Urteil des BSG vom 25.02.2010

BSG: altersrente, altersgrenze, schutz der familie, begünstigung, niedersachsen, arbeitslosigkeit, geburt, ausbildung, vertrauensschutz, bindungswirkung

Bundessozialgericht
Urteil vom 25.02.2010
Sozialgericht Stade S 4 RA 39/03
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 RA 210/04
Bundessozialgericht B 13 R 41/09 R
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28. April 2005 wird
zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu
erstatten.
Gründe:
I
1
Streitig ist, ob die Klägerin beanspruchen kann, die ihr seit dem 1.1.2002 gewährte Altersrente für Frauen
abschlagsfrei - dh mit Zugangsfaktor 1,0 statt 0,928 - bewilligt zu erhalten.
2
Die am 1941 geborene Klägerin ist Mutter von vier Kindern, die 1963, 1965, 1969 und 1971 geboren wurden. Ihr
Versicherungsverlauf weist die ersten Pflichtbeiträge ab 1.11.1974 auf; zuvor entrichtete Pflichtbeiträge für eine
Beschäftigung im Anschluss an ihre Ausbildung als Hotelfachfrau (1957 - 1959) vom 11.9.1959 bis zum 30.6.1962 hat
sie sich erstatten lassen. Nach ununterbrochener Entrichtung von Pflichtbeiträgen im Zeitraum 1.11.1974 bis
31.3.1988 nahm die Klägerin ab April 1988 ein Hochschulstudium auf, für das sie bis Januar 1990 Unterhaltsgeld nach
dem Arbeitsförderungsgesetz erhielt und das sie im November 1992 als Diplom-Sozialökonomin abschloss.
Nachfolgend hat sie in den Jahren 1994/95, 1996/97 und 2001 Zeiten der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug sowie
weitere Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt. Die für eine Altersrente für Frauen erforderlichen Pflichtbeiträge für eine
versicherte Beschäftigung nach Vollendung des 40. Lebensjahres von mehr als 10 Jahren (§ 237a Abs 1 Nr 3
Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI)) hat die Klägerin erfüllt, doch hat sie insgesamt lediglich 262 Monate an
Pflichtbeitragszeiten - darin enthalten 48 Monate Pflichtbeiträge für Kindererziehung - aufzuweisen.
3
Bereits im Rahmen eines Kontenklärungsverfahrens machte die Klägerin mit Widerspruch vom 4.4.2001 geltend, dass
die Heraufsetzung der Altersgrenze für eine Altersrente für Frauen sowie die Stichtagsregelungen in § 237a Abs 3
Satz 1 SGB VI Frauen diskriminiere, die Kinder geboren und damit zur Stabilisierung des Rentensystems beigetragen
hätten. Den Widerspruch nahm sie mit Schreiben vom 4.7.2001 zurück, erklärte aber im Schreiben vom 6.7.2001,
sich gleichwohl eine Überprüfung der Regelung auf ihre Verfassungsmäßigkeit vorbehalten zu wollen. Die Beklagte
behandelte dies als Überprüfungsantrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), lehnte jedoch eine
Änderung der im Versicherungsverlauf getroffenen Feststellungen ab (Bescheid vom 2.10.2001,
Widerspruchsbescheid vom 9.7.2002); eine gerichtliche Anfechtung ist insoweit nicht erfolgt.
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Am 3.1.2002 beantragte die Klägerin die vorzeitige Gewährung von Altersrente für Frauen ab 1.1.2002. Die Beklagte
bewilligte die Rente mit Bescheid vom 10.5.2002 auf der Grundlage von 36,9470 Entgeltpunkten und einem für 24
Monate vorzeitiger Inanspruchnahme um 0,072 reduzierten Zugangsfaktor von 0,928, was 34,2868 persönliche
Entgeltpunkte ergab (dh Reduzierung um 2,6602 Entgeltpunkte).
5
Der Widerspruch der Klägerin vom 4.6.2002, mit dem sie erneut eine verfassungswidrige Benachteiligung von Frauen
geltend gemacht hat, ist ebenso ohne Erfolg geblieben wie ihre nachfolgende Klage und Berufung
(Widerspruchsbescheid vom 16.1.2003, Urteile des Sozialgerichts (SG) Stade vom 22.6.2004 und des
Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 28.4.2005). Das LSG hat ausgeführt, die Klägerin könne sich
trotz ihrer Arbeitslosigkeit am 7.5.1996 nicht auf die Vertrauensschutzvorschrift des § 237a Abs 3 Satz 1 Nr 1 Buchst
a SGB VI berufen, da sie nach dem 7.5.1941 geboren und jene Norm somit nicht anwendbar sei. Die Anhebung der
Altersgrenze bei der Altersrente für Frauen und deren Abschaffung - 1. und 2. Stufe - seien mit dem Grundgesetz
(GG) vereinbar. Ein Anspruch auf Aufrechterhaltung der seit 1957 bestehenden Regelungen zur Altersrente für Frauen
könne auch nicht aus Art 6 GG hergeleitet werden. Denn dem Gesetzgeber komme bei dem ihm obliegenden Schutz
von Ehe und Familie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Es sei nicht geboten, sämtliche mit der Kindererziehung
zusammenhängenden wirtschaftlichen Belastungen auszugleichen, zumal auch die finanzielle Stabilität und
Funktionsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme zu gewährleisten sei.
6
Die Klägerin macht mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision weiterhin die Verfassungswidrigkeit der stufenweisen
Anhebung der Altersgrenze für die Altersrente für Frauen geltend. Nach ihrem ursprünglichen Vortrag verstoße die
gesetzliche Regelung insbesondere gegen "das Grundrecht auf Kontinuität und Vertrauensschutz", denn sie habe ihre
Lebensplanung darauf ausgerichtet, zum 1.4.2002 ohne Rentenabschlag Altersrente erhalten zu können. Zudem sei
Art 3 Abs 2 GG und auch Art 4 Abs 1 der Richtlinie 79/7/EWG verletzt, weil die streitbefangene Regelung zwar
geschlechtsneutral formuliert sei, faktisch aber überwiegend Frauen dadurch benachteilige, dass diesen der
erforderliche Nachteilsausgleich für Mehrfachbelastungen in der Nachkriegszeit entzogen werde. Schließlich sei die
gesetzliche Regelung nicht mit Art 6 Abs 4 GG vereinbar, da sie dem Schutzauftrag des Staates zugunsten von
Mutterschaft und Kindererziehung nicht gerecht werde.
7
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28.4.2005 und das Urteil des Sozialgerichts Stade
vom 22.6.2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10.5.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
16.1.2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Altersrente für Frauen ab 1.1.2002 ohne
Abschläge zu zahlen.
8
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Sie hält das Berufungsurteil für zutreffend und die zugrunde liegenden gesetzlichen Regelungen für
verfassungsgemäß.
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Der vormals für das Revisionsverfahren zuständige 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat mit Einverständnis
der Beteiligten im Hinblick auf in anderen Verfahren bereits ergangene Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse nach Art
100 Abs 1 GG den vorliegenden Rechtsstreit durch Beschluss vom 8.8.2006 (B 4 RA 25/05 R) in entsprechender
Anwendung von § 114 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgesetzt. Auf Antrag der Beklagten vom
21.4.2009, das Verfahren nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11.11.2008 (1 BvL
3/05 ua) fortzusetzen, hat der zwischenzeitlich für dieses Verfahren zuständig gewordene 13. Senat mit Beschluss
vom 21.1.2010 den Aussetzungsbeschluss aufgehoben.
11
Die Klägerin hält auch angesichts der Entscheidung des BVerfG vom 11.11.2008 weiterhin für klärungsbedürftig, ob
die Begünstigung aufgrund der 45-Jahre-Regelung in § 237a Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB VI eine Ungleichbehandlung bzw
faktische Benachteiligung weiblicher Versicherter bewirke. Insoweit habe das BVerfG - unter RdNr 74 seiner
Entscheidung - ausdrücklich offen gelassen, ob ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 iVm Art 6 Abs 1 GG vorliege.
12
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden
erklärt (§§ 165, 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG).
II
13
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das LSG hat zu Recht ihre Berufung gegen das die Klage abweisende
Urteil des SG zurückgewiesen, denn der von ihr angefochtene Rentenbescheid der Beklagten vom 10.5.2002 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.1.2003 entspricht dem geltenden Recht. Die Klägerin kann nicht
beanspruchen, von der Anhebung der Altersgrenze für eine Altersrente für Frauen gemäß § 237a Abs 2 SGB VI und
damit verbundenen Rentenabschlägen völlig verschont zu werden oder auf der Grundlage einer langsameren
Anhebung der Altersgrenze nach Maßgabe der Vertrauensschutzregelung in § 237a Abs 3 SGB VI ihre Altersrente mit
niedrigeren Abschlägen bewilligt zu erhalten. Eine möglicherweise durch die "45-Jahre-Regelung" in § 237a Abs 3
Satz 1 Nr 3 SGB VI unter bestimmten Umständen bewirkte Verletzung von Art 3 Abs 1 iVm Art 6 Abs 1 GG ist im
vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich; dies schließt eine Vorlage an das BVerfG zur verbindlichen
Klärung dieser Rechtsfrage aus.
14
1. Rechtsgrundlage des Anspruchs der Klägerin auf Altersrente für Frauen ist § 237a Abs 1 iVm Abs 2 SGB VI (idF
des Rentenreformgesetzes 1999 vom 16.12.1997, BGB I 2998). Die in § 237a Abs 1 SGB VI normierten
Anspruchsvoraussetzungen für diese Rentenart - Geburt vor dem 1.1.1952, Vollendung des 60. Lebensjahrs, mehr als
10 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung nach Vollendung des 40. Lebensjahrs, Erfüllung der
Wartezeit von 15 Jahren - hat die Klägerin allesamt bei Rentenbeginn am 1.1.2002 erfüllt. Damit kann sie ab dem
genannten Zeitpunkt diese Rentenleistung zumindest iS des § 237a Abs 2 Satz 2 und 3 SGB VI iVm Anlage 20 zum
SGB VI vorzeitig in Anspruch nehmen, wobei allerdings gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a SGB VI für jeden
Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme der Zugangsfaktor von 1,0 um jeweils 0,003 zu vermindern ist. Die
Beklagte hat in dem angefochtenen Rentenbescheid - ausgehend von einer für die im Dezember 1941 geborene
Klägerin gemäß Anlage 20 um 24 Monate auf 62 Jahre angehobenen Altersgrenze - den Zugangsfaktor auf (1,0 - 24 x
0,003 =) 0,928 festgesetzt; hierdurch hat sich die Rente der Klägerin um 7,2 % oder 2,6602 Entgeltpunkte (dh
ursprünglich um monatlich 67,34 Euro) ermäßigt. Über die rechnerische Richtigkeit dieser Bestimmung des
Zugangsfaktors für die Altersrente der Klägerin bei Zugrundelegung einer für sie maßgeblichen Altersgrenze von 62
Jahren besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.
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2. Die Klägerin kann nicht beanspruchen, dass die gesetzliche Regelung zur schrittweisen Anhebung der Altersgrenze
von ursprünglich 60 Jahren für die Inanspruchnahme einer Altersrente für Frauen gemäß § 237a Abs 2 Satz 1 und 3
SGB VI iVm Anlage 20 zum SGB VI wegen Verstoßes gegen das GG unangewendet bleibt.
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a) Dies ergibt sich allerdings - wie das LSG im Ergebnis zu Recht entschieden hat - nicht bereits daraus, dass die
Beklagte entsprechendes Vorbringen der Klägerin im Rahmen ihres Widerspruchs bzw ihres Überprüfungsantrags in
Bezug auf den Kontenklärungs-Feststellungsbescheid (Vormerkungsbescheid) vom 21.3.2001 bereits gewürdigt und
bestandskräftig abschlägig beschieden hätte. Denn Regelungsinhalt eines solchen Vormerkungsbescheids gemäß §
149 Abs 5 Satz 1 SGB VI ist lediglich die verbindliche Feststellung der im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten
zum Vorliegen oder Nichtvorliegen der für einen späteren Rentenanspruch möglicherweise bedeutsamen
rentenrelevanten Tatbestände, dh insbesondere zur Zurücklegung rentenrechtlicher Zeiten iS der §§ 54 bis 61 SGB VI
durch den Versicherten (vgl BSGE 100, 19 = SozR 4-2600 § 281 Nr 1, jeweils RdNr 19; BSG SozR 3-2600 § 149 Nr 6
S 14 f). Hierunter fallen die Angaben in dem Vormerkungsbescheid vom 21.3.2001 über den "frühesten Rentenbeginn
mit/ohne Abschlag" und zur maximalen Höhe des Abschlags nicht. Insoweit handelt es sich lediglich um nach dem
Gesetz ausdrücklich nicht rechtsverbindliche Rentenauskünfte gemäß § 109 Abs 1 und 4 SGB VI (idF des
Rentenreformgesetzes 1992 vom 18.12.1989, BGBl I 2261 - nunmehr § 109 Abs 2 und Abs 4 Nr 5 SGB VI idF des
Altersvermögensgesetzes vom 26.6.2001, BGBl I 1310), welche somit auch nicht von der Bindungswirkung eines
bestandskräftig gewordenen Vormerkungsbescheids (vgl § 77 SGG) umfasst sind. Deshalb sind die Einwendungen
der Klägerin gegen die Heraufsetzung der Altersgrenze und die Anwendung eines verminderten Zugangsfaktors im
Rahmen der gerichtlichen Überprüfung des Rentenbescheids ohne Rücksicht auf eventuelle Beschränkungen aufgrund
von § 44 SGB X zu prüfen.
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b) Die Vorschriften zur Anhebung der Altersgrenze für die Inanspruchnahme einer Altersrente für Frauen (§ 237a Abs
2 Satz 1 und 3 SGB VI iVm Anlage 20 zum SGB VI) und über die Festlegung von Rentenabschlägen bei vorzeitiger
Inanspruchnahme einer solchen Rente (§ 237a Abs 2 Satz 2 iVm § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a SGB VI) sind mit
dem GG vereinbar. Das hat das BVerfG zu der parallelen Problematik bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und
nach Altersteilzeitarbeit - s die inhaltsgleiche Vorschrift in § 237 Abs 3 iVm § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a) SGB VI
- bereits ausdrücklich entschieden (BVerfG, Beschluss vom 11.11.2008 - BVerfGE 122, 151 = SGb 2010, 30;
bekräftigt durch BVerfG (Kammer), Beschluss vom 5.2.2009 - NZS 2009, 621); hinsichtlich der Altersrente für Frauen
gilt nichts anderes (vgl BVerfG (Kammer), Beschluss vom 3.2.2004 - BVerfGK 2, 266 = SozR 4-2600 § 237a Nr 1).
Neue Gesichtspunkte, die das BVerfG in seinen überzeugenden Entscheidungen unberücksichtigt gelassen hätte,
konnte die Klägerin nicht aufzeigen. Der Senat hat deshalb keine Veranlassung, an der Verfassungsmäßigkeit der
Regelung zu zweifeln und sie erneut dem BVerfG nach Art 100 Abs 1 GG zur Entscheidung vorzulegen (s auch
Senatsurteil vom 19.11.2009 zur Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 236 SGB VI - B 13 R 5/09 R, SozR 4-
2600 § 236 Nr 1). Die Klägerin selbst macht nach Kenntnis der Entscheidung des BVerfG vom 11.11.2008 die
Verfassungswidrigkeit der allgemeinen Vorschriften zur Anhebung der Altersgrenze und zur Verminderung des
Zugangsfaktors bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente für Frauen auch nicht mehr geltend.
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3. Die Klägerin kann auch nicht verlangen, dass der Zugangsfaktor ihrer Altersrente für Frauen gemäß der günstigeren
Übergangsregelung in § 237a Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB VI lediglich für drei Kalendermonate einer vorzeitigen
Inanspruchnahme um 0,009 auf 0,991 gekürzt wird. Denn sie erfüllt nicht alle tatbestandlichen Voraussetzungen
dieser Norm. Sie ist zwar vor dem 1.1.1942 geboren, kann aber nicht die für die Begünstigung erforderlichen 45 Jahre
(540 Monate) mit Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vorweisen. Denn ihre
Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit, zu denen gemäß § 237a Abs 3 Satz 1 Nr 3
Halbsatz 2 iVm § 55 Abs 2 Nr 2, § 3 Satz 1 Nr 1 SGB VI auch die Kindererziehungszeiten gemäß § 56 SGB VI
zählen, betragen insgesamt lediglich 262 Monate.
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Das Vorbringen der Klägerin, das BVerfG habe im Beschluss vom 11.11.2008 ausdrücklich noch nicht entschieden,
ob die in § 237 Abs 4 Satz 1 Nr 3 bzw in § 237a Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB VI enthaltene Begünstigung einer
langsameren Anhebung der Altersgrenze nach der "45-Jahre-Regelung" mit Art 3 Abs 1 iVm Art 6 Abs 1 GG vereinbar
sei (vgl BVerfGE 122, 151, 179 - Juris RdNr 74), kann nicht zu einer für sie günstigen Entscheidung führen. Der Senat
braucht in diesem Zusammenhang nicht abschließend zu entscheiden, ob er die vom 4. Senat des BSG im
Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 23.8.2005 (B 4 RA 28/03 R - Juris RdNr 233 ff, insbesondere RdNr 236)
genannten Bedenken teilt oder ob vielmehr entscheidend gegen eine Verfassungswidrigkeit der Regelung aufgrund
eines Verstoßes gegen die Verpflichtungen des Staates aus Art 6 Abs 1 GG spricht, dass § 237a Abs 3 Satz 1 Nr 3
SGB VI lediglich eine für wenige Rentenjahrgänge relevante Übergangsregelung enthält, die dem Vertrauensschutz
von Versicherten rentennaher Jahrgänge vor einer Einschränkung ihrer Rechtsposition unter bestimmten Umständen
Vorrang vor der ausnahmslosen Verwirklichung des legitimen gesetzgeberischen Ziels der Sicherung der Finanzierung
der gesetzlichen Rentenversicherung einräumt (vgl hierzu die in BVerfGE 122, 151, 170 f = Juris RdNr 53
wiedergegebenen Stellungnahmen). Denn das BVerfG hat betont, dass die Überprüfung einer Norm im Rahmen einer
konkreten Normenkontrolle nach Art 100 Abs 1 GG nur insoweit in Betracht kommt, als der Kläger des
fachgerichtlichen Ausgangsverfahrens von der Regelung selbst betroffen ist und auch in seiner Person eine
Grundrechtsverletzung in Frage kommt (BVerfGE 122, 151, 180 unter Hinweis auf BVerfGE 117, 272, 291 f; ebenso
bereits BSG, Urteil vom 9.5.1995 - 10 RKg 7/94 - SozR 3-5870 § 10 Nr 6 - Juris RdNr 34 f). Daran fehlt es hier.
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Die für eine mögliche Betroffenheit entscheidende Frage, ob die Klägerin als Mutter von vier Kindern gerade aufgrund
der Außerachtlassung ihrer Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung (§ 58 SGB VI) gleichheitswidrig und unter
Missachtung der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Familie von der Begünstigung in § 237a Abs 3 Satz 1 Nr
3 SGB VI ausgeschlossen wird, ist zu verneinen. Die Klägerin hat nicht "nur deshalb keine 45 Pflichtbeitragsjahre
erreicht" (BVerfGE 122, 151, 179 - Juris RdNr 74), weil sie wegen der Kindererziehung auf eine versicherungspflichtige
Beschäftigung verzichtete. Ein solcher Verzicht kann nach der Entwicklung ihrer Erwerbs- und
Versicherungsbiographie nur im Zeitraum ab Mai 1963 (Geburt des ersten Kindes) bis Oktober 1974 (ab November
1974 Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, die bis März 1983 ununterbrochen andauerte; zu
diesem Zeitpunkt hatte ihre jüngste, im November 1971 geborene Tochter bereits das 11. Lebensjahr vollendet) in
Frage kommen. Innerhalb dieses Zeitraums von insgesamt 138 Monaten sind zugunsten der Klägerin jedoch bereits
48 Monate an Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufgrund Kindererziehung anerkannt
(§ 237a Abs 3 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 55 Abs 2 Nr 2, § 3 Satz 1 Nr 1, § 56 sowie § 249 SGB VI). Es verbleiben
damit lediglich (138 - 48 =) 90 Monate, die der Klägerin nicht als Pflichtbeitragszeiten anzuerkennen sind; denn nach
der gesetzlichen Regelung in § 237a Abs 3 Satz 1 Nr 3 iVm § 55 Abs 2 SGB VI zählen die Zeiten der Erziehung von
Kindern bis zu deren vollendetem zehnten Lebensjahr (Kinderberücksichtigungszeiten gemäß § 57 SGB VI) im
Rahmen der "45-Jahre-Regelung" nicht mit. Selbst wenn diese 90 Monate aus Gründen (möglicherweise)
verfassungsrechtlich gebotener Gleichbehandlung zu den bereits anerkannten 262 Monaten an Pflichtbeiträgen für
eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hinzuaddiert würden, könnte die Klägerin lediglich 352 statt der für die
Begünstigung erforderlichen 540 Monate vorweisen; sie erfüllte somit auch in diesem Falle die Voraussetzungen der
Vertrauensschutzregelung bei Weitem nicht und könnte daher von einer Entscheidung des BVerfG, welche die
Gleichheitswidrigkeit feststellte, nicht profitieren.
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Die Schwelle von 540 Monaten mit Pflichtbeiträgen würde selbst dann noch deutlich verfehlt, wenn im Rahmen einer
verfassungsrechtlichen Beurteilung auch noch die Zeiten der Ausbildung der Klägerin als Hotelfachfrau (laut LSG-
Urteil 1957 bis 1959) sowie die Beschäftigungszeiten (vom 11.9.1959 bis zum 30.6.1962), für die eine
Beitragserstattung durchgeführt worden ist, mit einbezogen würden. Denn auch in diesem - hypothetischen - Falle
wären zugunsten der Klägerin maximal weitere 32 (1/1957 bis 8/1959) + 34 (9/1959 bis 6/1962) = 66 Monate und
somit insgesamt lediglich 418 Monate an Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit im
Sinne der "45-Jahre-Regelung" zu berücksichtigen.
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Damit steht fest, dass die Frage, ob § 237a Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB VI in seiner derzeitigen Ausgestaltung Art 3 Abs
1 iVm Art 6 Abs 1 GG verletzt, im Falle der Klägerin ohne reale Bedeutung ist, weil eine Feststellung des BVerfG
dahingehend, dass die Außerachtlassung von Kinderberücksichtigungszeiten nach § 57 SGB VI bei der Ermittlung der
45 Jahre verfassungswidrig ist, ihr mit Sicherheit nichts nützen würde (vgl BVerfGE 122, 151, 180). Unter diesen
Umständen ist für eine Vorlage nach Art 100 Abs 1 GG kein Raum.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.