Urteil des BSG vom 30.09.2009
BSG (kläger, operation, ärztliches gutachten, entfernung, diabetes mellitus, organ, bvg, leben, gesellschaft, verletzung)
BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 30.9.2009, B 9 SB 4/08 R
Schwerbehindertenrecht - GdB-Festsetzung - Teilhabe am Leben in der Gesellschaft -
Finalitätsprinzip - Zustand nach Tumorentfernung - Heilungsbewährung - abgrenzbare
und nennenswerte Schäden an anderen Organen
Leitsätze
1. Der GdB ist ausschließlich nach einer von Kausalitätserwägungen freien finalen Betrachtung
orientiert an den Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu bestimmen.
2. Es begegnet durchgreifenden Bedenken, mit der GdB-Bewertung eines Zustands nach
Tumorentfernung während der Heilungsbewährung auch abgrenzbare und nennenswerte
Schäden an anderen Organen zu erfassen, die nicht immer mit einer derartigen Behandlung
verbunden sind.
Tatbestand
1 Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem
Schwerbehindertenrecht.
2 Bei dem im Jahre 1954 geborenen Kläger wurde im April 2005 wegen eines multifokalen
Schilddrüsenkarzinoms links die Schilddrüse entfernt. Die Operation führte zur Verletzung
eines Stimmbandnervs.
3 Auf den vom Kläger im Juni 2005 angebrachten Antrag stellte das seinerzeit aufgrund des
Wohnsitzes des Klägers zuständige Amt für soziale Angelegenheiten K. mit Bescheid vom
12.8.2005 wegen einer "Gewebeveränderung der Schilddrüse" einen GdB von 50 fest.
Gestützt auf weitere medizinische Unterlagen und eine versorgungsärztliche Stellungnahme
wies das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung des Landes Rheinland-Pfalz mit
Bescheid vom 2.2.2006 den Widerspruch des Klägers zurück. Dabei wurden die
bestehenden Beeinträchtigungen wie folgt bezeichnet: "1. Gewebeveränderung der
Schilddrüse, 2. Heiserkeit bei Lähmung des rechten Stimmbandes". Die Beeinträchtigung zu
2. sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der Gesamt-GdB betrage weiterhin 50.
4 Das dagegen vom Kläger angerufene Sozialgericht Koblenz (SG) hat ua ein HNO-ärztliches
Gutachten eingeholt, das für die Stimmlippenlähmung rechts mit dauernder Heiserkeit einen
Einzel-GdB von 30 und für den Zustand nach Therapie eines Schilddrüsenkarzinoms einen
Einzel-GdB von 50 angenommen und den Gesamt-GdB mit 50 bewertet hat. Durch
Gerichtsbescheid vom 21.2.2007 hat das SG den angefochtenen Bescheid geändert und das
Land Rheinland-Pfalz verurteilt, den GdB des Klägers ab Antragstellung auf 60 zu
bemessen. Auf die dagegen gerichtete Berufung des Landes Rheinland-Pfalz hat das
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) ein viszeralchirurgisches Gutachten nach
Aktenlage eingeholt, das das erstinstanzlich eingeholte Gutachten hinsichtlich der Diagnose
und der Einzel-GdB-Werte bestätigt, hinsichtlich des Gesamt-GdB indes 60 vorgeschlagen
hat. Gestützt auf mehrere versorgungsärztliche Stellungnahmen hat das Land Rheinland-
Pfalz demgegenüber die Auffassung vertreten, dass bis zum Ablauf der Heilungsbewährung
der GdB nur in den Fällen höher als 50 zu bewerten sei, in denen der verbliebene Organ-
oder Gliedmaßenschaden bzw außergewöhnliche Folgeerscheinungen für sich allein einen
GdB von 50 rechtfertigten.
5 Durch Urteil vom 16.4.2008 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung
im Wesentlichen ausgeführt: Nach Entfernung eines malignen papillären oder follikulären
Schilddrüsentumors sei in den ersten fünf Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der
GdB während dieser Zeit betrage nach den Anhaltspunkten für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht
(AHP) 50. Ein derartiger Zustand liege vor. Die weiter beim Kläger verbliebene Verletzung
des Stimmbandnervs (einseitige Stimmbandlähmung) mit gravierenden
Kommunikationsstörungen, psychischer Beeinträchtigung und Heiserkeit rechtfertige isoliert
betrachtet einen GdB von 30. Nach den Anhaltspunkten berücksichtige der GdB-Wert
lediglich den regelhaft verbliebenen Organ- oder Gliedmaßenschaden. Außergewöhnliche
Folgen oder Begleiterscheinungen nach der operativen Entfernung seien zusätzlich zu
berücksichtigen. Die Sachverständigen hätten darauf hingewiesen, dass eine Verletzung
des Stimmbandnervs nach einer Operation der Schilddrüse in 0,3 % bis 20 % der Fälle
auftrete, sodass von einem regelmäßig verbleibenden Organschaden nicht ausgegangen
werden könne. Der verbleibende Schaden sei daher zusätzlich zu bewerten. Da dieser
Schaden allein einen GdB von 30 rechtfertige, betrage der GdB insgesamt 60.
6 Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Landes Rheinland-Pfalz hat der Senat die
Revision zugelassen, die auch eingelegt worden ist. Da der Kläger schon im Jahre 2007
nach H. verzogen war, hat der Senat mit Zustimmung der Beteiligten einen
Beteiligtenwechsel auf der Beklagtenseite vollzogen. Beklagt ist nunmehr die Freie und
Hansestadt Hamburg.
7 Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts, nämlich der Nr 26.1
Abs 3 AHP sowie ab 1.1.2009 des Teils B Nr 1 Buchst c der Anlage
"Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-Verordnung (Anl
VersMedV). Der GdB für die Entfernung eines malignen (Schilddrüsen-)Tumors während der
Heilungsbewährung sei erst dann zu erhöhen, wenn der Organschaden/die
außergewöhnlichen Folge- oder Begleiterscheinungen der Behandlung für sich genommen
einen GdB von mindestens 50 bedingten, was hier nicht der Fall sei.
8 Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 16.4.2008 sowie den Gerichtsbescheid des SG
Koblenz vom 21.2.2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
9 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
10 Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
11 Der Senat hat mit Schreiben vom 29.7.2009 eine Auskunft des Ärztlichen
Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und
Soziales eingeholt, die unter dem 3.9.2009 abgegeben worden ist.
Entscheidungsgründe
12 Die Revision der Beklagten ist zulässig aber nicht begründet.
13 Richtiger Klagegegner ist infolge des Umzugs des Klägers nach Hamburg die Freie und
Hansestadt Hamburg. Im Streitverfahren um die Feststellung eines höheren GdB nach § 69
SGB IX hat der Wechsel der Verwaltungszuständigkeit durch Umzug des Klägers (§ 69 Abs
1 Satz 3 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der
Kriegsopferversorgung ) im sozialgerichtlichen Verfahren einen
Beklagtenwechsel kraft Gesetzes zur Folge (BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6; BSG
SozR 4-2500 § 109 Nr 6; zuletzt für die Folgen einer Übertragung der
Verwaltungszuständigkeit durch Landesgesetz, Bundessozialgericht , Urteil vom
25.6.2009 - B 10 EG 9/08 R -) . Das gilt - anders als bei reinen Anfechtungsklagen -
uneingeschränkt für die auf ein behördliches Tun in der Zukunft gerichteten kombinierten
Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 13) ,
weil allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger den
beanspruchten Verwaltungsakt erlassen kann (zur ähnlichen Sachlage bei kombinierter
Anfechtungs- und Leistungsklage s BSG, Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - RdNr 23) .
14 Der Kläger hat im vorliegenden Verfahren eine statthafte Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage erhoben, denn er erstrebt neben der entsprechenden Änderung des
angefochtenen Bescheides vom 12.8.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
2.2.2006 die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des GdB auf 60 (zur statthaften
Klageart s BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 18 und Nr 9 RdNr 18).
15 Zutreffend hat das LSG die Entscheidung des SG bestätigt, das dem Klageantrag gefolgt ist
und das seinerzeit beklagte Land zur Feststellung des GdB auf 60 verpflichtet hat. Die
dagegen gerichtete Revision der Beklagten ist nicht begründet.
16 Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 50
ist § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606; aF) sowie -
für die Zeit ab 21.12.2007 - idF des Gesetzes vom 13.12.2007 (BGBl I 2904; nF) . Nach § 69
Abs 1 Satz 1 SGB IX (beider Fassungen) stellen die für die Durchführung des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten
Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB
fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX (beider Fassungen) die
Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft
festgestellt. Gemäß § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX aF gelten die Maßstäbe des § 30 Abs 1 BVG
entsprechend (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 7 RdNr 22 mwN) . In § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX nF
wird zusätzlich auf die auf Grund des § 30 Abs 17 BVG erlassene Rechtsverordnung Bezug
genommen. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft,
wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX (beider Fassungen) nach den Auswirkungen
der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen
Beziehungen festgestellt.
17 Durch den Verweis auf die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG festgelegten Maßstäbe stellt §
69 SGB IX auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, dessen Ausgangspunkt die
"Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äußerer Körperschäden iS der
Nr 5 Allgemeine Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG sind. Von diesen
Mindestvomhundertsätzen leiten sich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung
und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der
AHP ab. Anzuwenden sind vorliegend für die Zeit ab Antragstellung im Mai 2005 bis zum
Ende des Jahres 2007 die AHP 2005, danach bis Ende des Jahres 2008 die AHP 2008. Für
die Zeit ab 1.1.2009 ist die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs
1 und des § 35 Abs 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (VersMedV)
Grundlage für die Feststellung des GdB. Aus diesem Wechsel ergeben sich hier keine
Abweichungen, da der Wortlaut der maßgebenden Abschnitte der AHP sowie der Anlage zu
§ 2 VersMedV "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anl VersMedV) identisch ist.
18 Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur
vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm
abweichenden) Zuständen (s § 2 Abs 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden
Teilhabebeeinträchtigungen festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese den in den
AHP/der Anl VersMedV genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-
GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der
Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl Nr 19 Abs 3 AHP/A3 Anl 3 VersMedV) -
in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der
einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen
der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden,
sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der
Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-
Tabelle der AHP 2005 feste Grade angegeben sind (vgl Nr 19 Abs 2 AHP/A3 b Anl
VersMedV) .
19 Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass die AHP
grundsätzlich den Maßstab angeben, nach dem der GdB einzuschätzen ist (BSGE 91, 205 =
SozR 4-3250 § 69 Nr 2; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9) . Bei den AHP handelt es sich um
antizipierte Sachverständigengutachten, die im konkreten Verwaltungs- und
Gerichtsverfahren zu beachten sind (zum Ganzen s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25
mwN) . Entsprechendes gilt für die seit dem 1.1.2009 in Kraft befindliche VersMedV als
verbindliche Rechtsquelle, die aufgrund der Bezugnahme in § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX auch
für das Verfahren der Feststellung einer Behinderung und des GdB gilt. Diese aufgrund des
§ 30 Abs 17 BVG durch das BMAS im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der
Verteidigung erlassene Rechtsverordnung ersetzt ab 1.1.2009 die bis dahin der
Rechtsanwendung zugrunde liegenden AHP. Anders als die AHP, die aus Gründen der
Gleichbehandlung in allen Verfahren hinsichtlich der Feststellung des GdB anzuwenden
waren und dadurch rechtsnormähnliche Wirkungen entfalteten, ist die VersMedV als
Rechtsverordnung verbindlich für Verwaltung und Gerichte. Sie ist indes, wie jede
untergesetzliche Rechtsnorm, auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen -
insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen (BSG, Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R -
RdNr 27, 30 mwN) . Sowohl die AHP als auch die VersMedV (nebst Anlage) sind im Lichte
der rechtlichen Vorgaben des § 69 SGB IX auszulegen und - bei Verstößen dagegen - nicht
anzuwenden (BSG, Urteil vom 23.4.2009, aaO, RdNr 30) .
20 Bei der Feststellung des (Gesamt)-GdB ist das seit jeher im Schwerbehindertenrecht
geltende Finalitätsprinzip (zum Rechtszustand nach dem Schwerbehindertengesetz s BSG
SozR 3870 § 57 Nr 1 RdNr 20) zu beachten, das sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs
1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs 1 und Abs 3
SGB IX festgeschrieben worden ist. Danach sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen
unabhängig von ihrem Entstehungsgrund zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B
9/9a SB 4/07 R - zum Begriff der sog Organkomplikationen unter Hinweis auf Knickrehm,
SGb 2008, 220, 221; s auch Nr 18 Abs 1 AHP/A2 a Anl VersMedV) . Das BSG (aaO) hat
dargelegt, dass möglicherweise durch eine Haupterkrankung (dort: Diabetes Mellitus)
hervorgerufene Gesundheitsstörungen (dort: zB Netzhautveränderungen etc) wie von der
Haupterkrankung unabhängig entstandene Gesundheitsstörungen zu behandeln sind und in
ihren Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit unabhängig von dem für die Haupterkrankung
festzustellenden Einzel-GdB separat zu berücksichtigen sind.
21 Entsprechendes gilt grundsätzlich für dem vorliegenden Fall vergleichbare
Fallkonstellationen, in denen die Operation wegen eines Hauptleidens (hier:
Schilddrüsenentfernung wegen Krebs) Beeinträchtigungen oder Verletzungen anderer
Organe (hier: Stimmbänder) hervorgerufen hat. Auch hier sind, ohne dass es auf den Grund
der Beeinträchtigung ankommt, grundsätzlich allein die Auswirkungen auf die
Teilhabefähigkeit für die Feststellung des GdB maßgebend.
22 Ausgehend von diesen rechtlichen Rahmenbedingungen hat das LSG von der Beklagten
unangegriffen in dem ersten genannten Verfahrensschritt die beim Kläger bestehenden nicht
nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG)
festgestellt.
23 Auch soweit das LSG in dem zweiten Verfahrensschritt diese Gesundheitsstörungen den in
den AHP und der Anl VersMedV genannten Funktionssystemen zugeordnet und jeweils mit
einem Einzel-GdB bewertet hat, sind diese Feststellungen für das Revisionsgericht bindend.
Der Schilddrüsenverlust nach Krebserkrankung ist dem Funktionssystem "Stoffwechsel,
innere Sekretion" (Nr 26.15 AHP/B 15 Anl VersMedV) zugeordnet, die Stimmbandlähmung
dem Funktionssystem "Mundhöhle, Rachenraum und obere Luftwege" (Nr 26.7 AHP/B 7 Anl
VersMedV) . Die entsprechend den Vorschlägen der medizinischen Sachverständigen
vorgenommene Feststellung der jeweiligen Einzel-GdB hat das LSG in Übereinstimmung mit
dem Inhalt bzw den Vorschriften der AHP/Anl VersMedV für die Schilddrüsenentfernung
nach malignen Tumor in den ersten fünf Jahren ohne Lymphknotenbefall mit 50 und für die
Stimmstörungen bei Stimmbandlähmung mit dauernder Heiserkeit mit 30 bewertet. Diese
Feststellung ist tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR
3870 § 3 Nr 26 S 83 f; zur Feststellung zur Minderung der Erwerbsfähigkeit in der
gesetzlichen Unfallversicherung als Tatsachenfeststellung s zuletzt BSG SozR 4-2700 § 56
Nr 2 RdNr 10 mwN) und kann im Revisionsverfahren nur durch entsprechende
Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl § 163 SGG). Derartige Rügen hat die Beklagte
indes nicht vorgebracht.
24 Schließlich ist auch die im dargestellten dritten Verfahrensschritt vorzunehmende
Einschätzung des Gesamt-GdB grundsätzlich tatrichterliche Feststellung. Auch insoweit hat
die Beklagte in tatsächlicher Hinsicht Revisionsrügen nicht vorgetragen.
25 Die Feststellung des Gesamt-GdB des Klägers mit 60 durch das LSG begegnet auch keinen
rechtlichen Bedenken. Entgegen dem Revisionsvorbringen erfordern weder die AHP noch
die Regelungen der Anl VersMedV eine andere Beurteilung. Neben den Passagen über
Schilddrüsenkrankheiten (Nr 26.15 AHP/B 15.6 Anl VersMedV) kommen dabei den
Allgemeinen Hinweisen zur GdB/MdE-Tabelle der AHP (dort Nr 26.1) sowie den
Allgemeinen Hinweisen zur GdS-Tabelle der VersMedV (dort B 1) besondere Bedeutung zu.
26 Gemäß Nr 26.1 AHP/B1 c Anl VersMedV ist nach Behandlung bestimmter Krankheiten, die
zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine
Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum der Heilungsbewährung beträgt in der Regel
fünf Jahre, und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere
Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der häufigsten und
wichtigsten solcher Krankheiten im Folgenden angegebenen GdB/MdE/GdS-Anhaltswerte
sind auf den "Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst
bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbliebenen Organ- oder Gliedmaßenschaden ein".
"Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - zB lang dauernde
schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind zusätzlich zu
berücksichtigen". Nr 26.15 AHP/B 15.6 Anl VersMedV bestimmen, dass nach Entfernung
eines malignen Schilddrüsentumors in den ersten fünf Jahren eine Heilungsbewährung
abzuwarten ist, und der GdB während dieser Zeit nach Entfernung eines papillären oder
follikulären Tumors ohne Lymphknotenbefall 50, sonst 80, beträgt. Bedingt der nach der
Entfernung verbliebene Organschaden einen GdB von 50 oder mehr, ist der während der
Heilungsbewährung anzusetzende Grad entsprechend höher zu bewerten.
27 Der Begriff des Organschadens wird dabei nicht näher bestimmt. Ob er unter Zuhilfenahme
der übergeordneten Grundsätze des Schwerbehindertenrechts bzw des Rechts der sozialen
Entschädigung insbesondere nach dem gesetzlich festgeschriebenen Finalitätsprinzip
definiert werden kann, muss hier nicht abschließend entschieden werden, denn eine eher
enge Auslegung des Begriffs führt zu einem Gesamt-GdB von 60. Bei einer eher weiten
Auslegung des Begriffs Organschaden ergäbe sich zwar unter Umständen ein Gesamt-GdB
von nur 50. Diese Feststellung verstieße indes gegen höherrangiges Recht, bei dessen
Beachtung der Gesamt-GdB ebenfalls auf 60 festzustellen ist.
28 Als engste Definition des Organschadens ist seine Begrenzung auf das vom Krebs befallene
und von der Operation betroffene Organ (hier die Schilddrüse) möglich. Denkbar ist
ebenfalls, den Begriff Organschaden auch auf die - anderen - Organe zu beziehen, die von
vornherein zwangsläufig von der Operation betroffen sind. Dazu zählen etwa die Folgen des
Schnittes durch das Organ Haut, ohne den die Entfernung von unter der Haut liegenden
Organen nicht möglich wäre. Die beim Kläger eingetretene Stimmbandlähmung gehört nicht
zu den notwendigen Folgen einer Schilddrüsenoperation; vielmehr tritt sie nach den
Feststellungen des LSG nur in 0,3 % bis 20 % der Fälle auf. Weiter könnten als
Organschaden die Schäden zusammengefasst werden, die mit dem von der Operation
betroffenen Organ nach den AHP und der Anl VersMedV demselben Funktionssystem
zugeordnet sind. Auch hier wäre - wie bei den beiden zuvor genannten
Begriffsbestimmungen - der Stimmbandschaden nicht dem auf die Schilddrüse bezogenen
Organschaden zuzurechnen, da er nicht dem Funktionssystem "Stoffwechsel, innere
Sekretion" sondern dem Funktionssystem "Mundhöhle, Rachenraum und obere Luftwege"
angehört. In allen drei Fällen der Auslegung des Begriffs Organschaden ergibt sich im
vorliegenden Fall ein Gesamt-GdB von 60, da der Stimmbandschaden immer separat zu
würdigen ist und er hier für sich allein einen GdB von 30 bedingt.
29 Bei einem vom Geschäftsführer des Sachverständigenbeirats in seiner Stellungnahme vom
3.9.2009 dargelegten Verständnis des Begriffs des Organschadens käme man allerdings zu
einem Gesamt-GdB von 50. Nach dieser Definition sollen auch alle regelhaften oder
außergewöhnlichen Komplikationen einer Operation als Organschaden angesehen werden,
unabhängig davon, an welchem Organ und mit welcher Häufigkeit sie auftreten. Auch
scheint es danach unerheblich zu sein, ob sie auf ärztlichen Fehlern beruhen oder nicht.
Indes erweist sich dieser Ansatz, der auch dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegt, aus
Rechtsgründen als unzutreffend.
30 Es ist aus Gründen verfassungsrechtlich durch Art 3 Abs 1 Grundgesetz gebotener
Gleichbehandlung bzw verbotener Ungleichbehandlung zwingend, den Gesamt-GdB
ausschließlich nach einer von Kausalitätserwägungen freien, rein finalen Betrachtung
orientiert an den Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 69 Abs 1
Satz 4, Abs 3 SGB IX) zu bestimmen. Dieses Gebot setzt auch der pauschalen GdB-
Bewertung eines Zustandes nach Organentfernung in der Heilungsbewährung Grenzen.
31 In Fällen identischer Teilhabebeeinträchtigungen muss der Gesamt-GdB identisch sein. In
dem Fall, in dem bei einer vorbestehenden Stimmbandlähmung eine
Schilddrüsenentfernung ohne Stimmbandnervenverletzung erfolgte, und in dem Fall, in dem
erst aufgrund der Schilddrüsenentfernung eine Stimmbandlähmung eingetreten ist, hat sich
bei ansonsten übereinstimmenden Verhältnissen derselbe GdB zu ergeben. Nach der
Rechtsauffassung der Beklagten und des Geschäftsführers des Sachverständigenbeirats
würde indes im erstgenannten Fall der Gesamt-GdB auf 60 festzustellen sein, wohingegen
im zweitgenannten Fall der Gesamt-GdB nur 50 betrüge.
32 Dementsprechend müssen sich auch unterschiedliche Teilhabebeeinträchtigungen auf die
GdB-Bewertung auswirken. In dem Fall, in dem die Schilddrüsenentfernung
komplikationslos erfolgt ist, beträgt der GdB im Rahmen der Heilungsbewährung 50. In dem
Fall, in dem - wie vorliegend - die Schilddrüsenentfernung zur Verletzung anderer Organe
mit dauerhaften Folgen geführt hat, ist folgerichtig der Gesamt-GdB unter Umständen höher
zu bewerten. Nach der Rechtsauffassung der Beklagten und des Geschäftsführers des
Sachverständigenbeirates würde indes in beiden Fällen der GdB mit 50 festzustellen sein,
jedenfalls solange der verbliebene - umfassend verstandene - "Organschaden" einen GdB
von unter 50 bedingt.
33 Zwar kann die Ungleichbehandlung gleicher und die Gleichbehandlung ungleicher
Sachverhalte bei Bestehen eines sachlichen Grundes gerechtfertigt sein (stRspr des
Bundesverfassungsgerichts BverfGE 55, 78, 88; 76, 256, 329; 88, 87, 96f; 101, 239, 270;
105, 73, 110 = SozR 3-1100 Art 3 Nr 176) . Für die Vorgehensweise der Beklagten sieht der
erkennende Senat jedoch keinen hinreichenden Grund. Es mag geboten sein, den GdB im
Rahmen der Heilungsbewährung relativ großzügig pauschal zu bemessen. Damit wird den
im Einzelnen schwer einschätzbaren (auch psychischen) Auswirkungen eines Zustandes
nach Primärbehandlung einer bösartigen Geschwulsterkrankung Rechnung getragen.
Durchgreifenden Bedenken begegnet es indes, wenn mit einer derartigen Pauschalierung
auch abgrenzbare und nennenswerte Schäden an anderen Organen erfasst werden sollen,
die nicht immer mit einer derartigen Behandlung verbunden sind. Soweit die Zuerkennung
des GdB von 50 bei Menschen, für die der Zustand nach Entfernung eines Tumors keine
besonderen Beeinträchtigungen mit sich bringt, im Einzelfall "zu großzügig" erscheint, kann
dieser Umstand nicht durch ein extensives Verständnis des Begriffes "Organschaden" und
die damit verbundene Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte bzw Ungleichbehandlung
gleicher Sachverhalte zu Lasten der Menschen behoben werden, deren Krebsoperation
nicht komplikationslos verlaufen ist und Schäden an anderen Organen mit sich gebracht hat.
Eine als "zu großzügig" anzusehende GdB-Bewertung der Folgen einer Krebsoperation
kann vielmehr nur durch eine weitere Differenzierung bzw Konkretisierung der Regelungen
über die Heilungsbewährung erreicht werden.
34 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.