Urteil des BSG vom 10.08.2000

BSG: kassenwechsel, wahlrecht, gsg, mitgliedschaft, ausdehnung, satzung, vertrauensschutz, aufsichtsbehörde, materialien, ersatzkasse

Bundessozialgericht
Urteil vom 10.08.2000
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Bundessozialgericht B 12 KR 10/00 R
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Januar 2000 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin über den 31. März 1998 hinaus Mitglied der Beklagten geblieben ist.
Die Klägerin ist im Lebensmittelmarkt ihres Ehemannes versicherungspflichtig beschäftigt und seit 1994 Mitglied der
beklagten Ersatzkasse. Zum 1. April 1998 wurde die Betriebskrankenkasse SPAR Handels-Aktiengesellschaft (BKK-
SPAR) errichtet. Ihr Bereich erstreckt sich nach der Satzung auf die Großhandels-Hauptniederlassung der
Gesellschaft und auf die Niederlassungen und Betriebsstätten im gesamten Bundesgebiet. Zu den Betriebsstätten der
Gesellschaft gehört der Lebensmittelmarkt des Ehemannes der Klägerin nicht. Der Bereich der BKK-SPAR erstreckt
sich nach der Satzung jedoch "auch auf die Region Bundesrepublik Deutschland". Aufgrund dieser Bestimmung
erklärte die Klägerin nach § 175 Abs 5 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) innerhalb
von zwei Wochen nach der Errichtung ihren Beitritt zur BKK-SPAR. Die BKK übersandte eine Mitgliedsbescheinigung
an den Ehemann als Arbeitgeber. Dieser entrichtete die Sozialversicherungsbeiträge nicht mehr an die Beklagte,
sondern an die BKK.
Ende Mai 1998 erfuhr die Beklagte von der Kassenwahl. Sie vertrat gegenüber der Klägerin und dem Ehemann die
Ansicht, das sofortige Wahlrecht nach § 175 Abs 5 SGB V stehe nur den versicherungspflichtig Beschäftigten der
Betriebe zu, für welche die BKK errichtet sei (Wahlrecht nach § 173 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB V), nicht aber
Versicherten wie der Klägerin, die der BKK nur wegen ihrer Öffnung für Betriebsfremde beitreten könnten (Wahlrecht
nach § 173 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V). Die Klägerin sei daher über den 31. März 1998 hinaus Mitglied der Beklagten
geblieben. Als die Klägerin auf dem Kassenwechsel zum 1. April 1998 bestand, entschied die Beklagte mit Bescheid
vom 17. Juni 1998 und Widerspruchsbescheid vom 14. September 1998, daß die Mitgliedschaft bei ihr nicht wirksam
zum 31. März 1998 beendet worden sei.
Die Klägerin hat Klage erhoben mit dem Vorbringen, das Recht zum sofortigen Kassenwechsel nach § 175 Abs 5
SGB V stehe auch ihr zu. Das Sozialgericht (SG) hat die BKK-SPAR beigeladen (Beigeladene zu 1). Mit Urteil vom 1.
September 1999 hat es unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides festgestellt, daß die Klägerin seit dem 1.
April 1998 nicht mehr Mitglied der Beklagten ist. § 175 Abs 5 SGB V gelte auch für die Klägerin. Die Beklagte hat
Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Ehemann der Klägerin als Arbeitgeber beigeladen
(Beigeladener zu 2). Mit Urteil vom 24. Januar 2000 hat es das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage
abgewiesen. § 175 Abs 5 SGB V gelte für die Klägerin nicht.
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 175 Abs 5 SGB V. Sie beruft sich außerdem auf
Vertrauensschutz. Das Bundesversicherungsamt (BVA) habe zur Zeit der Errichtung der Beigeladenen zu 1) ihre (der
Klägerin) Ansicht vertreten. Darauf hätten sie und die Beigeladene zu 1) sich verlassen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG vom 24. Januar 2000 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen
das Urteil des SG vom 1. September 1999 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beigeladenen haben sich nicht geäußert.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die
Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig. Die
Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten hat zum 31. März 1998 nicht geendet.
Die Klägerin ist versicherungspflichtig beschäftigt und seit 1994 Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Sie ist es nach
dem am 1. Januar 1996 in Kraft getretenen neuen Recht der Kassenzuständigkeit (§ 173 ff SGB V nF) geblieben, weil
es eine bestehende Kassenmitgliedschaft für die Klägerin nicht änderte. Allerdings können nach dem neuen Recht
versicherungspflichtig Beschäftigte wie die Klägerin nach Abs 1 des § 173 SGB V unter den in Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis
6 dieser Vorschrift genannten Krankenkassen wählen. Die Klägerin hat bis März 1998 keine andere Kasse gewählt.
Die Wahl der beigeladenen BKK zum 1. April 1998 hat zu diesem Zeitpunkt nicht zu einem Kassenwechsel geführt.
Nach § 175 Abs 1 Satz 1 SGB V ist die Ausübung des Wahlrechts gegenüber der gewählten Kasse zu erklären. Dabei
hängt der Kassenwechsel nach § 175 Abs 4 Satz 2 SGB V auch von einer Kündigung der Mitgliedschaft bei der
bisherigen Kasse ab. Die Kündigung ist nur mit einer Frist von drei Monaten zum Ende des Kalenderjahres zulässig
und nach § 175 Abs 4 Satz 4 SGB V nur wirksam, wenn das Mitglied innerhalb der Kündigungsfrist eine
Mitgliedschaft bei einer anderen Krankenkasse durch eine Mitgliedsbescheinigung nachweist. Nach dieser Regelung
des Abs 4 kam, wie nicht umstritten ist, für die Klägerin ein Kassenwechsel während des Kalenderjahres 1998 zum 1.
April nicht in Betracht. Abs 5 des § 175 SGB V bestimmt jedoch, daß Abs 4 nicht für Versicherungspflichtige gilt, die
durch die Errichtung oder Ausdehnung einer Betriebs- oder Innungskrankenkasse oder durch betriebliche
Veränderungen Mitglieder einer Betriebs- oder Innungskrankenkasse werden können, wenn sie die Wahl innerhalb von
zwei Wochen nach dem Zeitpunkt der Errichtung, Ausdehnung oder betrieblichen Veränderung ausüben. Die Klägerin
gehört nicht zu den Versicherungspflichtigen, für welche die beigeladene BKK zum Zeitpunkt ihrer Errichtung (1. April
1998) wählbar war.
Der Senat hat schon in seinem Urteil vom 8. Oktober 1998 (SozR 3-2500 § 175 Nr 3 S 15 oben und S 16 unten)
dargelegt, daß eine neu errichtete BKK sofort nur von denjenigen Versicherungspflichtigen gewählt werden kann, die
in Betrieben beschäftigt sind, auf die sich die neue Kasse erstreckt; es bestehe kein Anlaß, weiteren Gruppen die
vorzeitige Ausübung des Wahlrechts zugunsten der BKK zu gestatten. Dementsprechend wurde damals nach dem
zulässigen sofortigen Beitritt einer in einem BKK-Betrieb versicherungspflichtig Beschäftigten ihrem woanders
versicherungspflichtig beschäftigten Ehemann der Kassenwechsel im Laufe des Kalenderjahres versagt. Er konnte
die BKK als Kasse des Ehegatten (§ 173 Abs 2 Satz 1 Nr 6 SGB V) nach § 175 Abs 4 Satz 2 SGB V frühestens zum
nächsten Jahreswechsel wählen. Entsprechendes gilt für die Klägerin des vorliegenden Verfahrens. Bei ihr beruht die
Wählbarkeit der beigeladenen BKK nicht auf einer Beschäftigung in einem BKK-Betrieb und damit auf dem Wahlrecht
nach Nr 3 des § 173 Abs 2 Satz 1 SGB V, bei dem allein der sofortige Kassenwechsel nach § 175 Abs 5 SGB V
zulässig ist. Vielmehr kann die Klägerin die BKK lediglich nach Nr 4 des § 173 Abs 2 Satz 1 SGB V wählen, weil sich
die BKK geöffnet hat. Dieses Wahlrecht darf nicht nach § 175 Abs 5 SGB V sofort, sondern kann frühestens zum
nächsten Jahreswechsel ausgeübt werden.
Die Öffnung einer BKK oder Innungskrankenkasse (IKK) gehört nicht zur Errichtung oder Ausdehnung solcher
Kassen, die nach § 175 Abs 5 SGB V ein sofortiges Wahlrecht für Betriebsfremde begründet. Unter der Errichtung
einer BKK ist hier wie in § 147 Abs 1 SGB V die Gründung durch einen Arbeitgeber für einen oder mehrere Betriebe zu
verstehen. Ebenso ist nach Maßgabe des § 157 Abs 1 SGB V die Errichtung einer IKK nur für Handwerksbetriebe
zulässig. Die Errichtung hängt bei beiden Kassenarten davon ab, daß in den Betrieben regelmäßig mindestens 1.000
Versicherungspflichtige beschäftigt werden (§ 147 Abs 1 Nr 1, § 157 Abs 2 Nr 1 SGB V). Die Errichtung bedarf der
Zustimmung der Mehrheit der in den Betrieben Beschäftigten (§ 148 Abs 2 Satz 1, § 158 Abs 2 SGB V). Die
Errichtung ist daher betriebsbezogen. Das gilt auch für die in § 175 Abs 5 SGB V neben der Errichtung genannte
Ausdehnung von BKK und IKK auf weitere Betriebe (§§ 149, 159 SGB V). Die Betriebsbezogenheit der Errichtung und
der Ausdehnung wird in § 175 Abs 5 SGB V dadurch bestätigt, daß in dieser Vorschrift außerdem nur noch
"betriebliche" Veränderungen als Grund für das sofortige Wahlrecht genannt sind.
Hiernach besteht dieses Wahlrecht nicht, wenn sich eine bestehende BKK oder IKK nachträglich öffnet und damit für
Betriebsfremde das Wahlrecht des § 173 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V begründet wird. Die Öffnung ist kein Errichtungs-
oder Ausdehnungsvorgang iS des § 175 Abs 5 SGB V. Nichts anderes gilt, wenn die Öffnungsklausel schon bei der
Errichtung der Kasse in die Satzung aufgenommen wird. Die Öffnung wird dadurch nicht zu einem Teil der Errichtung
iS des § 175 Abs 5 SGB V. Der gegenteiligen Ansicht der Revision vermag der Senat nicht zu folgen. Sie meint, die
Errichtungserfordernisse einer dauerhaften Sicherung der Leistungsfähigkeit der neuen Kasse (§ 147 Abs 1 Nr 2, §
157 Abs 2 Nr 2 SGB V) und der zu erwartenden Mindestzahl von 1.000 Mitgliedern (§ 148 Abs 1 Satz 2, § 158 Abs 1
Satz 2 SGB V) müßten bei Kassen, die sich zugleich mit der Errichtung öffneten, auch durch den sofortigen Beitritt
Betriebsfremder erfüllt werden können. Dagegen spricht jedoch, daß diese Anforderungen an die Errichtung im
Zusammenhang mit den bereits genannten betriebsbezogenen Errichtungserfordernissen stehen und deshalb
ebenfalls betriebsbezogen zu verstehen sind. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992
(BGBl I 2266) ist die Errichtung von BKK und IKK deutlich erschwert worden. Die Zahl der erforderlichen in den
Betrieben versicherungspflichtig Beschäftigten und die Mindestzahl der zu erwartenden Kassenmitglieder wurde mit
Wirkung vom 1. Januar 1993 von jeweils 450 auf 1.000 erhöht (§ 147 Abs 1 Nr 1 und § 157 Abs 2 Nr 1 SGB V idF des
Art 1 Nr 94 Buchst a Doppelbuchst aa und Nr 104 Buchst a GSG; § 148 Abs 1 Satz 2 und § 158 Abs 1 Satz 2 SGB V
idF des Art 1 Nr 95 Buchst a und Nr 105 Buchst a GSG; Art 35 Abs 1 GSG). Das Gesetz und seine Materialien
enthalten demgegenüber keinen Hinweis darauf, daß die Öffnung der Kassen, die durch Art 1 Nr 116 GSG in § 173
Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V bei den Wahlrechten geregelt wurde und erst am 1. Januar 1996 in Kraft trat (Art 35 Abs 6
GSG), nunmehr für Betriebsfremde ein sofortiges Beitrittsrecht begründen und damit die Errichtung von BKK und IKK
erleichtern sollte (vgl den Gesetzentwurf BT-Drucks 12/3608 S 109 ff; Bericht des Bundestags-Ausschusses für
Gesundheit BT-Drucks 12/3937 S 16/17). Das Gesetz enthält Sonderregelungen für geöffnete Kassen außer in der
eine nachträgliche Öffnung betreffenden Vorschrift des § 147 Abs 2 Satz 10 SGB V erst bei der Vereinigung, dem
Ausscheiden von Betrieben, der Auflösung und der Schließung von Kassen (vgl § 151 Abs 2 Satz 2, § 152 Satz 3, §
153 Satz 1 Nr 1, § 155 Abs 4 Satz 4, § 161 Satz 4, § 162 Satz 4, § 163 Satz 3 SGB V). Für die Errichtung wird
jedoch von den betriebsbezogenen Errichtungserfordernissen nicht abgesehen. Die gegenteilige Ansicht der Revision
würde zu dem Ergebnis führen, daß die Errichtung einer BKK oder IKK zur Gründung von Kassen dienen könnte, die
schon im Zeitpunkt ihrer Errichtung nur betriebsüberschreitend existenzfähig wären. Das entspricht nicht den
gesetzlichen Vorschriften über die Errichtung solcher Kassen (ebenso Schermer in GKV-Komm, § 175 SGB V RdNrn
41a bis 41c, Stand Februar 1999). Den Überlegungen zum Wettbewerb unter den Kassen, die vom LSG und der
Revision angestellt worden sind, kommt für die Entscheidung keine wesentliche Bedeutung zu, weil sie sich in der
einen oder anderen Richtung mit dem Gesetz und seinen Materialien nicht belegen lassen.
Die Klägerin und die beigeladene BKK können sich gegenüber der Beklagten nicht auf Vertrauensschutz berufen.
Darüber, ob die Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten mit dem 31. März 1998 endete, hat allein die Beklagte
zu entscheiden. Sie ist daran nicht gehindert, weil die Beigeladene ihrerseits die Klägerin als aufnahmefähig
angesehen hat. Wenn das BVA als Aufsichtsbehörde bei der Errichtung der Beigeladenen und der Genehmigung ihrer
Satzung (einschließlich der Öffnungsklausel) ihr gegenüber die Ansicht der Revision zur Zulässigkeit eines sofortigen
Kassenwechsels geteilt hat, so bindet das die Beklagte nicht und schafft ihr gegenüber insofern auch keinen
Vertrauensschutz. Nichts anderes gilt entgegen der Ansicht der Revision, weil das BVA auch Aufsichtsbehörde der
Beklagten ist. Denn als solche ist sie der Beklagten gegenüber nicht tätig geworden.
Bei dem Ergebnis, daß die Klägerin nicht nach § 175 Abs 5 SGB V sofort die Beigeladene wählen durfte, kann
offenbleiben, ob ein umgehender Kassenwechsel außerdem daran scheiterte, daß die Klägerin ihre Mitgliedschaft bei
der Beklagten nicht innerhalb der zweiwöchigen Beitrittsfrist zur BKK gekündigt hat. Es kommt in Betracht, daß Abs 5
des § 175 SGB V ungeachtet seiner weiten Fassung ("Absatz 4 gilt nicht") lediglich insofern eine Abweichung von
Abs 4 enthält, als anstelle des dort geregelten Kassenwechsels zum Jahresende ein vorzeitiger Wechsel während des
Kalenderjahres zugelassen wird, eine Kündigung gegenüber der bisherigen Kasse aber auch in diesem Fall erforderlich
ist. Dieses anzunehmen erscheint zur Vermeidung einer Fehlversicherung, für den Beitragseinzug und das
Leistungsrecht erforderlich, damit nicht die bisherige Kasse - wie hier die Beklagte - erst fast zwei Monate nach dem
Stichtag (1. April 1998) von einem beabsichtigten Kassenwechsel erfährt. Für den in Satz 3 des § 175 Abs 4 SGB V
geregelten weiteren Fall eines vorzeitigen Kassenwechsels, der in der 1998 geltenden Fassung des Satzes 3 bei einer
Beitragssatzerhöhung oder einer Leistungsveränderung zulässig war, wird jedenfalls eine Kündigung ausdrücklich
verlangt. Da sie im Sinne dieser Vorschrift durch die Klägerin nicht fristgerecht erfolgt ist, kann offenbleiben, ob die
Gründe des Abs 4 Satz 3 für einen Kassenwechsel nach dieser Vorschrift zum 1. April 1998 vorgelegen haben.
Hiernach erwies sich die Revision der Klägerin als unbegründet und war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.