Urteil des BSG vom 21.11.2002

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Bundessozialgericht
Urteil vom 21.11.2002
Sozialgericht für das Saarland
Landessozialgericht für das Saarland
Bundessozialgericht B 3 KR 4/02 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. November 2001
aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen.
Gründe:
I
Der 1977 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger ist blind. 1997 kam er als Spätaussiedler
aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Er kann sich inzwischen auf Deutsch verständigen
und Texte mit Hilfe der Brailleschrift "lesen", ist aber bestrebt, seine deutschen Sprachkenntnisse in Wort und Schrift,
insbesondere auch in der Orthographie, zu vervollkommnen. Im Rahmen seiner berufsfördernden Grundausbildung hat
er gelernt, mit einem Personalcomputer (PC) zu arbeiten.
Die Beklagte hat 1999 den privaten PC des Klägers mit einem Lese-Sprech-Gerät ausgestattet. Es handelt sich um
das Vorlesegerät "Poet" mit Scanner, Sprachausgabe, Spezialtastatur und entsprechender Spezialsoftware (Wert
8.769,60 DM). Streitig ist, ob der PC zusätzlich mit einer so genannten Braillezeile auszurüsten ist. Dabei geht es um
ein Zusatzdisplay, auf dem ein vom Computer per Scanner eingelesener Text in vibrierenden Blindenschriftzeichen
wiedergegeben wird. Die Kosten belaufen sich nach dem eingeholten Kostenvoranschlag auf rund 15.000 DM (jetzt ca
7.500 EUR).
Den Antrag des Klägers, ihn mit diesem Zusatzdisplay zu versorgen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 27.
Dezember 1999, Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2000). Sie vertritt die Auffassung, der Kläger sei mit dem
bereitgestellten Lese-Sprech-Gerät ausreichend versorgt. Nach Angaben der Lieferfirma könnten damit auch
Arzneibeipackzettel, Kontoauszüge und Telefonbücher verarbeitet werden. Soweit der Kläger geltend mache, mit dem
Zusatzdisplay besser die deutsche Sprache erlernen zu können, falle dies nicht in die Zuständigkeit der
Krankenversicherung.
Dagegen hat der Kläger Klage erhoben. Er meint, der Erwerb guter deutscher Sprachkenntnisse in Wort und Schrift
gehöre bei Menschen, die auf Dauer in Deutschland leben, zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen
Lebens. Daher sei die Krankenversicherung leistungspflichtig.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 21. Februar 2001). Es hat die Beklagte unter
Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, den Kläger mit einer Braillezeile zum Vorlesegerät "Poet" zu
versorgen, und sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bezogen (Urteil vom 16. April 1998 - B 3
KR 6/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr 26). Nur durch die Braillezeile werde das Grundbedürfnis des Klägers auf
umfassende Information aus gedruckten Texten aller Art hinreichend ausgeglichen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage
abgewiesen (Urteil vom 21. November 2001): Die begehrte Braillezeile unterfalle nur dann der Leistungsverpflichtung
der Krankenversicherung, wenn der behinderte Versicherte ohne das Zusatzdisplay nicht in der Lage sei, im Rahmen
des allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke zu "lesen". Die Lieferfirma habe aber mitgeteilt,
dass hierfür das bewilligte Lese-Sprech-Gerät ausreiche; nach Angaben des Arztes komme der Kläger mit ihm auch
sehr gut zurecht. Da der Kläger das Zusatzdisplay vor allem benötige, um als volljähriger Spätaussiedler die deutsche
Rechtschreibung zu erlernen oder zu verbessern, sei die Krankenversicherung nicht leistungspflichtig. Die Förderung
der sozialen und kulturellen Integration von Spätaussiedlern sei Sache der Sozialhilfeträger, die nach den speziellen
Vorgaben des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ein solches Zusatzdisplay im Rahmen der Eingliederungshilfe zur
Verfügung stellen müssten.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 33 Abs 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).
Seinem Grundbedürfnis auf Information werde das Lese-Sprech-Gerät allein nicht hinreichend gerecht. Schon das
Zeitunglesen sei sehr umständlich und nur mit einer Hilfsperson möglich, weil von dieser die einzelnen Artikel vorher
für das Gerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssten. Ferner sei das "Lesen" von
Arzneibeipackzetteln, Kontoauszügen und Telefonbüchern nicht oder nur beschränkt möglich. Die Verbesserung der
deutschen Sprachkenntnisse in Wort und Schrift sei ein zusätzlicher wesentlicher Aspekt; auch hierfür seien bei
Spätaussiedlern die Krankenkassen zuständig, weil es um die Vermittlung elementarer Sprachkenntnisse und damit
um ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens gehe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. November 2001 zu ändern und die Berufung der
Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 21. Februar 2001 zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Das Gericht konnte über die Revision gemäß § 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach Lage der Akten entscheiden,
weil die Beteiligten im Termin nicht vertreten waren und sie auf diese Möglichkeit in der Ladung zur mündlichen
Verhandlung hingewiesen worden waren (§§ 165, 153 Abs 1, 110 Abs 1 Satz 2 SGG).
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und der Zurückverweisung
des Rechtsstreits an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Die
bisher getroffenen Feststellungen des LSG lassen keine abschließende - positive oder negative - Entscheidung der
Frage zu, ob die Beklagte dem Kläger die begehrte Braillezeile als Hilfsmittel der Krankenversicherung (§ 33 SGB V)
zur Verfügung zu stellen hat.
Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V idF durch das Gesetz vom 19. Juni 2001 (BGBl I S 1046) haben Versicherte einen
Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und
anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Fall),
einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Fall) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Fall), soweit die
Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB
V durch Rechtsverordnung ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung müssen
auch Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, und sie dürfen das Maß des Notwendigen
(Erforderlichen) nicht überschreiten; Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte
nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs 1
SGB V). Die Braillezeíle ist als auf den Gebrauch durch Blinde zugeschnittenes Gerät weder ein allgemeiner
Gebrauchsgegenstand noch nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen.
Allerdings kann der von den Beteiligten in den Vordergrund gerückte Gesichtspunkt, die Hilfe beim Erlernen der
deutschen Rechtschreibung, den Anspruch auf Ausstattung mit der Braillezeile nicht rechtfertigen. Insoweit ist der
Auffassung des LSG zuzustimmen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die hinreichende Beherrschung der
deutschen Sprache in Wort und Schrift, insbesondere die Rechtschreibung, bei Erwachsenen generell und bei
erwachsenen Spätaussiedlern im Besonderen ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens darstellt, das von
der Krankenversicherung durch entsprechende behindertengerechte Lernhilfen (Hilfsmittel) zu unterstützen ist. Der
Anspruch ist schon deshalb unbegründet, weil es für das Erlernen der deutschen Sprache in Wort und Schrift bereits
Schul- und Lesebücher in Brailleschrift gibt. Sie sind ggf im Wege der Eingliederungshilfe nach dem BSHG zu
finanzieren. Die Braillezeile ist insoweit kein zum Behinderungsausgleich "notwendiges" Hilfsmittel (§§ 2 Abs 4, 12
Abs 1, 33 Abs 1 SGB V).
Dies schließt einen Erfolg der Klage aber nicht aus.
Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 16. April 1998 - B 3 KR 6/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr 26), dass eine
solche Braillezeile von den Krankenkassen als Behinderungsausgleich grundsätzlich allen blinden Versicherten zur
Verfügung zu stellen ist, die über einen häuslichen PC nebst Lese-Sprech-Gerät verfügen und diesen selbst bedienen
können, wenn sie zur Befriedigung ihres allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke und Texte mit
Hilfe der Braillezeile "lesen" möchten, die von dem Lese-Sprech-Gerät nicht, unzulänglich oder nur mit unzumutbarem
Aufwand erfasst und in verständliche Sprache umgesetzt werden können. Grundlage dieser Entscheidung war der
technische Stand solcher Lese-Sprech-Geräte Mitte der 90er Jahre. Der Senat hat seinerzeit dazu ausgeführt, nach
dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 9. August 1994 (BArbl 10/1994, 155), das die
weit reichenden Erfahrungen der mit der Versorgung der Kriegsopfer befassten Behörden wiedergebe, sei mit einem
Lese-Sprech-Gerät schon das Zeitunglesen sehr umständlich und nur mit einer Hilfsperson möglich, da von dieser die
einzelnen Artikel vorher für das Lesegerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssten. Ferner sei das
einzelnen Artikel vorher für das Lesegerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssten. Ferner sei das
Lesen von Arzneibeipackzetteln, Kontoauszügen oder Telefonbüchern nicht oder nur beschränkt möglich, auch
könnten die Geräte spezielle Druckarten - wie Vielfarbdruck, Inversdruck oder Großdruck - nur schlecht oder gar nicht
verarbeiten. Umgekehrt sei mit der Braillezeile das "Lesen" jedes beliebigen gedruckten oder maschinenschriftlichen
Textes möglich (zB Briefe, Kontoauszüge, Telefonrechnungen, Formulare usw). Das Lesen der Tageszeitung sei
elementarer Bestandteil des allgemeinen Grundbedürfnisses "Information". Schon von daher sei die Versorgung mit
einer Braillezeile, die dieses Bedürfnis ohne größere Probleme befriedigen könne, geboten. Aber auch die
selbstständige Erfassung von alltäglichen Schriftstücken wie Rechnungen, Kontoauszügen, Prospekten gehöre zu
den Voraussetzungen, um sich im heutigen Leben zurecht zu finden. Auf die Hilfe von Familienangehörigen könne ein
Betroffener nicht verwiesen werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18). Ebenso wenig könne allein der Kostenaufwand
der Grund sein, ein als notwendig erkanntes Hilfsmittel zu verweigern.
An dieser Entscheidung ist grundsätzlich festzuhalten. Hiernach könnte ein Versorgungsanspruch nur dann abgelehnt
werden, wenn (1.) ein im Umgang mit einem PC vertrauter Versicherter Schriftstücke und Texte der genannten Art auf
Grund seiner persönlichen Lebenseinstellung und Bedürfnisse nicht oder nur in sehr geringem Umfang "lesen" möchte
- was beim Kläger nach den vorhandenen Feststellungen des LSG auszuschließen ist - oder wenn (2.) auf Grund des
zwischenzeitlich eingetretenen technischen Fortschritts die heutzutage auf dem Markt befindlichen Lese-Sprech-
Geräte, insbesondere das dem Kläger zur Verfügung gestellte Gerät, so ausgereift und technisch vervollkommnet
sind, dass die Mitte der 90er Jahre noch zu verzeichnenden Schwächen ganz oder nahezu vollständig beseitigt
worden und dadurch Braillezeilen insoweit überflüssig geworden sind.
Dazu fehlt es an hinreichenden Feststellungen des LSG. Insbesondere kann aus der Feststellung, der Kläger komme
subjektiv mit dem vorhandenen Lese-Sprech-Gerät "gut zurecht", nicht geschlossen werden, dass die in der
Entscheidung des Senats aus dem Jahre 1998 aufgezeigten Unzulänglichkeiten damals auf dem Markt erhältlicher
Lese-Sprech-Geräte, die zur prinzipiellen Bejahung eines Anspruchs betroffener Versicherter auf eine zusätzliche
Braillezeile geführt haben, infolge technischer Weiterentwicklung mittlerweile beseitigt sind, sodass vor allem fremde
Hilfe bei der Lektüre von Zeitungen (und Zeitschriften) als Schwerpunkt der täglichen Informationsbeschaffung nicht
mehr notwendig ist. Die weit gehende Unabhängigkeit behinderter Menschen von fremder Hilfe ist ein zentraler Aspekt
der Hilfsmittelversorgung im Bereich des Behinderungsausgleichs (§ 33 SGB V, §§ 1, 2 Neuntes Buch Sozialgesetz
(SGB IX)).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.