Urteil des BSG vom 15.12.1999

BSG: versorgung, verwaltungsakt, entschädigung, ermessensleistung, tod, behandlung, ermessensspielraum, rechtsnachfolger, soldat, verwaltungsverfahren

Bundessozialgericht
Urteil vom 15.12.1999
Sozialgericht Augsburg
Bayerisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 9 VS 3/99 R
Die Revisionen der Kläger gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Januar 1999 werden
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Der Kläger zu 1) war als Soldat der Bundeswehr in Italien stationiert. Dort lebte er mit seiner Ehefrau und seinen
beiden Kindern, darunter der Klägerin zu 2). Am 20. September 1986 wurde die Ehefrau bzw Mutter der Kläger in
Italien ermordet.
Der Beklagte lehnte es ab, den Klägern und dem inzwischen - am 22. April 1998 - verstorbenen Sohn des Klägers als
Gewaltopfern Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG)
zu gewähren. Widersprüche, Klagen und Berufungen hatten keinen Erfolg. Während des Revisionsverfahrens wurde
durch das Gesetz zur Änderung wehrpflichtrechtlicher, soldatenrechtlicher, beamtenrechtlicher und anderer
Vorschriften vom 24. Juli 1995 (BGBl I S 962) in das Soldatenversorgungsgesetz (SVG) mit Wirkung vom 29. Juli
1995 § 81e SVG eingefügt. Der Beklagte bewilligte von diesem Tage an Versorgung (Bescheide vom 11. März 1996).
Das Bundessozialgericht (BSG) hat die daraufhin auf Leistungen für die Zeit bis zum 28. Juli 1995 beschränkten
Revisionen zurückgewiesen (Urteil vom 18. Juni 1996 - 9 RVg 4/94 - VersorgVerw 1997, 13 = WzS 1998, 26).
Die Kläger verfolgten ihre Anträge auf Versorgung für die Zeit bis zum 28. Juli 1995 in einem neuen
Verwaltungsverfahren weiter. Auch hier hatten die Widersprüche, Klagen und Berufungen keinen Erfolg
(Widerspruchsbescheide vom 27. Juni 1996; Urteile des Sozialgerichts vom 23. Januar 1997 und des
Landessozialgerichts vom 12. Januar 1999).
Mit ihren Revisionen machen der Kläger zu 1) - zugleich als Rechtsnachfolger seines Sohnes - und die Klägerin zu 2)
geltend, ihnen seien - wenn nicht als Rechtsanspruch, dann jedenfalls im Wege des Härteausgleichs - Leistungen für
die Zeit vor dem 29. Juli 1995 zu gewähren. Die Stichtagsregelung des § 81e Abs 13 SVG verstoße gegen das
Grundgesetz.
Die Kläger beantragen,
die Urteile des Sozialgerichts Augsburg vom 23. Januar 1997 und des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12.
Januar 1999 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 11. März 1996 in der Gestalt der
Widerspruchsbescheide vom 27. Juni 1996 zu verurteilen, den Klägern Hinterbliebenenversorgung nach dem
Gewalttode ihrer Ehefrau bzw Mutter für die Zeit vom 1. Oktober 1986 bis zum 28. Juli 1995 zu gewähren, hilfsweise
im Wege des Härteausgleichs.
Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124
Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstanden erklärt.
II
Die Revisionen der Kläger haben keinen Erfolg.
Zu Recht haben die Instanzgerichte in der Sache entschieden. Sie haben zwar - ebenso wie die Beteiligten - verkannt,
daß die Bescheide vom 11. März 1996 bereits kraft Gesetzes mit der Klage beim Sozialgericht angefochten waren.
Das ergibt sich aus § 171 Abs 2 SGG. Danach gilt ein während des Revisionsverfahrens ergangener, den
angefochtenen Verwaltungsakt abändernder oder ersetzender Verwaltungsakt als mit der Klage beim Sozialgericht
angefochten. Während des durch Urteil vom 18. Juni 1996 entschiedenen Revisionsverfahrens - 9 RVg 4/94 - hat der
Beklagte die angefochtenen ablehnenden Bescheide geändert, indem er den Klägern ab 29. Juli 1996 Versorgung
bewilligte. Der später erhobenen Klagen bedurfte es mithin nicht. Die von den Klägern trotz der Fiktion des § 171 Abs
2 SGG erhobenen Klagen sind aber unschädlich (vgl zur Einlegung der Berufung trotz eines nach § 145 Abs 5 SGG
bereits laufenden Berufungsverfahrens Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 145 RdNr 11; Kummer, NZS 1993, 337,
343). Denn sie haben nichts daran geändert, daß die Bescheide des Beklagten von den Gerichten der
Sozialgerichtsbarkeit auch ohne förmliche Verbindung (vgl BSGE 26, 78 f = SozR § 30 BVG Nr 24) in einem
einheitlichen Verfahren auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft worden sind.
Den Klägern stehen für die Zeit vom 1. Oktober 1986 bis zum 28. Juli 1995 keine Versorgungsleistungen zu. Dies
ergibt sich bereits aus dem unter den Beteiligten ergangenen Urteil vom 18. Juni 1996 (aaO). Dort wird zur Einführung
des § 81e SVG ua ausgeführt:
"Die Frage, ob das Fehlen einer Entschädigungsregelung für solche Gewaltopfer, die Angehörige von im Ausland
stationierten Bundeswehrsoldaten sind, ggf eine verfassungswidrige sozialrechtliche Regelungslücke, sei es des
OEG, sei es anderer Rechtsvorschriften darstellt, zu deren Schließung der Gesetzgeber nach Art 3 Abs 1
Grundgesetz verpflichtet gewesen wäre, ist jedenfalls für den noch streitigen Zeitraum vor dem 29. Juli 1995 zu
verneinen. Es ist nicht zu erkennen, welcher vergleichbaren Gruppe von Begünstigten gegenüber die durch
Gewalttaten im Ausland geschädigten Soldaten willkürlich benachteiligt gewesen sein sollen. Seit 29. Juli 1995 hat
der Gesetzgeber durch das Gesetz vom 24. Juli 1995 einen Gewaltopferschutz für im Ausland stationierte Soldaten
sowie deren Angehörige geschaffen (§ 81e Abs 1 SVG) und für Härtefälle aus der Vergangenheit eine
Entschädigungsregelung getroffen (vgl § 81e Abs 12 SVG), die auch den Fall der Kläger erfaßt. Zwar sind danach
Entschädigungsansprüche für die Hinterbliebenen von Gewaltopfern - auch bei vor dem 29. Juli 1995 geschädigten
Personen - erst seit diesem Stichtag vorgesehen (§ 81e Abs 13 Satz 2 SVG). Bei dieser Neuregelung handelt es sich
jedoch um eine Ausweitung von Sozialleistungsansprüchen, für die der Gesetzgeber einen weitgehenden
Ermessensspielraum besitzt. Dies gilt insbesondere für die Behandlung von Altfällen, hinsichtlich derer sogar ein
völliger Ausschluß von der sozialen Entschädigung gerechtfertigt sein kann (vgl BVerfGE 87, 234, 262 ff = SozR 3-
5761 Allg Nr 1 und Urteil des Senats BSGE 56, 90, 93 mwN). Erst recht muß der Gesetzgeber berechtigt sein, einen
Stichtag für den Leistungsbeginn zu wählen."
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Im Wege des Härteausgleichs nach § 81e Abs 1 Satz 1 SVG iVm § 89 Abs 1 BVG können Leistungen nur gewährt
werden, sofern sich in einzelnen Fällen aus den Vorschriften des Gesetzes besondere Härten ergeben.
Rechtsvoraussetzung für eine solche Ermessensleistung ist mithin, daß der Gesetzgeber besondere Einzelfälle oder
auch Fallgruppen übersehen oder nicht vorausgesehen oder die Ansprüche unter Beachtung dieser Besonderheiten
nicht genügend differenziert geregelt hat (vgl BSGE 27, 75, 76 ff = SozR Nr 1 zu § 89 BVG; BSGE 47, 123, 124 ff =
SozR 3100 § 89 Nr 7; BSG SozR 3-3100 § 89 Nr 3). Davon kann hier aber keine Rede sein. Der Gesetzgeber hat
Altfälle aus der Zeit vor dem 29. Juli 1995 zum Ausgleich von Härten (bei Schwerbeschädigung oder Tod) einbezogen.
Die Kläger kommen in den Genuß dieser Regelung. Altfälle hat der Gesetzgeber aber ausdrücklich erst ab
Inkrafttreten des Gesetzes entschädigen wollen. Das ergibt sich aus § 81 Abs 12 und 13 SVG und begegnet keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl BSGE 56, 90, 93 f = SozR 3800 § 10 Nr 1 und die Härteregelung des § 10a
OEG für Altfälle vor Einführung einer Opferentschädigungsregelung).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.