Urteil des BSG vom 13.07.2010

BSG: sozialhilfe, gewalt, analogie, rechtshängigkeit, öffentlich, rka, verzinsung, rechtsgrundlage, jugendhilfe, sozialversicherung

Bundessozialgericht
Urteil vom 13.07.2010
Sozialgericht Hamburg S 54 SO 610/05
Landessozialgericht Hamburg L 4 SO 16/08
Bundessozialgericht B 8 SO 10/10 R
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. Dezember 2009 im
Kostenausspruch und insoweit aufgehoben, als der Beklagte verurteilt worden ist, Prozesszinsen zu zahlen. Die
Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 6. Mai 2008 wird insoweit
zurückgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben. Der Streitwert für das
Revisionsverfahren wird auf 5563,90 Euro festgesetzt.
Gründe:
I
1
Im Streit ist (noch), ob der Beklagte der Klägerin Prozesszinsen aus einer Erstattungsforderung der Klägerin für die
Zeit der Rechtshängigkeit des Ausgleichsanspruchs vom 28.11.2005 bis zur Begleichung der Forderung am 3.2.2010
zu zahlen hat.
2
Zwischen der Klägerin und dem Beklagten war die Erstattung einer Kostenforderung für erbrachte Hilfeleistungen
zugunsten des Hilfeempfängers G in Höhe von 18 887,95 Euro im Streit. Das Sozialgericht Hamburg (SG) hat den
Beklagten zur Zahlung verurteilt, hinsichtlich der Zinsforderung aber die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom
6.5.2008). Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat auf die Berufung des Beklagten die Hauptforderung bei
teilweiser Zug-um-Zug-Verurteilung auf 18 683,62 Euro reduziert und den Beklagten unter Änderung des
Gerichtsbescheids - bei Berufungszurückweisung im Übrigen - verurteilt, Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen (Urteil vom 3.12.2009). Zur Begründung hat es im
Wesentlichen ausgeführt, für Erstattungsansprüche zweier Sozialhilfeträger untereinander nach § 107
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) seien Prozesszinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz unter sinngemäßer
Anwendung der §§ 291, 288 Abs 1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu entrichten.
3
Mit der Revision rügt der Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 291 BGB analog). Er verweist darauf, dass es
nach der Rechtsprechung des Senats (Urteile vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R -, BSGE 102, 10 ff = SozR 4-2500 §
264 Nr 2, und vom 2.2.2010 - B 8 SO 22/08 R) an einer Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Erstattung von
Prozesszinsen fehle.
4
Der Beklagte beantragt (sinngemäß), das Urteil des LSG aufzuheben, soweit es die Verurteilung zur Zahlung von
Prozesszinsen betrifft, und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG insoweit zurückzuweisen.
5
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
6
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
7
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§
124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
II
8
Die Revision ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Der Klägerin stehen Prozesszinsen unter keinem rechtlichen
Gesichtspunkt zu.
9
Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 2.2.2010 - B 8 SO 22/08 R - Juris RdNr 8) scheidet § 108 Abs 2
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X), wonach ein
Erstattungsanspruch der Träger der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe von anderen
Leistungsträgern unter bestimmten weiteren Voraussetzungen auf Antrag mit 4 vH zu verzinsen sind, als
Anspruchsgrundlage im Verhältnis der Träger der Sozialhilfe untereinander aus (BVerwGE 114, 61, 63; Roller in von
Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 108 RdNr 7; BT-Drucks 13/3904, S 48 zu Art 2a rechte Spalte). § 44 Abs 1
Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) sieht nur eine Verzinsung von Sozialleistungen vor und
kann auf das Verhältnis der Sozialleistungsträger untereinander nicht entsprechend angewandt werden (BSGE 49,
227, 229 = SozR 1200 § 44 Nr 2 S 9; vgl auch Mrozynski, SGB I, 3. Aufl 2003, § 44 RdNr 11).
10
Wie der Senat ferner bereits entschieden hat (Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R -, BSGE 102, 10 ff RdNr 15 bis
17 mwN = SozR 4-2500 § 264 Nr 2), kommt auch die analoge Anwendung des § 291 BGB nicht in Betracht. Es
entspricht der (auch vom LSG in Bezug genommenen) ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im
Bereich der Sozialversicherung, dass für Erstattungsansprüche der Sozialleistungsträger untereinander
Prozesszinsen nicht zu entrichten sind, weil es dafür an einer ausdrücklichen sozialrechtlichen Anspruchsgrundlage
und mangels planwidriger Regelungslücke auch an den Voraussetzungen für eine Analogie fehlt (BSGE 49, 227, 229
mwN = SozR 1200 § 44 Nr 2 S 10; BSGE 99, 102 = SozR 4-2500 § 19 Nr 4). Dass dies in gleicher Weise im Bereich
der Sozialhilfe gilt, hat der Senat im bezeichneten Urteil vom 28.10.2008 bereits entschieden und ausgeführt, dass er
die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) nicht fortsetze, das Trägern der
Sozialhilfe nach dem bis zum 31.12.2004 geltenden BSHG in Erstattungsstreitigkeiten untereinander Prozesszinsen
in entsprechender Anwendung des § 291 BGB zugebilligt hatte (vgl BVerwGE 111, 213, 219 = Buchholz 436.0 § 103
BSHG Nr 2 S 6). Insoweit macht es - entgegen der Ansicht der Klägerin - keinen Unterschied, ob die Sozialhilfe noch
nach den Bestimmungen des BSHG oder - ab 1.1.2005 - unter Geltung des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch -
Sozialhilfe - (SGB XII) gezahlt worden ist. Die entgegenstehende Rechtsprechung des BVerwG, das für
revisionsrechtliche Streitverfahren in Sozialhilfesachen ab 1.1.2005 nicht mehr zuständig ist, hat der Senat
ausdrücklich aufgegeben.
11
Wie der Senat in seinen zitierten Entscheidungen bereits ausgeführt hat, gibt es keine grundsätzlichen Unterschiede
zwischen Sozialhilfe- und Sozialversicherungsträgern, die es rechtfertigten, die Sozialhilfeträger anders als die
Sozialleistungsträger durch eine Analogie des § 291 BGB in den Genuss von Prozesszinsen zu bringen. Ein
entsprechender Zinsanspruch lässt sich auch nicht aus übergeordneten Gesichtspunkten des Verfassungsrechts,
insbesondere aus Art 20 Abs 3 Grundgesetz, herleiten. Dass die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden
ist, führt nicht zu einem Rechtsanspruch auf eine bestimmte Leistung. Dies gilt umso mehr im Verhältnis zweier
Träger der vollziehenden Gewalt untereinander.
12
Soweit das BSG insbesondere bei Prozesszinsen anders entschieden hat (s dazu Müller, SGb 2010, 336 ff) betrifft
dies jedenfalls nicht Erstattungsstreitigkeiten der Sozialhilfeträger untereinander; die Urteile des 1., 3. und 6. Senats
hatten vertragliche Beziehungen der Träger untereinander als Grundlage. Außerhalb vertraglicher Beziehungen
verbleibt es demgegenüber bei der ständigen Rechtsprechung des BSG, wonach die Regelungen des BGB über
Prozesszinsen auf öffentlich-rechtliche Forderungen aus dem Bereich des Sozialrechts nicht entsprechend anwendbar
sind (vgl: BSGE 32, 52 ff = SozR Nr 4 zu § 223 RVO; BSGE 49, 227 ff = SozR 1200 § 44 Nr 2; BSGE 55, 45 ff =
SozR 2100 § 27 Nr 2; BSGE 71, 72 ff = SozR 3-7610 § 291 Nr 1; BSG SozR 1300 § 61 Nr 1; SozR 4100 § 56 Nr 21;
SozR 3-5595 § 2 Nr 1; BSG, Urteil vom 13.11.1996 - 6 RKa 78/95).
13
Die einheitliche Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 und 3 SGG iVm § 155 Abs 1 Satz 2, § 161 Abs 1
Verwaltungsgerichtsordnung. Insoweit gilt die Kostenprivilegierung der §§ 183 bis 195 SGG auch nicht bei
Erstattungsstreitigkeiten von Sozialhilfeträgern untereinander. Die Aufhebung der Kosten gegeneinander entspricht
dem (Gesamt-)Klageerfolg. Die Klägerin war letztlich in zwei Instanzen lediglich - mit Abstrichen in der
Berufungsinstanz - in Höhe der Hauptforderung erfolgreich; im Revisionsverfahren ist sie voll unterlegen. Unter
Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ergab sich eine etwa 50%ige Kostentragung jedes Beteiligten.
14
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52, 63 Abs 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz.