Urteil des BSG vom 08.11.2001
BSG: schutzwürdiges interesse, meinung, arbeitsausfall, vorverfahren, nacht, eugh, klagebefugnis, anerkennung, kündigung, verfahrensökonomie
Bundessozialgericht
Urteil vom 08.11.2001
Sozialgericht Marburg
Hessisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 11 AL 19/01 R
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Dezember 2000 wird mit der
Maßgabe zurückgewiesen, daß seine Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 16. Oktober 1997
als unzulässig verworfen wird. Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Kurzarbeitergeld (Kug).
Der im Jahre 1959 geborene Kläger war seit 1990 als Arzt bei der Klinik-Verwaltungs-Gesellschaft M in B , über deren
Vermögen am 1. März 1998 das Konkursverfahren eröffnet wurde, beschäftigt. Es war eine Grundarbeitszeit von 38,5
Stunden vereinbart. Zusätzlich leistete der Kläger durchschnittlich fünf Mal pro Monat Nacht- und Wochenenddienste.
Infolge eines erheblichen Rückgangs der Patientenzahlen schlossen Arbeitgeber und Betriebsrat am 22. November
1996 eine Betriebsvereinbarung über die Beschäftigungssicherung und Einführung von Kurzarbeit. Im Dezember 1996
erstattete der Arbeitgeber eine Anzeige über den Arbeitsausfall ab 1. Januar 1997 bis voraussichtlich 30. Juni 1997.
Mit Bescheid vom 2. Januar 1997 erkannte die Beklagte an, daß die Voraussetzungen der §§ 63, 64
Arbeitsförderungsgesetz (AFG) erfüllt seien und den vom Arbeitsausfall betroffenen Arbeitnehmern Kug ab 1. Januar
1997 für die Zeit des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen, längstens jedoch bis zum 30. Juni 1997, bewilligt
werde.
Der Arbeitgeber reichte im Februar 1997 Abrechnungslisten für den Monat Januar ein, aus denen sich für den Kläger
168,5 ausgefallene Arbeitsstunden ergaben. Auf der Grundlage der Abrechnungslisten bewilligte die Beklagte mit
Bescheid vom 27. Februar 1997, der dem Arbeitgeber zuging, 114.631,37 DM.
Gegen die Berechnung seines Kug legte der Kläger bei der Beklagten Widerspruch ein, da er neben der normalen
Wochenarbeitszeit vertraglich zur Ableistung von Nacht- und Wochenenddiensten verpflichtet sei. Der Widerspruch
wurde mit Widerspruchsbescheid vom 2. April 1997 als unbegründet zurückgewiesen. Im Widerspruchsbescheid heißt
es, es ergebe sich bei einem durchschnittlichen stündlichen Arbeitsentgelt von 31,16 DM ein Anspruch auf Kug in
Höhe von 10,16 DM je Ausfallstunde. Eine Berücksichtigung von Ausfallstunden, die über die tarifliche Arbeitszeit
hinausreichten, sei nach § 68 Abs 1 iVm § 69 AFG ausgeschlossen. Es errechne sich für den Kläger ein Anspruch
auf Kug in Höhe von 1.694,99 DM.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 16. Oktober 1997 die auf Gewährung von Kug auf der Grundlage von 230
Ausfallstunden für den Monat Januar 1997 gerichtete Klage als unzulässig abgewiesen und im wesentlichen
ausgeführt, nur der Arbeitgeber des Klägers sei - neben der Betriebsvertretung - Subjekt des Verwaltungsverfahrens.
Dementsprechend hätten die Anspruchsberechtigten keine Befugnis, ihre Rechte zu verfolgen. Im übrigen habe das
Gesetz bewußt nur diejenige Arbeitszeit berücksichtigt, die nach den Tarifverträgen dauerhaft vereinbart werden
könne.
Die Beklagte hat im Berufungsverfahren darauf hingewiesen, daß - ausgehend von 230 Ausfallstunden, welche der
Kläger unter Berücksichtigung seiner Bereitschaftsdienste insgesamt geltend mache - sich bei einer
Ausfallentschädigung von 10,16 DM pro Stunde 2.336,80 DM ergäben. Es verbleibe deshalb unter Berücksichtigung
der bereits anerkannten 168,5 Stunden lediglich ein vom Kläger geforderter Betrag in Höhe von 641,80 DM, weshalb
die für die Zulässigkeit einer Berufung erforderliche Mindesthöhe nicht erreicht werde.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurück- und die mit der Berufung erhobene Klage auf
Gewährung höheren Kugs für die Monate Februar bis Juni 1997 abgewiesen (Urteil vom 15. Dezember 2000). Das
LSG hat ausgeführt, es folge der Berechnung des Streitwertes durch die Beklagte. Dem Vortrag des Klägers,
Widerspruch und Klage hätten sich auf den Kug-Anspruch als solchen bezogen, stehe schon die Tatsache entgegen,
daß der Kläger selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem SG seinen Antrag auf den Monat Januar 1997
beschränkt habe. Eine Umdeutung der Berufung in eine Nichtzulassungsbeschwerde komme schon deshalb nicht in
Betracht, weil der Kläger der falschen Rechtsmittelbelehrung folgend wirklich Berufung habe einlegen wollen.
Jedenfalls dann, wenn Zulassungsgründe gemäß § 144 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf der Hand lägen, müsse
das LSG nach Überzeugung des Senats die Berufung zulassen und in der Sache entscheiden. Insofern sei
festzustellen, daß die Rechtssache in zweifacher Hinsicht grundsätzliche Bedeutung aufweise. Zum einen sei die
Frage der Prozeßstandschaft und der Klagebefugnis des Anspruchsinhabers selbst beim Kug äußerst strittig. Zum
anderen sei die Rechtsauffassung des SG und der Beklagten zur Berücksichtigung von Bereitschaftsdiensten mit der
neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) nicht vereinbar.
Die statthafte Berufung sei jedoch unbegründet. Das SG habe die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen. Zwar
sei der Kläger als Arbeitnehmer Inhaber des Kug-Anspruchs, aber der Arbeitgeber habe nach herrschender Meinung in
Anlehnung an prozeßrechtliche Vorstellungen im Verhältnis zu den Arbeitnehmern die Stellung eines
Prozeßstandschafters, der die Rechte der Arbeitnehmer im eigenen Namen geltend mache. Eine Klagebefugnis der
Anspruchsberechtigten selbst sei auch insoweit nicht anzuerkennen, als es sich um die "persönlichen
Voraussetzungen" des Anspruchs auf Kug handele. Die Prozeßführungsbefugnis könne sich nur auf den geltend
gemachten Anspruch als ganzes beziehen, nicht aber auf einzelne Elemente und ihre Begründung. Die gesetzliche
Verpflichtung des Arbeitgebers, das Kug als Treuhänder seiner Arbeitnehmer zu beantragen, sei jedenfalls eine mit
dem Arbeitsvertrag eng verbundene Pflicht des Arbeitgebers, welche im Hinblick auf seine Fürsorgepflicht aus dem
Arbeitsverhältnis auch in jedem Falle verfassungsrechtlich bedenkenfrei sei. Aus der Rechtsstellung des Arbeitgebers
und der Betriebsvertretung als Prozeßstandschafter folge, daß sie gemäß § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen
seien, wobei der beigeladene Konkursverwalter an die Stelle des Arbeitgebers getreten sei und im übrigen für die
Betriebsvertretung des in Liquidation befindlichen Unternehmens ein Restmandat bestehe. Es werde nicht verkannt,
daß diese Beschränkung der verfahrensrechtlichen Position des Arbeitnehmers in der Literatur mit beachtlichen
Argumenten angegriffen werde. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die materielle
Rechtsauffassung des SG kaum mit der Rechtsprechung des EuGH zur Frage der Berücksichtigung von
Bereitschaftsdiensten in Einklang zu bringen sei und überdies auch im Lichte der neueren Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Beitragsäquivalenz nicht mehr als unumstritten gelten könne. Wenn der
Senat gleichwohl der herrschenden Meinung folge, so habe dies zum einen den Grund in der Tatsache, daß es sich
um eine Frage handele, die das privatrechtliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer betreffe und
deswegen der arbeitsgerichtlichen Klärung offenstehe. Sollten sich hierbei zwischen der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) unüberbrückbare Widersprüche zeigen, so sehe
das Verfahrensrecht eine Klärung durch den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes vor. Dabei
sehe der Senat die Rechte der einzelnen Arbeitnehmer im übrigen durch die privilegierte Beteiligung des Betriebsrats
am Kug-Verfahren als besonders geschützt an. Schließlich würden auch Gründe der Verwaltungspraktikabilität für die
Auffassung der herrschenden Meinung sprechen. Die während des Berufungsverfahrens erhobene Klage sei als
unzulässig abzuweisen, weil das erforderliche Vorverfahren nicht durchgeführt sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 63 Abs 1 Satz 1, 65 Abs 1 Satz 1, 69
AFG sowie des Art 14 Abs 1 und Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG). Die von der Rechtsprechung angenommene
Prozeßstandschaft des Arbeitgebers sei vom Gesetz nicht ausdrücklich angeordnet und könne insbesondere nicht
ausnahmslos gelten. Der Rechtsprechung liege die Prämisse zugrunde, daß der Arbeitgeber zur Vertretung der
Interessen seiner Arbeitnehmer verpflichtet sei, auch wenn er die Ansicht der Arbeitsverwaltung zu Grund und Höhe
des Kug teile. Das BAG (Urteil vom 19. März 1992 - 8 AZR 301/91 -) habe indes entschieden, daß eine solche
Verpflichtung des Arbeitgebers gerade nicht bestehe. Es bestehe auch keine Schadensersatzpflicht gegenüber dem
Arbeitnehmer. Soweit die Verfahrensökonomie für einen Ausschluß des Arbeitnehmers vom Rechtsbehelfsverfahren
angeführt werde, überzeuge diese Argumentation jedenfalls heute nicht mehr. Anders als wohl noch zu Beginn der
Rechtsprechung des BSG sei die Arbeitsverwaltung heute mit allen technischen Hilfsmitteln zur Bewältigung von
Massenverfahren ausgestattet. Ebensowenig überzeuge das Argument, nur durch eine Prozeßstandschaft könnten
divergierende Entscheidungen vermieden werden. Denn auch bei einer Prozeßführungsbefugnis des Arbeitnehmers
sei eine Beiladung von Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung möglich. Jedenfalls müsse die Prozeßstandschaft
spätestens mit einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber enden. Ferner müsse der Arbeitgeber
gegen seine eigenen Interessen argumentieren. Denn die Anerkennung von Bereitschaftsdiensten als vollwertige
Arbeitszeit führe zu erheblichen finanziellen Mehraufwendungen. Der Verweis auf Ansprüche aus dem
Arbeitsverhältnis sei, selbst wenn diese Möglichkeit bestünde, unverständlich. Auch werde außer acht gelassen, daß
der frühere Arbeitgeber Konkurs gegangen sei. Die Versagung der Prozeßführungsbefugnis verletze sein
Eigentumsrecht in bezug auf seinen Anspruch auf Kug in der richtigen Höhe sowie sein Recht auf effektiven
Rechtsschutz aus Art 19 Abs 4 Satz 1 GG. Das LSG habe die Berufung zutreffend als zulässig behandelt. Ein
schutzwürdiges Interesse der beklagten Behörde an der ausschließlichen Möglichkeit einer
Nichtzulassungsbeschwerde habe sich nicht bilden können.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Dezember 2000 und das Urteil des Sozialgerichts Marburg
vom 16. Oktober 1997 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 13. Februar 1997 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. April 1997 zu verurteilen, ihm Kurzarbeitergeld auf der Grundlage von
230 Ausfallstunden für die Monate Januar 1997 bis Juni 1997 im gesetzlichen Umfang zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers hat im Ergebnis keinen Erfolg. Allerdings ist seine Berufung gegen das Urteil des SG nicht
als unbegründet zurückzuweisen, sondern als unzulässig zu verwerfen. Das LSG durfte über die Berufung des
Klägers mangels Zulässigkeit nicht sachlich entscheiden, weil der erforderliche Wert des Beschwerdegegenstandes
nicht erreicht und eine Zulassung nicht wirksam ausgesprochen war. Dies führt zur Verwerfung der Berufung, ohne
daß es darauf ankommt, ob die Klage zulässig war und ob dem Kläger höheres Kug materiell-rechtlich zusteht.
Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Satz 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des
Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten
Verwaltungsakt betrifft, 1.000 DM nicht übersteigt, es sei denn, daß die Berufung wiederkehrende oder laufende
Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Bei der Frage, ob iS des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Wert des
Beschwerdegegenstandes 1.000 DM übersteigt, ist lediglich auf die Leistung abzustellen, zu deren Zahlung verurteilt
werden soll. Folgewirkungen können nicht einbezogen werden (BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 11). Dem LSG ist deshalb
darin zu folgen, daß der Geldbetrag, um den im erstinstanzlichen Verfahren gestritten wurde, den in § 144 Abs 1 Satz
1 Nr 1 SGG genannten Wert nicht erreicht. Da der Kläger Kug lediglich für insgesamt 230 Ausfallstunden begehrt hat,
übersteigt bezogen auf den Monat Januar 1997 der Wert des Beschwerdegegenstandes unter Berücksichtigung der
bereits in Ansatz gebrachten 168,5 Ausfallstunden 1.000 DM nicht. Es sind auch keine wiederkehrenden oder
laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr im Streit. Die Berufung des Klägers bedurfte daher der Zulassung.
Die in den Gründen des Berufungsurteils ausgesprochene Berufungszulassung ist verfahrensfehlerhaft und führt nicht
zur Statthaftigkeit der Berufung. Für eine Zulassung des Rechtsmittels fehlt dem Berufungsgericht im
Berufungsverfahren die Entscheidungsmacht. Dies hat der 1. Senat des BSG mit Urteil vom 19. November 1996 - 1
RK 18/95 - (SozR 3-1500 § 158 Nr 1; bestätigt durch SozR 3-1500 § 158 Nr 3) näher ausgeführt. Auf die
Rechtsausführungen in diesem Urteil wird verwiesen. Der 14. Senat des BSG hat sich dieser Auffassung im Urteil
vom 22. Januar 1998 - B 14/10 KG 17/96 R - und der erkennende Senat im Urteil vom 11. Mai 1999 - B 11/10 AL 1/98
R - angeschlossen (vgl auch Roos NZS 1999, 182, 183). Neue rechtliche Gesichtspunkte ergeben sich aus dem
Vortrag des Klägers im Revisionsverfahren nicht. Soweit der 6. Senat des BSG in zwei Entscheidungen (SozR 3-2500
§ 106 Nr 42; BSGE 86, 86 = SozR 3-6855 Art 10d Nr 1) die Zulässigkeit der Berufung angenommen hat, betrifft dies
eine Zulassung aufgrund nachträglich erhobener Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschluss. Eine derartige
Gestaltung liegt hier nicht vor.
Im Ergebnis zu Recht hat das LSG die auf Gewährung höheren Kugs für die Monate Februar bis Juni 1997 gerichtete
Klage als unzulässig behandelt. Allerdings kann der vom LSG gegebenen Begründung, die mit der Berufung erhobene
Klage sei schon mangels Durchführung des erforderlichen Vorverfahrens unzulässig, nicht gefolgt werden. Denn das
LSG hat übersehen, daß es ausgehend von seiner Rechtsauffassung dem Kläger die Möglichkeit hätte eröffnen
müssen, das Vorverfahren nachzuholen (stRspr: vgl nur BSG SozR 1500 § 78 Nr 8 mwN). Die Unzulässigkeit der
Klageerweiterung im Berufungsverfahren ergibt sich jedoch daraus, daß eine Klageänderung im Berufungsverfahren
eine zulässige Berufung voraussetzt (BSGE 11, 26, 27; BGH NJW 1988, 2540, 2541 und 1999, 2118, 2119, jeweils
mwN). Da die im Urteil des SG enthaltene Beschwer den maßgebenden Beschwerdewert nicht erreicht, hat eine
Erweiterung des Klageanspruchs weder Einfluß auf die Zulässigkeit der Berufung noch kann dieser Anspruch im
Wege der Klage zulässigerweise verfolgt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.