Urteil des BSG vom 19.06.2001

BSG: zahnärztliche behandlung, körperliche unversehrtheit, prothese, belastung, begriff, krankenversicherung, krankenkasse, atrophie, verfassungsrecht, gesetzestext

Bundessozialgericht
Urteil vom 19.06.2001
Sozialgericht Aachen
Bundessozialgericht B 1 KR 5/00 R
Auf die Revision des Beigeladenen wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 6. Dezember 1999 wie folgt
geändert: Es wird festgestellt, daß die Beklagte dem Grunde nach verpflichtet ist, den Kläger nach Eingliederung der
erforderlichen Implantate mit der darauf zu befestigenden Suprakonstruktion zu versorgen. Im übrigen wird die Klage
abgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Revisions- verfahrens zu
erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf implantologische Leistungen im Rahmen der Versorgung mit
Zahnersatz.
Der 1944 geborene Kläger leidet an einer ausgeprägten Kieferatrophie; sein zahnloser Unterkiefer kann deshalb nicht
mit einer konventionellen Prothese versorgt werden. Der behandelnde Zahnarzt veranschlagt die Kosten für vier
Implantate und eine darauf zu befestigende Unterkieferprothese auf etwa 10.600 DM. Den diesbezüglichen
Leistungsantrag lehnte die beklagte Krankenkasse mit Bescheiden vom 6. Mai 1998 und vom 24. November 1998 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli 1999 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat demgegenüber der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine
Versorgung mit implantatgestützter Unterkieferprothese zu verschaffen (Urteil vom 6. Dezember 1999). Zur
Begründung hat es ausgeführt, implantologische Leistungen einschließlich der Suprakonstruktion gehörten nach § 28
Abs 2 Satz 9 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zur vertragszahnärztlichen Versorgung, wenn seltene vom
Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen festzulegende Ausnahmeindikationen für besonders schwere
Fälle vorlägen. Der Bundesausschuß habe die ausgeprägte Kieferatrophie nicht als besonders schweren Fall in die
einschlägigen Behandlungs-Richtlinien aufgenommen, obwohl bekannt gewesen sei, daß die Versicherten in diesen
Fällen mit konventionellem Zahnersatz nicht versorgt werden könnten. Insofern verstießen die Richtlinien gegen das
im Grundgesetz garantierte Recht des Versicherten auf körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip. Dem Versicherten werde beim Fehlen anderer geeigneter Behandlungsmethoden ohne sachlich
vertretbaren Grund der Anspruch auf eine existentielle Grundversorgung vorenthalten. § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V sei
daher verfassungskonform auszulegen und die Richtlinien seien um die Ausnahmeindikation "ausgeprägte
Kieferatrophie" zu ergänzen. Eine solche Auslegung sei noch von dem Wortlaut der Vorschrift gedeckt, da die
Einfügung des Zahnersatzes im Rahmen einer Gesamtbehandlung zur Heilung des beeinträchtigten Sprach- und
Eßvermögens erforderlich sei.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt der beigeladene Bundesausschuß der Zahnärzte und
Krankenkassen eine Verletzung des § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V. Er hält sich durch das angefochtene Urteil als Träger
der Richtlinienkompetenz nach § 92 Abs 1 Nr 2, § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V für unmittelbar betroffen. In der Sache ist
er der Auffassung, daß das SG den Begriff der medizinischen Gesamtbehandlung verkannt habe. Eine solche liege
nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur vor, wenn die Behandlung über das Ersetzen fehlender
Zähne hinausgehe und eine ärztliche sowie eine zahnärztliche Behandlung erfordere. Hieran fehle es jedoch bei einer
Implantatversorgung des atrophierten Kiefers; die damit zusammenhängenden Maßnahmen wie zB operative Eingriffe
zum Knochenaufbau seien allein auf den Ersatz fehlender Zähne gerichtet. Ein Verfassungsverstoß sei hierin nicht zu
sehen. Angesichts der hohen Kosten implantologischer Leistungen und der bei den Kieferatrophien bestehenden
Abgrenzungsschwierigkeiten sei der Gesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraumes
berechtigt gewesen, maßgeblich auf das Vorliegen einer Gesamtbehandlung abzustellen. Im übrigen zeige die zum 1.
Januar 2000 erfolgte Änderung des § 28 Abs 2 und des § 30 Abs 1 SGB V, die den umfassenden Leistungsausschluß
für Suprakonstruktionen bei atrophiertem zahnlosen Kiefer beseitigt habe, daß ein Leistungsanspruch für
implantologische Leistungen in diesen Fällen nicht bestehe, da anderenfalls § 30 Abs 1 Satz 5 SGB V nF, der dem
Versicherten lediglich einen Zuschuß zu den Kosten der Suprakonstruktion gewähre, ins Leere ginge.
Der Beigeladene beantragt,
das Urteil des SG Aachen vom 6. Dezember 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
II
Die Revision ist zulässig. Der beigeladene Bundesausschuß ist rechtsmittelbefugt (Urteil des 6. Senats des BSG vom
28. Juni 2000 - B 6 KA 27/99 R - MedR 2001, 265). Die Revision ist auch teilweise begründet. Das SG hat die
Beklagte zu Unrecht verurteilt, den Kläger mit Implantaten auszustatten. Dem Kläger steht aber ein Anspruch auf die
Versorgung mit einer Unterkieferprothese ("Suprakonstruktion") zu, falls er sich dazu entschließt, entsprechende
Stützen implantieren zu lassen. Insofern hatte der Senat über die Leistungspflicht der Beklagten im Wege der
Feststellung zu entscheiden.
Für die Entscheidung des Senats ist die Rechtslage im Zeitpunkt der Revisionsentscheidung maßgebend. Da der
Kläger die streitige Zahnbehandlung bisher nicht hat durchführen lassen, ist sein Begehren auf ein künftiges Handeln
der Beklagten gerichtet, was in seinem Antrag auf Verurteilung zur Leistung und im entsprechenden Ausspruch des
erstinstanzlichen Urteils ausgedrückt ist. In einem solchen Fall hat das Gericht das Recht anzuwenden, das im
Zeitpunkt der Entscheidung gilt. Rechtsänderungen, die seit der Verwaltungsentscheidung eingetreten sind, müssen
insbesondere dann berücksichtigt werden, wenn das neue Recht nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige
Rechtsverhältnis erfassen will; der Umstand, daß im Prozeß auch um die Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Verwaltungsakts der beklagten Behörde gestritten wird, tritt demgegenüber in den Hintergrund (stRspr, vgl BSGE 73,
25, 27 = SozR 3-2500 § 116 Nr 4 S 26; SozR 3-4100 § 152 Nr 7 jeweils mwN; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 14 S 69).
Der Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einer implantatgestützten Unterkieferprothese folgt aus § 30 Abs 1
Satz 5 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000
(GKVRefG 2000 vom 22. Dezember 1999, BGBl I 2626). Ursprünglich waren implantologische Leistungen im Gesetz
nicht erwähnt; die Versorgung mit Zahnersatz gehörte nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB V zum Anspruch auf
zahnärztliche Behandlung - allerdings mit einem nicht unerheblichen Eigenanteil des Versicherten nach § 30 SGB V.
Inwiefern die Krankenkassen auch für Implantate aufzukommen hatten, wurde unterschiedlich beurteilt (vgl BT-Drucks
13/4615 S 9, wo dem späteren Ausschluß Klarstellungsfunktion beigemessen wird; möglicherweise anders BSG SozR
3-5555 § 12 Nr 5 S 25 ff = USK 97149; ähnlich LSG Rheinland-Pfalz vom 19. Juni 1997 - L 5 K 34/96). Zum 1. Januar
1997 wurde an § 28 Abs 2 SGB V ein Satz 8 angefügt, demzufolge implantologische Leistungen einschließlich der
Suprakonstruktion nicht zur zahnärztlichen Behandlung gehören und von den Krankenkassen auch nicht bezuschußt
werden dürfen (Beitragsentlastungsgesetz - BeitrEntlG - vom 1. November 1996, BGBl I 1631). Bereits mit dem
Zweiten Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung vom 23. Juni 1997 (2. GKVNOG,
BGBl I 1520) wurde dieser komplette Ausschluß mit Wirkung vom 1. Juli 1997 wieder eingeschränkt. Seitdem gilt er
nach § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V dann nicht, wenn seltene vom Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen
festzulegende Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle vorliegen, in denen die Krankenkasse die
implantologische Leistung einschließlich der Suprakonstruktion als Sachleistung im Rahmen einer medizinischen
Gesamtbehandlung erbringt. Schließlich fügte das GKV-RefG 2000 dem § 30 Abs 1 SGB V einen Satz 5 hinzu, der
den Anspruch auf Zahnersatz (mit Versichertenanteil) um einen Anspruch auf Suprakonstruktionen in vom
Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen festzulegenden Ausnahmefällen erweiterte.
Die zuletzt genannte Vorschrift begründet den Anspruch des Klägers auf die umstrittene Unterkieferprothese. Die
Neuregelung ist ohne Überleitungsvorschriften am 1. Januar 2000 in Kraft getreten (vgl Art 22 GKVRefG 2000) und
erfaßt daher jedenfalls zahnärztliche Behandlungen, die - wie beim Kläger - zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen
hatten; sie ist infolgedessen für den jetzigen Rechtstreit einschlägig.
Die materiellen Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. Nach den am 24. März 2001 in Kraft getretenen Richtlinien
des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche
vertragszahnärztliche Versorgung mit Zahnersatz und Zahnkronen (Zahnersatz-RL, BAnz Nr 58 vom 23. März 2001)
bildet ein atrophierter zahnloser Kiefer einen Ausnahmefall iS des § 30 Abs 1 Satz 5 SGB V und rechtfertigt daher den
gesetzlichen Zuschuß zu den Kosten für die erforderliche Suprakonstruktion (Abschnitt VI Nr 38 Buchst b Zahnersatz-
RL).
Demgegenüber wird die vertragszahnärztliche Versorgung des Klägers mit implantierten Stützen für die fragliche
Prothese durch § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V in der seit 1. Juli 1997 geltenden Fassung wirksam ausgeschlossen. Zwar
verpflichtet diese Vorschrift die gesetzlichen Krankenkassen zur Übernahme der Kosten für implantatgestützten
Zahnersatz einschließlich der Suprakonstruktion im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung, wenn beim
Versicherten eine der vom Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen festzulegenden seltenen
Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle vorliegt. Diese besonderen Voraussetzungen sind jedoch beim
Kläger nicht erfüllt. Kieferatrophien wie diejenige des Klägers sind in den insoweit einschlägigen Richtlinien des
Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche
vertragszahnärztliche Versorgung (Zahnbehandlungs-RL in der Fassung vom 24. Juli 1998, BAnz Nr 177) nicht als
Grund für implantologische Leistungen anerkannt. Diese Leistungsbeschränkung verstößt nicht gegen höherrangiges
Recht.
Eine als besonders schwerer Fall vom Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen in den Zahnbehandlungs-
RL festgelegte Indikation (größerer Kiefer- oder Gesichtsdefekt, extreme Mundtrockenheit, genetische Nichtanlage
von Zähnen, muskuläre Fehlfunktionen; vgl Abschnitt B VII Nr 29 Zahnbehandlungs-RL) hat beim Kläger nicht
vorgelegen. Kieferdefekte im Sinne der genannten Bestimmung sind nach ausdrücklicher Klarstellung nur solche
Veränderungen, die ihre Ursache in einer Operation wegen eines Tumors, einer Zyste oder einer Osteopathie, in einer
Entzündung des Kiefers, einer angeborenen Fehlbildung oder in einem Unfall haben. Bei der allmählichen Rückbildung
des zahnlosen Kieferknochens im Sinne einer Atrophie handelt es sich dagegen um einen natürlichen Vorgang bei
jedem Zahnverlust (vgl stellvertretend Schimming/ Schmelzeisen, Klinikarzt 2000, Jg 29, 188). Daß die Atrophie nicht
zu den Ausnahmeindikationen gehören sollte, zeigt sich auch daran, daß der Bundesausschuß anläßlich der
Neufassung der Zahnbehandlungs-RL an den Gesetzgeber appelliert hat, den Anwendungsbereich des § 28 Abs 2
Satz 9 SGB V auf die Versorgung mit Implantaten zu beschränken und alle Arten von Zahnersatz unabhängig von der
Frage der implantologischen Versorgung in die Regelung des § 30 SGB V einzubeziehen, weil andernfalls Patienten
mit schweren und schwersten Kieferatrophien nicht einmal Anspruch auf den Zuschuß zum Zahnersatz nach § 30
SGB V hätten (Erklärung des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen zur Versorgung mit Implantaten
und Zahnersatz vom 24. Juli 1998). Im Lichte dieser Erklärung kann Abschnitt B VII Nr 29 Zahnbehandlungs-RL nur
dahingehend verstanden werden, daß darin Kieferatrophien nicht erfaßt sind.
Die Nichtberücksichtigung der Atrophiefälle in den Zahnbehandlungs-RL steht mit der Ermächtigung in § 28 Abs 2
Satz 9 SGB V in Einklang. Danach soll eine implantologische Versorgung von den Krankenkassen nur bei seltenen
Ausnahmeindikationen in besonders schweren Fällen bezahlt werden, wenn sie im Rahmen einer medizinischen
Gesamtbehandlung erfolgt. Das Letztere schließt von vornherein Fallgestaltungen aus, in denen das Ziel der
implantologischen Behandlung nicht über die reine Versorgung mit Zahnersatz zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit
hinausreicht. Da der Anspruch auf seltene Ausnahmeindikationen beschränkt bleiben soll, kann er im übrigen nicht
schon in all denjenigen Fällen bestehen, in denen Implantate medizinisch geboten sind; vielmehr müssen weitere
Umstände hinzukommen, die eine außergewöhnliche Situation begründen. Das ist bei Kieferatrophien schon deshalb
nicht der Fall, weil sie bei jedem größeren Zahnverlust auftreten, also in der Praxis außerordentlich häufig sind. Für
die einschränkende Auslegung sprechen neben dem Wortlaut die in der Gesetzesbegründung herangezogenen
Fallbeispiele (Tumoroperationen bzw Schädel- und Gesichtstraumata) sowie die Begründung für die spätere
Erweiterung des Leistungskatalogs bei Zahnersatz um den Anspruch auf implantatgestützte Suprakonstruktionen in §
30 Abs 1 Satz 5 SGB V, für die gerade das Beispiel des atrophierten zahnlosen Kiefers ins Feld geführt wurde (BT-
Drucks 14/1245 S 65). Dazu hätte kein Anlaß bestanden, wenn diese Indikation von § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V aus
Sicht des Gesetzgebers bereits erfaßt worden wäre. Schließlich ist aktenkundig, daß im Gesetzgebungsverfahren
zum 2. GKV-NOG Abgrenzungsprobleme für den Fall befürchtet wurden, daß die Atrophiefälle in die
Ausnahmeregelung aufgenommen würden (vgl die Erklärung des Vertreters des BMG vor dem Arbeitsausschuß
"Zahnersatz-Richtlinien" des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen vom 27. März 1998). Das
wiederum läßt darauf schließen, daß deren Ausschluß bewußt in Kauf genommen wurde.
Angesichts all dessen ist für die Annahme einer durch Analogie zu schließenden Regelungslücke kein Raum. Daß der
Gesetzgeber bei der Fassung der Ausnahmevorschrift gerade die Kieferatrophie als den Hauptanwendungsfall einer
implantologischen Versorgung übersehen haben könnte, ist angesichts der zuvor wiedergegebenen Äußerungen
auszuschließen. Zwar wurde der Ausschluß implantologischer Leistungen in der Begründung zum BeitrEntlG noch
damit gerechtfertigt, daß es für diese Leistungen alternative Behandlungsmöglichkeiten gebe, die in der Regel
wesentlich wirtschaftlicher seien (BT-Drucks 13/4615 S 9). Der Gesetzgeber hat aber bereits im Zusammenhang mit
den Rechtsänderungen zum 1. Juli 1997 seine Aussage selbst korrigiert, indem dort davon die Rede ist, daß der
Versicherte in zwingend notwendigen Ausnahmefällen mit Implantaten versorgt werden soll (BT-Drucks 13/7264 S 59).
Darin liegt das Eingeständnis, daß Alternativen zu Implantaten nicht in allen Fällen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig
weist der vom 1. Juli 1997 an geltende Gesetzestext so unmißverständlich auf den Ausnahmecharakter der
Leistungspflicht für Implantate hin, daß kein Spielraum für eine Auslegung bleibt, nach der auch die häufigen Fälle der
mit konventionellem Zahnersatz nicht befriedigend zu versorgenden Kieferatrophien zu den "zwingend notwendigen
Ausnahmefällen" zu rechnen sind.
Die Nichteinbeziehung der Kieferatrophien in die Ausnahmeregelung des § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V verletzt kein
Verfassungsrecht.
Welche Behandlungsmaßnahmen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen und
welche davon ausgenommen und damit der Eigenverantwortung des Versicherten (vgl § 2 Abs 1 Satz 1 SGB V)
zugeordnet werden, unterliegt aus verfassungsrechtlicher Sicht einem weiten gesetzgeberischen Ermessen, denn ein
Gebot zu Sozialversicherungsleistungen in einem bestimmten sachlichen Umfang läßt sich dem Grundgesetz nicht
entnehmen (BSGE 76, 40, 42 f = SozR 3-2500 § 30 Nr 5 S 14; BSGE 86, 54, 65 = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 71
jeweils mwN aus der Rechtsprechung des BVerfG). Alleiniger verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist das Gebot
des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art 3 Abs 1 GG), Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend
verschieden zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung verwehrt; da der Gleichheitssatz in
erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern will, unterliegt der Gesetzgeber
aber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung. Dennoch kann er
grundsätzlich frei entscheiden, auf welche Elemente der zu ordnenden Lebenssachverhalte er seine Unterscheidung
stützen will. Eine Grenze ist dann erreicht, wenn sich für seine Ungleichbehandlung kein in angemessenem Verhältnis
zu dem Grad der Ungleichbehandlung stehender Rechtfertigungsgrund finden läßt (stellvertretend: BVerfGE 102, 68,
87 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42 S 184 mwN).
Im Vergleich zu den Versicherten mit einem Anspruch nach § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V wird der Kläger insofern
benachteiligt, als er die Kosten für die implantologische Versorgung und - außer bei unzumutbarer finanzieller
Belastung - den Eigenanteil für die Suprakonstruktion selbst tragen muß, obwohl für beide Versichertengruppen
konventioneller Zahnersatz nicht möglich ist. Die unterschiedliche Behandlung rechtfertigt sich jedoch dadurch, daß
die Implantatversorgung jeweils verschiedenen Zwecken dient. Bei den vom Gesetz als besonders schwer
eingestuften, in Abschnitt B VII Nr 29 Zahnbehandlungs-RL näher konkretisierten Fällen reicht das Behandlungsziel,
wie auch die in der Gesetzesbegründung angeführten Beispiele (Resektion/Teilresektion am Kieferknochen bzw
Schädel- und Gesichtstraumata bei nicht rekonstruierbaren Kieferabschnitten, vgl BT-Drucks 13/7264 S 59 zu § 28
SGB V) zeigen, über eine reine Versorgung mit Zahnersatz hinaus. Dieses Abgrenzungskonzept, das im Gesetz
durch den Begriff der Gesamtbehandlung ausgedrückt ist und das - allerdings mit der Wendung "kombinierte
Behandlungsmaßnahmen" - bereits bei der seit dem 1. Januar 1993 angeordneten Beschränkung von
kieferorthopädischen Leistungen angesprochen wird (nunmehr § 28 Abs 2 Satz 6 und 7 SGB V, dazu Urteil vom 9.
Dezember 1997 - 1 RK 11/97 - BSGE 81, 245, 249 = SozR 3-2500 § 28 Nr 3 S 11), hat der Senat zwar in einer
späteren Entscheidung durch die Gesetzesentwicklung insoweit als überholt angesehen, als daraus stillschweigende
Ausnahmen von Leistungsverboten abgeleitet worden waren (Urteil vom 6. Oktober 1999 - B 1 KR 9/99 R - BSGE 85,
66, 68 ff = SozR 3-2500 § 30 Nr 10 S 38 ff). Damit ist dem Gesetzgeber jedoch nicht das Recht abgesprochen
worden, diesen Gesichtspunkt heranzuziehen, um Ausnahmeindikationen zur Abmilderung von
Leistungsausschlüssen zu definieren. Vielmehr hat der Senat die Verfassungsmäßigkeit des fraglichen
Abgrenzungskriteriums ausdrücklich bestätigt, weil es ein sachliches Merkmal für die Unterscheidung von
Versicherten mit einem besonderen Behandlungsbedarf darstellt. Im selben Zusammenhang hat er auch schon darauf
hingewiesen, daß das Krankenversicherungsrecht auf einem abschließenden Leistungskatalog beruht und es für die
Leistungspflicht nicht darauf ankommt, ob eine ausgeschlossene Maßnahme den Erfolg einer anderen ermöglicht, die
zum Leistungsumfang gehört (vgl nochmals BSGE 81, 245, 249 = SozR 3-2500 § 28 Nr 3 S 11). Beide
Gesichtspunkte gelten auch hier, so daß weder wegen der getroffenen Unterscheidung noch wegen des
Zusammenhangs der ausgeschlossenen Implantate mit dem darauf zu befestigenden Zahnersatz durchgreifende
verfassungsrechtliche Bedenken erhoben werden können.
Schließlich ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, daß andere Versicherte Zahnersatz erhalten, für den
sie aus eigenen Mitteln weniger aufwenden müssen, weil sie keine Implantate benötigen. Denn die Vorteile einer
Implantatversorgung gegenüber konventionellen Prothesen, insbesondere in Bezug auf den Tragekomfort und die
Kaufunktion rechtfertigen es, den Versicherten auch dann an den sehr viel höheren Kosten dieser Versorgungsform zu
beteiligen, wenn dieser keine Behandlungsalternative hat. Die verbesserte Haltefunktion der implantatgestützten
Prothese (sogenannte Retention) führt zu einer geringeren Bewegung auf der Mundschleimhaut und dadurch zu einer
verminderten Druckstellenbildung, die regelmäßig mit Schmerzen verbunden ist; die Kaufähigkeit wird gerade bei
zähen und harten Nahrungsmitteln gegenüber einer konventionellen Totalprothese deutlich verbessert (vgl zB
Heydecke ZM 2000 Nr 21 S 52, 54 und 56).
Die Ablehnung der implantologischen Leistungen ist demnach weder einfachrechtlich noch verfassungsrechtlich zu
beanstanden. Insoweit war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Da dem Kläger im
Ergebnis lediglich ein Anspruch auf Versorgung mit einer Suprakonstruktion zusteht, konnte die Beklagte insoweit
nicht zur Leistung verurteilt werden. Denn die Einstandspflicht der Beklagten hängt davon ab, daß sich der Kläger auf
eigene Kosten Implantate einsetzen läßt, ohne die eine Suprakonstruktion nicht befestigt werden kann. Andererseits
hat der Kläger ein schützenswertes Interesse daran, sich bereits vor der Entscheidung über den Einsatz erheblicher
Geldmittel für die Implantate Gewißheit darüber zu verschaffen, ob die Beklagte zumindest in Bezug auf die
Suprakonstruktion leistungspflichtig ist. Insofern kommt nur ein Feststellungsurteil in Betracht (vgl etwa BSGE 83,
254, 256 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1 S 3 f; BSGE 69, 76, 77 = SozR 3-2500 § 59 Nr 1 S 2). Der darauf gerichtete
Klageantrag ist in der ursprünglich erhobenen Leistungsklage als "minus" enthalten. Ob und in welcher Höhe ein
Versichertenanteil zu zahlen ist, konnte ebenfalls nicht festgelegt werden. Je nach der wirtschaftlichen Situation des
Klägers im Zeitpunkt der Behandlung kommt eine Befreiung vom Versichertenanteil wegen unzumutbarer Belastung
nach § 61 Abs 1 Nr 2, § 62 Abs 2a SGB V in Betracht. Daraus rechtfertigt sich die Feststellung der Leistungspflicht
dem Grunde nach.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.