrt sei, die für den Antrag auf die erstmals geltend gemachten
Ansprüche auf halbe Ausgleichsrente, vollen Ehegattenzuschlag, Pflegezulage und
zusätzliche Leistungen gelte.
25 Aufgrund des danach gegebenen sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs habe der
Beschädigte rückwirkende Leistungsansprüche für vier Jahre ab fingierter Antragstellung
gehabt. Der Senat folge der Rechtsprechung des 9. und 13. Senats des BSG, nach der dann,
wenn aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs Leistungen zu erbringen
seien, diese längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht
würden.
26 Hinsichtlich der Höhe der Schwerstbeschädigtenzulage habe die Klage keinen Erfolg. Der
Senat habe insoweit in der Sache entscheiden können, da er den Beweisanregungen der
Klägerin im Hinblick darauf, dass von der Internistin Dr. R. umfangreiche Auskünfte zum
Gesundheitszustand des Beschädigten eingeholt worden seien, die Prof. Dr. D. in seinem
Gutachten vom 16.4.1993 berücksichtigt habe, nicht zu folgen gebraucht habe. Nach § 31
Abs 5 BVG iVm §§ 2, 5 Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs 5 BVG (BVG§31Abs
5DV) handele es sich um eine selbstständige Leistung, die denjenigen Beschädigten zugute
kommen solle, die an mehreren Gesundheitsstörungen iS des § 1 BVG litten, von denen
jede für sich allein bereits die Annahme eines hohen MdE-Grades rechtfertige. Ausgehend
von einer Punktzahl 130 für die Gehirnbereiche 1 und 2, zuzüglich eines Zuschlages von 20,
weil zwei innere Organsysteme betroffen seien, hätte zur Annahme eines Punktwertes von
mindestens 220, der Voraussetzung für die nächsthöhere Schwerstbeschädigtenzulage
nach Stufe IV sei, eine MdE von 70 vH für das Herzleiden vorliegen müssen.
27 Eine derartige MdE lasse sich jedoch für den Zeitraum ab 1.1.1982 nicht feststellen. Ähnlich
wie bereits in den AHP 1973 bestimmt, würden nach Nr 26.9 AHP 1983 (S 67) Herzschäden
mit Leistungsbeeinträchtigung bereits bei alltäglicher leichter Belastung (zB Spazierengehen
<3 - 4 km pro Stunde >, Treppensteigen bis zu einem Stockwerk, leichte körperliche Arbeit),
Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 50 Watt
(mindestens 3 Minuten) mit einer MdE von 50 - 70 vH, bei zeitweiligen schweren
Dekompensationserscheinungen mit einer MdE von 80 vH bewertet, während Herzschäden
mit Leistungsbeeinträchtigung bereits in Ruhe (manifeste Ruheinsuffizienz), langdauernden
schweren Dekompensationserscheinungen eine MdE von 90 - 100 vH bedingten.
Schädigungsbedingte Leistungsbeeinträchtigungen bereits bei jeder Form körperlicher
Belastungen, wie sie für eine MdE im oberen Bereich der Stufe III erforderlich seien, ließen
sich den Behandlungsunterlagen von Dr. R. nicht entnehmen. Diese Ärztin habe in einem
Arztbrief vom 26.5.1982 mitgeteilt, dass sich die bei dem Beschädigten aufgetretenen
verstärkten peripheren Ödeme unter der Gabe eines Medikamentes schnell zurückgebildet
hätten. Im Befundbericht vom 18.10.1989 habe sie angegeben, dass sich im Sommer 1987
eine zunehmende Pumpschwäche mit Wasseransammlung in Lunge, Leber und Beinen
eingestellt habe. Das Beschwerdebild der Pumpleistungsstörung in Form von Luftnot habe
sich lange durch Medikamente ausgleichen lassen, erst im Sommer 1987 sei es nicht mehr
zu stabilisieren gewesen. Auch gebe die den Beschädigten seit Sommer 1987 behandelnde
Dr. Sch. in der am 1.12.1987 ausgestellten Verordnung von Krankenhauspflege als
Untersuchungsergebnis "akut aufgetretene Atemnot, kurzfristig aufgetretene Beinödeme" an.
Danach könne ein durchgehender schädigungsbedingter Zustand, der eine MdE von 70 vH
bedinge, nicht festgestellt werden, zumal Prof. Dr. D. in seinem Gutachten zu einer
schädigungsbedingten Beeinträchtigung der Herzfunktion mit einer MdE von 60 vH gelangt
sei. Insoweit bestehe ein Anspruch auf eine Zulage nach Stufe III, die der Beklagte mit
Schriftsatz vom 7.6.2007 anerkannt habe.
28 Gegen diese Entscheidung haben beide Beteiligten (vom LSG zugelassene) Revisionen
eingelegt.
29 Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend: Das LSG habe zu Unrecht § 44 Abs 4 SGB X
herangezogen. Einschlägig sei vielmehr § 60 BVG. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der
Beschädigte infolge seines Schlaganfalls vom 23.1.1973 durchgehend bis zu seinem Tode
verhindert gewesen sei, einen Antrag zu stellen. Auch wenn ihm ab 9.6.1986 ein sie als
Bevollmächtigte treffendes Verschulden zuzurechnen sei, liege ein rechtzeitiger Antrag vor,
da insoweit auf den ZGHG-Antrag vom 9.6.1986 bzw den SchwbG-Antrag vom 20.10.1986
abzustellen sei. Diese seien dahin auszulegen, dass sie einen umfassenden
Leistungsantrag nach dem HHG enthielten. Die Verneinung eines Anspruchs auf höhere
Schwerstbeschädigtenzulage sei unter Verstoß gegen § 103 SGG erfolgt.
30 Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG vom 26.6.2007 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen,
1. ihr auch für die Zeit vom 1.1.1973 bis 31.12.1981 Beschädigtenrente nach einer
MdE von 100 vH, Pflegezulage nach Stufe II, halbe Ausgleichsrente, vollen
Ehegattenzuschlag und Kleiderpauschale nach einer Bewertungszahl von 53 zu
zahlen,
2. ihr für die Zeit vom 1.1.1973 bis 31.7.1980 Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe
III und für die Zeit vom 1.8.1980 bis 31.12.1987 Schwerstbeschädigtenzulage nach
Stufe V zu zahlen,
ferner festzustellen, dass die Dauer des gerichtlichen Verfahrens ihr Recht auf
abschließende Entscheidung innerhalb angemessener Frist aus Art 6 Abs 1
Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK) verletzt,
und die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
31 Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG vom 26.6.2007 insoweit aufzuheben, als er zu einer Leistungsgewährung
für die Zeit vom 1.1.1982 bis 31.12.1985 verurteilt worden ist, und die Klage auch insoweit
abzuweisen,
sowie die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
32 Er ist der Ansicht, das LSG habe den Schwerbehindertenantrag des Beschädigten von
Oktober 1986 unter Verkennung des Grundsatzes über den sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch zu Unrecht als maßgebend angesehen. Nach den Umständen des
vorliegenden Falles habe er, der Beklagte, seine Beratungspflichten nicht verletzt, da ein
Antrag nach dem HHG als aussichtslos habe erscheinen müssen.
33 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil
einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG) .
Entscheidungsgründe
34 Die Revision der Klägerin ist teilweise im Sinne der Zurückverweisung begründet. Im
Übrigen ist sie - wie die Revision des Beklagten - unbegründet.
35 Die Klägerin ist befugt, Ansprüche auf Versorgungsbezüge geltend zu machen, die
ursprünglich dem Beschädigten zugestanden haben. Nach dessen Tod ist zunächst die
Witwe gemäß § 56 SGB I Sonderrechtsnachfolgerin geworden. Mit deren Tod ist die
Klägerin als Alleinerbin in die fragliche Rechtsposition eingetreten. Es kann offen bleiben, ob
die von der Witwe des Beschädigten am 5.8.1993 erklärte Abtretung der betreffenden
Ansprüche an ihren Enkel C.-P. E. im Hinblick auf § 53 SGB I rechtlichen Bedenken
begegnet. Im Falle ihrer Wirksamkeit sind die streitigen Forderungen nämlich durch die am
8.7.2005 erfolgte Abtretung von C.-P. E. zur Klägerin gelangt.
36 Das LSG durfte in der Sache über die von der Klägerin angefochtenen Bescheide des
Beklagten vom 14.2. und 16.3.2007 entscheiden; denn diese Verwaltungsakte sind in
entsprechender Anwendung des § 96 SGG Gegenstand des seinerzeit beim LSG
anhängigen Rechtsstreits geworden, der einen - ursprünglich dem Beschädigten
zustehenden - Anspruch auf höhere Versorgungsbezüge unter entsprechender Aufhebung
der bindenden Bescheide vom 8.1.1957, 14.4.1959 und 24.3.1961 betraf. Gemäß § 96 Abs 1
SGG wird ein neuer Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens, durch den der
(angefochtene) Verwaltungsakt abgeändert oder ersetzt wird.
37 Diese Vorschrift setzt grundsätzlich voraus, dass die Klage gegen den ursprünglichen
Verwaltungsakt noch rechtshängig ist (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG
Komm, 9. Aufl 2008, § 96 RdNr 2a) . Das war hier nicht der Fall, da der Bescheid des
Beklagten vom 31.3.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.8.2000, der
die (teilweise) Aufhebung der die Versorgung des Beschädigten bestandskräftig regelnden
Verwaltungsakte betraf, bereits durch Teilurteil des LSG vom 29.8.2006 aufgehoben worden
war, als der Beklagte (in Ausführung dieses Teilurteils) die Bescheide vom 14.2. und
16.3.2007 erließ. Abgesehen davon, dass von dem Grundsatz einer aktuell bestehenden
Rechtshängigkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts auch schon in anderen Fällen
Ausnahmen zugelassen worden sind (vgl zB BSGE 47, 28, 30 f = SozR 1500 § 86 Nr 1; BSG
SozR 3-4100 § 157 Nr 1 S 8) , ist hier eine Einbeziehung der Bescheide vom 14.2. und
16.3.2007 in den anhängigen Rechtsstreit zwingend geboten. Da das LSG durch Teilurteil
vom 29.8.2006 zunächst nur den ablehnenden Verwaltungsakt aufgehoben, den Beklagten
zur Aufhebung der bindenden Verwaltungsakte verpflichtet und eine weitere
Schädigungsfolge festgestellt hatte, war von der ursprünglich erhobenen kombinierten
Anfechtungs-, (Verpflichtungs-) und Leistungsklage (vgl dazu BSGE 97, 54 = SozR 4-2700 §
8 Nr 18) der letztgenannte Klageteil, nämlich die auf höhere Versorgungsbezüge gerichtete
Leistungsklage, rechtshängig geblieben. Über diese konnte das LSG nicht
verfahrensgerecht entscheiden, ohne die zwischenzeitlich in Ausführung des Teilurteils
ergangenen Leistungsbescheide des Beklagten zu überprüfen und ggf zu ändern.
38 Da die Bescheide vom 14.2. und 16.3.2007 kraft Gesetzes Gegenstand des seinerzeit noch
beim LSG anhängigen Verfahrens geworden sind, bedurfte es weder eines Vorverfahrens iS
des § 78 SGG noch einer form- und fristgerechten Klageerhebung (vgl Leitherer, aaO, § 96
RdNr 11, 11c mwN) .
39 Der Regelungsinhalt der angefochtenen Bescheide bedarf zunächst formal der Klar- und
Richtigstellung. Unter dem 14.2.2007 ist sowohl ein Bescheid nach § 44 SGB X als auch ein
Bescheid nach § 48 SGB X ergangen. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X bestimmt: Soweit sich im
Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt
oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und
soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben
worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit
Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den rechtlichen oder tatsächlichen
Verhältnissen die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt,
mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Nach Maßgabe des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X soll
der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben
werden.
40 Soweit mit dem Bescheid vom 14.2.2007 (nach § 44 SGB X) eine Rücknahme des
Bescheides vom 31.3.2000 idF des Widerspruchsbescheides vom 25.8.2000 erklärt worden
ist, geht dieser Ausspruch ins Leere, weil die genannten Verwaltungsakte bereits durch das
Teilurteil des LSG vom 29.8.2006 aufgehoben worden sind. Den zweiten Bescheid vom
14.2.2007 hat der Beklagte zu Unrecht auf § 48 SGB X gestützt, soweit er damit lediglich die
aus der Zugunstenentscheidung folgenden Leistungen gewähren wollte. Mit der - allerdings
erst durch den Zusatzbescheid vom 16.3.2007 - erfolgten Änderung der Bescheide vom
8.1.1957 und 14.4.1959 sowie mit der Aufhebung des Bescheides vom 24.3.1961 waren die
entsprechenden Versorgungsanträge des Beschädigten vom 19.10.1956 und 14.12.1960
insoweit wieder offen (vgl dazu zB BSG SozR 1200 § 59 Nr 5 S 10). Sie erfassten bei
verständiger Auslegung (nach dem sog Günstigkeitsprinzip) alle Leistungen, die dem
Beschädigten unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles und des
Kenntnisstandes im Zeitpunkt der Entscheidung (im Jahre 2007) zustehen konnten (vgl dazu
zB BSG SozR 3900 § 40 Nr 12 S 32, 36 f; BSG SozR 5070 § 10a Nr 3 S 7; BSGE 96, 161 =
SozR 4-2500 § 13 Nr 8, jeweils RdNr 14). Mithin waren bei der Bescheiderteilung im Februar
2007 auch alle für den Versorgungsanspruch wesentlichen Änderungen der Verhältnisse zu
berücksichtigen, die in der Zeit von 1957 bis Ende 1987 eingetreten sind (vgl dazu BSG
SozR 4-2600 § 48 Nr 1 RdNr 7) .
41 Daraus folgt, dass in Ausführung des Teilurteils nicht nur über die Höhe der Grundrente zu
befinden war, die Gegenstand der Bescheide von 1957, 1959 und 1961 gewesen ist,
sondern auch - ohne zusätzliche Antragstellung - über alle weiteren in Betracht kommenden
Versorgungsleistungen. Für eine Anwendung des § 48 SGB X ist in diesem Zusammenhang
kein Raum. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Klägerin ihr Begehren auf
Leistungen für die Zeit ab 1973, also nach Eintritt eines schweren Schlaganfalls bei dem
Beschädigten, beschränkt hat.
42 Das LSG hat den Beklagten - zum Teil aufgrund dessen Teilanerkenntnisses vom 7.6.2007 -
jedenfalls zu Recht verurteilt, der Klägerin auch für die Zeit vom 1.1.1982 bis 31.12.1985
Beschädigtenrente nach einer MdE von 100 vH, vollen Ehegattenzuschlag und halbe
Ausgleichsrente sowie für die Zeit vom 1.1.1982 bis 31.12.1987
Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe III, Pflegezulage nach Stufe II und einen
Pauschbetrag für Kleidermehrverschleiß nach der Bewertungszahl 53 zu zahlen.
43 Soweit es den auf die Klägerin übergegangenen Anspruch des Beschädigten auf eine
Zugunstenentscheidung nach § 44 SGB X anbelangt, ist der Leistungsbeginn vom LSG
zutreffend auf den 1.1.1982 gelegt worden. Die dagegen gerichteten Angriffe der Klägerin
und des Beklagten greifen nicht durch. Der Leistungsbeginn ergibt sich aus § 44 Abs 4 SGB
X. Danach gilt:
Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden,
werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB
längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei
wird der Zeitpunkt der Rücknahme vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der
Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der
Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkende Leistungen zu erbringen sind,
anstelle der Rücknahme der Antrag.
44 In Übereinstimmung mit dem LSG geht der Senat von einem wirksam im Jahre 1986
gestellten Antrag des Beschädigten auf Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und damit
auf höhere Versorgungsleistungen aus. Dabei kann offenbleiben, ob und inwieweit der bei
dem Bezirksamt Charlottenburg von Berlin eingereichte Antrag auf Pflegegeld entsprechend
ausgelegt werden kann. Jedenfalls kann insoweit auf den Antrag nach dem SchwbG
abgestellt werden, der am 20.10.1986 beim Beklagten gestellt worden ist. Dadurch, dass die
Klägerin als Bevollmächtigte des Beschädigten im Antragsformular bei der Auflistung der
geltend gemachten Behinderungen "Herzmuskelschaden" … "gemäß HHG/BVG" in
Klammern hinzugefügt hat "seit Feststellung mehrere Infarkte hinzugekommen", hat sie
hinreichend zum Ausdruck gebracht, dass sie die Herzinfarkte des Beschädigten im
Zusammenhang mit der anerkannten Schädigungsfolge "Herzmuskelschaden" sah. Auch
wenn diese Bemerkung - wovon das LSG im Rahmen der ihm zustehenden Auslegung
dieser Erklärung ausgegangen ist (vgl dazu BSG SozR 3-3100 § 60 Nr 3 S 5) - noch nicht
als eindeutiger Antrag nach dem HHG iVm dem BVG gewertet werden konnte, hätte sie für
den Beklagten hinreichender Anlass dafür sein müssen, bei der Klägerin nachzufragen, ob
sie damit einen Versorgungsantrag für den Beschädigten habe stellen wollen (vgl dazu BSG
SozR 1300 § 44 Nr 19) . Denn nach § 16 Abs 3 SGB I war er verpflichtet, darauf hinzuwirken,
dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben
ergänzt werden (vgl dazu auch BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8) . Da der Beklagte
entsprechende Bemühungen unterlassen hat, konnte die Witwe des Beschädigten als
dessen Sonderrechtsnachfolgerin eine Klarstellung auch noch mit ihren Schreiben vom
7.12.1987 und 4.12.1990 nachholen (vgl dazu BSG SozR 1200 § 59 Nr 5; BSG SozR 1300 §
44 Nr 15) , die - wovon auch das LSG ausgegangen ist - eine Beanspruchung höherer
Beschädigtenversorgung deutlich genug erkennen lassen. Mit dem erstgenannten Schreiben
hat die Witwe beim Beklagten zunächst umfassend "Leistungen irgendwelcher Art aufgrund
der Rente des Verstorbenen" und mit dem letztgenannten Schreiben dann ausdrücklich eine
Rechtswidrigkeit der bindenden Verwaltungsakte wegen Nichtberücksichtigung der
Arteriosklerose als Schädigungsfolge geltend gemacht.
45 Einen vor dem Jahre 1986 liegenden Antrag des Beschädigten auf höhere
Versorgungsleistungen vermag der Senat nicht zu erkennen. Insoweit kommt der Klägerin
auch kein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zugute. Dieses richterrechtlich entwickelte
Rechtsinstitut setzt voraus, dass dem Beschädigten durch eine dem Beklagten
zuzurechnende behördliche Pflichtverletzung ein sozialrechtlicher Nachteil entstanden ist,
der durch eine zulässige Amtshandlung behoben werden kann (vgl dazu allgemein zB
BSGE 79, 168, 171 f = SozR 3-2600 § 115 Nr 1 S 5 f; BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 5 S 11 f).
Dass diese Voraussetzungen hier erfüllt sein können, ist nach den Tatsachenfeststellungen
des LSG und dem Revisionsvorbringen der Beteiligten nicht ersichtlich.
46 Zwar waren die Bescheide des Beklagten von 1957 bis 1961 nach dem rechtskräftigen
Teilurteil des LSG vom 29.8.2006 insoweit unrichtig, als die bei dem Beschädigten damals
festgestellten arteriosklerotischen Gefäßveränderungen nicht als Schädigungsfolgen
anerkannt worden waren. Ein derartiger behördlicher Fehler begründet jedoch schon
deshalb keinen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, weil insoweit die gesetzliche
Regelung des § 44 SGB X vorgeht, die speziell für die Rücknahme fehlerhafter
Verwaltungsakte vorgesehen ist (vgl dazu BSGE 60, 158, 164 ff = SozR 1300 § 44 Nr 23 S
57 ff).
47 Zwar war der Mitteilung der Ehefrau des Beschädigten vom 18.10.1984 zu entnehmen, dass
bei dem Beschädigten eine schwere Behinderung vorlag; daraus ergab sich jedoch keine
Pflicht des damals zuständigen Versorgungsamtes Köln, auf einen Versorgungsantrag
hinzuwirken. Ohne entsprechende Nachfrage des Beschädigten besteht eine Hinweis- oder
Beratungspflicht der Versorgungsverwaltung nur insoweit, als Gestaltungsmöglichkeiten klar
zu Tage liegen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und die jeder verständige
Berechtigte mutmaßlich nutzen würde (vgl zB BSGE 81, 251, 254 = SozR 3-2600 § 115 Nr 2
S 15). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Denn es war für die Behörde nicht ohne
Weiteres ersichtlich, dass der schlechte gesundheitliche Zustand des damals schon über 80-
jährigen Beschädigten in einem ursächlichen Zusammenhang mit einer Schädigung nach
dem HHG stehen konnte.
48 Schließlich bestand für den Beklagten auch anlässlich der Übernahme der
Versorgungsakten im Jahre 1985 keine Veranlassung, einen Neufeststellungs- oder
Überprüfungsantrag des Beschädigten anzuregen. Bei der Aktenübernahme handelt es sich
um einen Routinevorgang der keine Rechtspflicht begründet, die Versorgungsangelegenheit
des Beschädigten von Amts wegen einer umfassenden Überprüfung zu unterziehen. Ohne
eine solche lag - wie sich aus dem gesamten Verfahrensgang ergibt - jedenfalls nicht klar zu
Tage, dass der Beschädigte - wie das LSG erst mit Urteil vom 29.8.2006 erkannt hat - die
Feststellung weiterer Schädigungsfolgen im Zugunstenwege beanspruchen konnte (vgl
allgemein dazu BSG, Urteil vom 15.5.1984 - 12 RK 32/83 - juris RdNr 12).
49 Ausgehend von einer Antragstellung im Jahre 1986 ist die aufgrund der (teilweisen)
Rücknahme der Bescheide vom 8.1.1957, 14.4.1959 und 24.3.1961 nachzuholende
Leistungserbringung gemäß § 44 Abs 4 SGB X ausnahmslos auf den Zeitraum ab 1.1.1982
beschränkt. Dies gilt unabhängig davon, ab wann der Beschädigte die Voraussetzungen für
die einzelnen Leistungen erfüllte. Entscheidend ist, dass diese erst durch die im
Zugunstenwege erfolgte Anerkennung der bei ihm diagnostizierten arteriosklerotischen
Gefäßveränderungen ermöglicht worden sind.
50 Soweit sich die Klägerin gegen die Versagung einer höheren Schwerstbeschädigtenzulage
als nach Stufe III für die Zeit vom 1.1.1982 bis 31.12.1987 wendet, ist ihre Revision
begründet. Zu diesem Streitpunkt reichen die Tatsachenfeststellungen des LSG für eine
abschließende Entscheidung des Senats nicht aus.
51 Nach § 31 Abs 5 Satz 2 BVG in den vom 1.1.1982 bis 31.12.1987 jeweils geltenden
Fassungen erhalten erwerbsunfähige Beschädigte, die durch die anerkannten
Schädigungsfolgen gesundheitlich außergewöhnlich betroffen sind, eine monatliche
Schwerstbeschädigtenzulage, die in sechs Stufen gewährt wird. Satz 2 dieser Bestimmung
enthält eine Ermächtigung der Bundesregierung, mit Zustimmung des Bundesrates durch
Rechtsverordnung den Personenkreis, der durch seine Schädigungsfolgen
außergewöhnlich betroffen ist, sowie seine Einordnung in die Stufen I bis VI näher zu
bestimmen. § 1 der auf dieser Grundlage ergangenen Verordnung zur Durchführung des §
31 Abs 5 BVG (BVG§31Abs5DV) idF vom 20.4.1970 (BGBl I 410) sieht vor, dass
Schwerstbeschädigtenzulage erwerbsunfähige Beschädigte erhalten, die allein aufgrund der
Beurteilung nach § 30 Abs 1 BVG erwerbsunfähig sind, wenn die anerkannten
Schädigungsfolgen nach den nachstehenden Vorschriften mit wenigstens 130 Punkten zu
bewerten sind oder wenn sie Anspruch auf Pflegezulage mindestens nach Stufe III haben.
Nach Maßgabe des § 2 BVG§31Abs5DV ist bei der Punktbewertung von der Höhe der MdE
(nach § 30 Abs 1 BVG) für die jeweils betroffenen Organsysteme auszugehen. § 3 der
Verordnung regelt eine Erhöhung der nach § 2 ermittelten Punktzahl unter bestimmten
Voraussetzungen, während § 5 festlegt, wie viele Punkte für die einzelnen Stufen der
Schwerstbeschädigtenzulage erreicht werden müssen. Danach sind für die (vom Beklagten
anerkannte) Stufe III 190 Punkte, für die Stufe IV 220 Punkte und für die (von der Klägerin
begehrte) Stufe V 250 Punkte erforderlich.
52 Das LSG hat bei seiner Entscheidung das - allerdings auf die Zeit ab 1.1.1986 beschränkte -
Anerkenntnis des Beklagten vom 7.6.2007 zugrunde gelegt, womit - aufgrund einer
Punktzahl von 200 - die Zahlung einer Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe III zugesagt
worden ist. Der vom Beklagten beigefügten fachinternistischen Stellungnahme der
Medizinaldirektorin Dr. R. vom 5.6.2007 ist zu entnehmen, dass diesem Anerkenntnis
folgende Punktbewertung zugrunde lag:
Gehirnbereiche I und II
130 Punkte
Herz- und Kreislauf
Zuschlag (zwei Organsysteme betroffen)
50 Punkte
20 Punkte
200 Punkte
53 Während die Klägerin gegen die Berücksichtigung von 130 Punkten für die Gehirnbereiche I
und II keine Einwendungen erhoben hat, hält sie für die Zeit ab August 1980 hinsichtlich des
Organsystems Herz-Kreislauf 100 Punkte für zutreffend. Dem ist das LSG nicht gefolgt. Es
hat noch nicht einmal eine MdE von 70 vH, wie sie zur Erreichung der nächsthöheren Stufe
IV (entsprechend 220 Punkten) erforderlich wäre, festzustellen vermocht.
54 Zutreffend hat das LSG bei seiner Beurteilung die AHP 1973 und 1983 herangezogen.
Dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG um antizipierte
Sachverständigengutachten, die - im Hinblick auf die gebotene Gleichbehandlung der
Betroffenen - normähnlichen Charakter haben (vgl dazu BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 2 RdNr
14) . Nach Nr 145 AHP 1973 (MdE-Tabelle S 191) werden - soweit hier von Interesse - als
MdE-Werte bei Herz-Kreislaufschäden
-
mit Leistungsbeeinträchtigung bereits bei leichter Belastung
50 bis
80 vH
-
mit Leistungsbeeinträchtigung bereits in Ruhe
80
bis
100
vH
vorgeschlagen.
In Nr 26.9 AHP 1983 (S 66 f) finden sich differenziertere Kriterien:
Herzschäden
MdE
- mit Leistungsbeeinträchtigung bereits bei
alltäglicher leichter Belastung (zB
Spazierengehen <3 bis 4 km/h>, Treppensteigen
bis zu einem Stockwerk, leichte körperliche
Arbeit), Beschwerden und Auftreten
pathologischer Messdaten bei
Ergometerbelastung mit 50 Watt (wenigstens 3
Minuten)
50
bis
70
vH
- mit zeitweiligen schweren
Dekompensationserscheinungen
80
vH
- mit Leistungsbeeinträchtigung bereits in Ruhe
(manifeste Ruheinsuffizienz), langdauernde
schwere
Dekompensationserscheinungen
90
bis
100
vH
55 Das LSG ist zu der Beurteilung gelangt, dass sich den Behandlungsunterlagen der
Internistin Dr. R. schädigungsbedingte Leistungsbeeinträchtigungen bereits bei jeder Form
körper- licher Belastungen, wie sie für eine MdE im oberen Bereich der Stufe III erforderlich
wären, nicht entnehmen ließen. Ein durchgehend schädigungsbedingter Zustand, der eine
MdE von 70 vH bedinge, könne nicht festgestellt werden, zumal Prof. Dr. D. in seinem
Gutachten zu einer schädigungsbedingten Beeinträchtigung der Herzfunktion mit einer MdE
von 60 vH gelangt sei. Sofern diese Tatsachenfeststellungen ausreichen sollten, um den
damaligen Zustand des Beschädigten in das von den AHP 1973 und 1983 vorgegebene
Bewertungssystem einzuordnen, ist der erkennende Senat jedenfalls nicht daran gebunden,
weil die Rüge der Klägerin durchgreift, das LSG habe den Sachverhalt nicht hinreichend
aufgeklärt (§ 103 SGG) .
56 Angesichts der recht spärlichen medizinischen Unterlagen aus der damaligen Zeit, die -
gemessen an den Kriterien der AHP - keine klaren Aussagen zu den dauerhaften
gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Beschädigten enthalten, hätte sich das LSG
gedrängt fühlen müssen, entsprechend den Anträgen der Klägerin zunächst die damals
behandelnden Ärztinnen ergänzend zu befragen und sodann erforderlichenfalls von einem
medizinischen Sachverständigen eine Stellungnahme zu den Leistungseinschränkungen
des Beschädigten seitens des Herz-Kreislauf-Systems in der Zeit vom 1.1.1982 bis
31.12.1987 einzuholen. Auf die Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. D. konnte sich
das LSG schon deshalb nicht hinreichend stützen, weil dieser die beim Beschädigten
bestehenden "arteriosklerotischen Gefäßkomplikationen" nur zu einem nicht näher
bezeichneten Anteil als schädigungsbedingt angesehen und nur insoweit eine MdE von 60
vH angenommen hat. Im Übrigen hätte insbesondere auch der Umstand sachkundig
erwogen und erörtert werden müssen, dass der Beschädigte - wie die Klägerin schon im
Berufungsverfahren geltend gemacht hat - in den letzten Jahren seines Lebens infolge
seiner Gesundheitsstörungen auf neurologischem Fachgebiet offenbar selbst zu leichten
körperlichen Belastungen nicht mehr in der Lage gewesen ist.
57 Da der Senat die insoweit noch erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht
selbst durchführen kann (vgl § 163 SGG) , ist das Urteil des LSG betreffend diesen Teil des
Streitgegenstandes aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen (vgl §
170 Abs 2 Satz 2 SGG).
58 Entsprechendes gilt, soweit das angefochtene Urteil einen von der Klägerin aus
übergangenem Recht geltend gemachten Anspruch des Beschädigten auf höhere
Versorgungsbezüge wegen einer Verschlimmerung der seit 1957 anerkannten
Schädigungsfolgen betrifft.
59 Der im Oktober 1986 gestellte Antrag des Beschädigten ist - nach den 1987 und 1990
erfolgten Klarstellungen - nicht nur als Überprüfungsbegehren iS des § 44 SGB X, sondern
auch als Neufeststellungsbegehren iS des § 48 SGB X auszulegen (zur Anwendbarkeit
dieser Norm bei Änderungen der Verhältnisse vor dem 1.1.1981 vgl BSG SozR 1300 Art 2 §
40 Nr 8) . Dies ergibt sich schon daraus, dass die Klägerin im Oktober 1986 für den
Beschädigten geltend gemacht hat, zu dem anerkannten Herzmuskelschaden seien weitere
Herzinfarkte hinzugekommen. Denn aus der Sicht des Beschädigten konnte es sich bei den
Herzinfarkten um weitere Folgen der nach dem HHG erlittenen Schädigung des Herzens
handeln. Diesen Antrag hat der Beklagte zugleich mit dem Zugunstenantrag durch Bescheid
vom 31.3.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.8.2000 abgelehnt. Zwar
hat er sich in der Begründung dieses Verwaltungsaktes nur auf § 44 SGB X gestützt, jedoch
dabei hinreichend deutlich gemacht, dass er damit in vollem Umfang über den noch offenen
Leistungserhöhungsantrag des Beschädigten entscheiden wollte (vgl dazu BSG SozR 3900
§ 40 Nr 12 S 33; BSG, Urteil vom 29.5.1980 - 9 RV 18/79 - juris RdNr 18). Dementsprechend
hat der Beklagte nach Aufhebung des Bescheides vom 31.3.2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25.8.2000 durch das LSG in Ausführung des Teilurteils mit
Bescheiden vom 14.2. und 16.3.2007 ebenfalls über einen auf § 48 SGB X gestützten Antrag
des Beschädigten und seiner Rechtsnachfolgerin mitentschieden. Das kommt ansatzweise
schon dadurch zum Ausdruck, dass einer der beiden Bescheide vom 14.2.2007 - allerdings
in unzutreffender Weise - auf § 48 SGB X gestützt worden ist.
60 Zwar sind die seit 1957 eingetretenen Änderungen der schädigungsbedingten Verhältnisse
des Beschädigten auch im Rahmen der Leistungserbringung nach § 44 SGB X zu
berücksichtigen, ein auf § 48 SGB X gestützter Anspruch kann jedoch dann eine
eigenständige Bedeutung haben, wenn er eine Gewährung höherer Leistungen für Zeiten
vor dem 1.1.1982 ermöglicht. Allerdings darf insoweit nur eine Verschlimmerung der bereits
1957 anerkannten Schädigungsfolgen und ein Auftreten dadurch bedingter weiterer
Gesundheitsstörungen geprüft werden, weil einer Berücksichtigung der erst im
Zugunstenwege anerkannten Schädigungsfolgen die Sperrwirkung des § 44 Abs 4 SGB X
entgegensteht. Dabei kann offenbleiben, ob diese Vorschrift überhaupt auf eine
Zugunstenfeststellung von Schädigungsfolgen anwendbar ist (verneinend bzgl der
Feststellung von Behinderungen nach dem SchwbG: BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr
3); jedenfalls beschränkt sie nach ihrem eindeutigen Regelungsinhalt in zeitlicher Hinsicht
eine auf die betreffenden Schädigungsfolgen gestützte nachträgliche Leistungserbringung.
61 Nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X soll der von einer wesentlichen Änderung der
Verhältnisse betroffene Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der
Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt.
Danach wäre die Gewährung einer höheren Leistung vom Zeitpunkt einer eingetretenen
Verschlimmerung der Schädigungsfolgen an möglich. Entgegen der Auffassung des LSG
gibt es insoweit keine zeitliche Begrenzung iS von § 44 Abs 4 SGB X. Zwar ist diese
Vorschrift nach § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X entsprechend anwendbar. Diese Regelung wird
jedoch gemäß § 37 Satz 1 SGB I durch § 60 Abs 2 BVG verdrängt, wobei das BVG als
besonderer Teil des SGB gilt (§ 68 Nr 7 SGB I) . Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Nach § 60 Abs 1 Satz 1 BVG beginnt Beschädigungsversorgung mit dem Monat, in dem ihre
Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Diese Bestimmung gilt
gemäß § 60 Abs 2 Satz 1 BVG entsprechend, wenn eine höhere Leistung beantragt wird;
war der Beschädigte jedoch ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so
beginnt die höhere Leistung mit dem Monat, von dem an die Verhinderung nachgewiesen ist,
wenn der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes
gestellt wird. Diese Vorschrift ist auch auf Fälle anwendbar, in denen eine Verschlimmerung
der Schädigungsfolgen schon vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 60 BVG am
1.1.1979 (Gesetz vom 10.8.1978, BGBl I 1217) eingetreten ist (vgl BSGE 59, 40, 41 = SozR
3800 § 1 Nr 5 S 12; BSGE 92, 34 = SozR 4-3100 § 60 Nr 1, jeweils RdNr 20 f). Es handelt
sich dabei um eine spezielle Regelung des Beginns höherer Leistungen, der ein von § 48
Abs 4 iVm § 44 Abs 4 SGB X deutlich abweichendes Konzept zugrunde liegt (zum
Verhältnis der Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X zu den §§ 60, 61 BVG vgl BSG
SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8 S 14) . Während § 44 Abs 4 SGB X einer nachträglichen
Leistungserbringung - ohne weitere Voraussetzungen - eine strikte zeitliche Grenze setzt,
stellt § 60 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG - ähnlich den Vorschriften über eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl § 27 SGB X, § 67 SGG) - auf die individuellen
Verhältnisse des Betroffenen ab.
62 Auch die Gesetzesentwicklung deutet daraufhin, dass es der Gesetzgeber im Bereich des
sozialen Entschädigungsrechts bei einer gesonderten Regelung des Leistungsbeginns in
Neufeststellungsverfahren belassen wollte. Mit dem Inkrafttreten des § 48 SGB X am
1.1.1981 (Gesetz vom 18.8.1980, BGBl I 1469) ist zwar der die Neufeststellung der
Versorgungsbezüge betreffende § 62 BVG (durch Streichung seines bisherigen Abs 1)
geändert worden (Art II § 15 Nr 1 Gesetz vom 18.8.1980) , die Vorschrift über den Beginn
höherer Leistungen in § 60 Abs 2 BVG ist jedoch unangetastet geblieben. Da § 48 SGB X
zunächst noch keine Bezugnahme auf § 44 Abs 4 SGB X enthielt, wurde - außerhalb des
BVG - hinsichtlich des Leistungsbeginns allein auf die Verjährungsbestimmung des § 45
SGB I zurückgegriffen (vgl BSGE 61, 154 = SozR 1300 § 48 Nr 32; BSGE 62, 10 = SozR
2200 § 1254 Nr 7) . Hätte der Gesetzgeber mit der Einbeziehung des § 44 Abs 4 SGB X in
die im Rahmen des § 48 SGB X entsprechend geltenden Vorschriften (durch Gesetz vom
13.6.1994, BGBl I 1229) auch die Rechtslage im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts
ändern wollen, wäre eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, insbesondere eine
Neufassung des § 60 Abs 2 BVG, erforderlich gewesen.
63 Zwar ist verschiedentlich angenommen worden, dass § 44 Abs 4 SGB X einen allgemeinen
Rechtsgedanken enthalte (so zB BSGE 60, 245 = SozR 1300 § 44 Nr 24; BSG SozR 1300 §
44 Nr 25; vgl dagegen zB BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6; BSG SozR 3-2600 § 99
Nr 5; BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 9) , dieser Gesichtspunkt ist aber jedenfalls nicht geeignet,
eine geltende gesetzliche Bestimmung zu verdrängen. Dem Gesetzgeber ist es
unbenommen, in einzelnen Sozialleistungsbereichen aus sachlichen Erwägungen
unterschiedliche Bestimmungen über die nachträgliche Erbringung höherer Leistungen
vorzusehen.
64 Das LSG hat die Voraussetzungen des § 60 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG zwar geprüft und
ihr Vorliegen bejaht. Die dazu getroffenen Tatsachenfeststellungen reichen jedoch nicht aus,
um diese Beurteilung bestätigen zu können. Allerdings ist danach davon auszugehen, dass
der Beschädigte selbst durch die Folgen eines schweren Schlaganfalls von Januar 1973 bis
zu seinem Tode im Dezember 1987 gehindert war, einen Antrag auf höhere Leistungen nach
dem HHG zu stellen. Das LSG hat auch zutreffend angenommen, dass im Rahmen des § 60
BVG dem Leistungsberechtigten grundsätzlich ein Verschulden seines Vertreters
zuzurechnen ist (vgl dazu BSGE 59, 40, 41 f = SozR 3800 § 1 Nr 5 S 13; BSGE 94, 282 =
SozR 4-3800 § 1 Nr 8, jeweils RdNr 6) . Zur Verneinung eines entsprechenden
Vertretungsverhältnisses hat es jedoch lediglich das Schreiben der Ehefrau des
Beschädigten vom 18.10.1984 ausgelegt und sich im Übrigen darauf gestützt, dass es keine
gesetzliche Vertretungsmacht eines Ehegatten für den anderen oder eines erwachsenen
Kindes für seine Eltern gebe. Nach den Umständen des vorliegenden Falles (jahrelange
Unfähigkeit des Beschädigten, seine Angelegenheiten selbst zu erledigen) wäre es darüber
hinaus geboten gewesen, auch das Vorliegen einer stillschweigenden Vollmacht bzw einer
funktionalen Vertretung zu prüfen (vgl dazu BSG SozR 3-4100 § 141e Nr 2; BSG, Urteil vom
23.1.2008 - B 10 EG 6/07 R - SozR 4-7833 § 4 Nr 1; BFHE 115, 12). Dazu fehlen
entsprechende Feststellungen.
65 Weitere Ermittlungen zu diesem Punkt erübrigen sich nicht deswegen, weil es nach den
Feststellungen des LSG schon feststünde, dass sich aus dem seit 1959 als
Schädigungsfolge anerkannten Herzmuskelschaden in der Folgezeit keine
Verschlimmerung ergeben hat. Das LSG hat sich nämlich mit dieser Frage nicht befasst.
Gegenwärtig besteht auch keine Veranlassung zu prüfen, ob ein auf § 48 SGB X gestützter
Neufeststellungsanspruch verjährt ist (§ 45 SGB I; vgl dazu BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 2) .
Denn der Beklagte hat - soweit ersichtlich - bislang keine Verjährungseinrede erhoben (vgl §
45 Abs 2, § 70 SGB I iVm Art 229 § 6 Einführungsgesetz zum BGB, § 222 BGB in der bis
zum 31.12.2001 geltenden Fassung) .
66 Soweit die Klägerin mit ihrem Antrag auf Feststellung einer Menschenrechtsverletzung durch
überlange Verfahrensdauer eine förmliche Entscheidung des Senats erstrebt, kann sie damit
nicht durchdringen. Ein derartiger Rechtsbehelf ist gesetzlich nicht vorgesehen (vgl dazu
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte , Urteil vom 8.6.2006 - 75529/01 -,
NJW 2006, 2389). Gegen die richterliche Einführung einer solchen Feststellungsmöglichkeit
bestehen unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmittelklarheit grundsätzliche Bedenken (vgl
BVerfGE 107, 395, 416 = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1 RdNr 57; dazu zB auch BSG SozR 4-
1500 § 160a Nr 17; allgemein dazu auch BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 18; aA noch BSG
SozR 4-1500 § 160a Nr 11). Allerdings sieht sich der Senat nicht gehindert, im Rahmen
seiner Revisionsentscheidung festzustellen, dass die Klägerin bereits jetzt durch die Dauer
des gerichtlichen Verfahrens in ihrem Recht auf abschließende Entscheidung innerhalb
angemessener Frist aus Art 6 Abs 1 EMRK verletzt ist. Denn es gehört ohne weiteres zu den
Aufgaben eines Revisionsgerichts, vorinstanzliche Verfahrensmängel zu beachten. Dies gilt
allerdings nicht unbeschränkt.
67 Eine entsprechende Befugnis findet zunächst ihre Grenzen in dem bei dem Revisionsgericht
anhängigen Streitgegenstand. Mithin kann sich der Senat nur mit solchen
Verfahrensmängeln befassen, die sich auf den Streit über die Gewährung einer höheren
Beschädigtenversorgung beziehen. Soweit auch das inzwischen abgeschlossene Verfahren
betreffend Hinterbliebenenleistungen unter Fehlern gelitten hat, besteht für den Senat kein
Grund, sich im vorliegenden Revisionsverfahren dazu zu äußern.
68 Zwar hat ein Revisionsgericht grundsätzlich nur über solche vorinstanzlichen
Verfahrensmängel zu befinden, auf denen die angefochtene Entscheidung beruht (vgl § 170
Abs 1 Satz 2 SGG; dazu zB Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Komm,
9. Aufl 2008, § 170 RdNr 5a mwN) oder die sich auf den Inhalt der zu treffenden
Entscheidung auswirken (vgl BGHSt 52, 124) . Beides trifft hier nicht zu, soweit es um einen
Verstoß gegen Art 6 Abs 1 EMRK geht. Weder beruht das Urteil des LSG auf einer
überlangen Verfahrensdauer noch hat dieser Gesichtspunkt Einfluss auf Art, Höhe oder
Dauer der von der Klägerin beanspruchten Versorgungsleistungen. Im vorliegenden Fall hält
sich der Senat jedoch für befugt, in der hiermit erfolgenden Art und Weise eine Verletzung
von Art 6 Abs 1 EMRK festzustellen.
69 Dabei ist vor allem die besondere Bedeutung des Rechts auf ein zügiges Verfahren zu
berücksichtigen, das nicht nur in Art 6 Abs 1 EMRK, sondern auch in Art 2 Abs 1, Art 19 Abs
4, Art 20 Abs 3 GG verankert ist (vgl zB BVerfGE 93, 1, 13; BVerfG NVwZ 2004, 334; BSG
SozR 4-1500 § 160a Nr 11 RdNr 25 ff) . Sie spricht für eine menschen- und
verfassungsrechtskonforme Auslegung des einschlägigen Verfahrensrechts. Dies gilt um so
mehr, wenn - wie hier - durch die Feststellung eines Verstoßes gegen Art 6 Abs 1 EMRK, die
als solche nach dem SGG nicht ausdrücklich untersagt ist, hinsichtlich des
zurückverwiesenen Teils des Streitgegenstandes ein Beschleunigungseffekt erzielt werden
kann. Dem LSG wird so mit Nachdruck deutlich gemacht, dass die noch offenen Streitpunkte
nunmehr besonders zügig erledigt werden müssen.
70 Nach Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK hat jede Person ua ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten
in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche von einem unabhängigen und unparteiischen,
auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb
angemessener Frist verhandelt wird. Den Begriff der "zivilrechtlichen Ansprüche" hat der
Europäische Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) in ständiger Rechtsprechung
eigenständig und weit ausgelegt (vgl dazu Meyer-Ladewig, EMRK Handkomm, 2. Aufl 2006,
Art 6 RdNr 6 ff) . Danach werden davon auch Sozialleistungen erfasst, auf die ein
Rechtsanspruch besteht (vgl dazu Meyer-Ladewig, aaO, RdNr 8 mwN; verneinend für
Ermessensleistung nach dem BVG: EGMR vom 11.12.2006 - 25553/02 - juris RdNr 39 ff) . Im
Hinblick darauf, dass auch die Bundesrepublik Deutschland in Fällen betreffend
Anspruchsleistungen nach dem BVG gegenüber dem EGMR Verstöße gegen Art 6 Abs 1
EMRK anerkannt hat (vgl zB EGMR, Entscheidung vom 6.11.2007 - 16308/05 - juris; EGMR,
Entscheidung vom 1.4.2008 - 35000/05 - juris) , geht der Senat ebenfalls davon aus, dass
die hier streitigen Ansprüche der Klägerin von dieser Norm erfasst werden.
71 Beginnend mit der am 3.8.1993 erhobenen Untätigkeitsklage läuft ein Gerichtsverfahren, das
den Antrag auf höhere Beschädigtenversorgung betrifft, nunmehr schon über 15 Jahre (zur
Frage einer Einbeziehung des Verwaltungsverfahrens ab Antragstellung vgl Meyer-Ladewig,
EMRK Handkomm, 2. Aufl 2006, Art 6 RdNr 74). Auch wenn die Klägerin erst nach dem
Tode ihrer Mutter im Mai 1994 in den Rechtsstreit eingetreten ist, rechnet hier die
Gesamtzeit, da die Klägerin das Verfahren zunächst als Gesamtrechtsnachfolgerin ihrer
Mutter aufgenommen und später auch aufgrund einer Forderungsabtretung fortgeführt hat
(vgl dazu Meyer-Ladewig, aaO, RdNr 72a mwN) . Nachdem das Verfahren beim SG nur
etwas über drei Monate anhängig war, betrug die Gesamtdauer beim LSG - unterbrochen
durch zwei Rechtsmittelverfahren beim BSG (insgesamt etwa zweieinhalb Jahre) und ein
Widerspruchsverfahren beim Beklagten (etwa vier Monate) - bislang über 10 Jahre. Während
das sozialgerichtliche Klageverfahren außergewöhnlich kurz war und auch die Verfahren
beim BSG keine auffällige Länge aufweisen, addieren sich die Zeiten der Rechtshängigkeit
beim LSG demnach zu einer ungewöhnlichen Dauer. Auch unter Berücksichtigung der
Besonderheiten des vorliegenden Falles ist damit nicht mehr eine angemessene Frist iS des
Art 6 Abs 1 EMRK eingehalten, zumal das Verfahren immer noch nicht in allen Streitpunkten
zum Abschluss gebracht worden ist.
72 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Fall außergewöhnliche Schwierigkeiten
rechtlicher und tatsächlicher Art aufweist. So war und ist insbesondere
verwaltungsverfahrensrechtlich zu klären, für welchen Zeitraum die Klägerin eine
rückwirkende Leistungserbringung beanspruchen kann. In tatsächlicher Hinsicht stand die
Frage im Vordergrund, ob bei dem Beschädigten arteriosklerotische Gefäßveränderungen
als Schädigungsfolgen anzuerkennen waren. Ihre Beantwortung gestaltete sich zum einen
deshalb als schwierig, weil lange zurückliegende gesundheitliche Verhältnisse aufzuklären
waren. Zum anderen galt es, mehrere medizinische Sachverständigengutachten einzuholen
und die darin enthaltenen sehr umfangreichen, von einander abweichenden Äußerungen
zum Ursachenzusammenhang auszuwerten. Darüber hinaus hat sich das Verfahren vor dem
LSG um einige Monate dadurch verlängert, dass über mehrere Ablehnungsgesuche der
Klägerin zu befinden war.
73 Es bleiben gleichwohl erhebliche Verzögerungen, die einer nicht ordnungsgemäßen
Verfahrensweise des LSG anzulasten sind. Dadurch, dass die Untätigkeitsklage auch in der
Berufungsinstanz mit dem Verfahren betreffend Hinterbliebenenleistungen verbunden blieb,
haben sich Verzögerungen im letztgenannten Verfahren (insbesondere durch Einholung
medizinischer Gutachten, aber auch durch eine Bearbeitungslücke von Juni 1997 bis Mai
1998) auf das an sich nur auf eine Bescheidung des Neufeststellungs- und
Überprüfungsantrags von 1986 (klargestellt im Dezember 1987 und Oktober 1990) gerichtete
Klagebegehren ausgewirkt. Diese Verfahrensverbindung hat des Weiteren erkennbar
sowohl SG als auch LSG dazu verleitet, die Untätigkeitsklage mit der zweifelhaften - nur bei
rechtsmissbräuchlicher Rechtsverfolgung in Betracht kommenden - Begründung
abzuweisen, der in der Sache verfolgte Anspruch auf höhere Beschädigtenversorgung
scheide offensichtlich unter jedem denkbaren Gesichtspunkt aus (vgl dazu Leitherer in
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Komm, 9. Aufl 2008, § 88 RdNr 4a) . Das dem ersten
LSG-Urteil vom 5.5.1998 folgende Nichtzulassungs- und Revisionsverfahren vor dem BSG
war - soweit es den mit der Untätigkeitsklage verfolgten Anspruch auf
Beschädigtenversorgung anbelangt - schon deshalb überflüssig, weil der Beklagte sehr viel
früher dazu hätte veranlasst werden können, den diesbezüglich jahrelang offenen
Neufeststellungs- bzw Überprüfungsantrag zu bescheiden.
74 Auch das im Anschluss an den Widerspruchsbescheid vom 25.8.2000 beim LSG im
September 2000 anhängig gemachte Klageverfahren ist nicht durchgängig zügig betrieben
worden, obwohl im Hinblick auf die inzwischen schon bedenklich lange Verfahrensdauer zu
einer besonderen Beschleunigung Veranlassung bestanden hätte. Zunächst hat sich der
Beklagte etwa zwei Monate bis Januar 2001 Zeit gelassen, der von der Klägerin erstrebten
Klageänderung zuzustimmen. Sodann ist das LSG - soweit ersichtlich - bis zur Ablehnung
des Prozesskostenhilfeantrags der Klägerin im April 2002 (also über ein Jahr) untätig
geblieben. Weiterhin hatte auch das an das zweite LSG-Urteil vom 15.4.2003 anschließende
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beim BSG wegen vorinstanzlicher Verfahrensmängel
Erfolg. Es wäre vermeidbar gewesen, wenn dem LSG nicht entsprechende Fehler
unterlaufen wären. Schließlich beruht die jetzige Zurückverweisung in einem Streitpunkt
ebenfalls auf einem Verfahrensverstoß des LSG.
75 Da über die Kosten des Verfahrens nach dessen Gesamtergebnis zu befinden ist, kann auch
die gegenwärtige Kostenentscheidung des LSG keinen Bestand haben (vgl BSGE 65, 198,
203 = SozR 5870 § 2 Nr 62 S 201 f). Insofern wird das LSG erneut über die Kosten des
Rechtsstreits, einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens, zu entscheiden haben.