Urteil des BSG vom 09.04.2003

BSG: zumutbare tätigkeit, erwerbsfähigkeit, wohnungsbau, ausbildung, berufsunfähigkeit, zumutbarkeit, rentenanspruch, gesundheitszustand, minderung, diagnose

Bundessozialgericht
Urteil vom 09.04.2003
Sächsisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 5 RJ 34/02 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. Dezember 2001
aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Der am 23. November 1948 geborene Kläger erlernte in der Zeit von September 1965 bis Juli 1969 den Beruf eines
Elektroinstallateurs, erwarb am 31. Juli 1969 das entsprechende Facharbeiterzeugnis und war - mit Unterbrechung
durch Zeiten der Arbeitslosigkeit - anschließend bis zu einem Arbeitsunfall am 23. Juni 1997 mit folgender
Arbeitsunfähigkeit als Elektroinstallateur beschäftigt. Die Beklagte lehnte den am 29. April 1998 gestellten
Rentenantrag nach Einholung des Entlassungsberichts vom 26. März 1998 über die vom 3. Februar bis 17. März 1998
im Reha-Zentrum Bad Düben durchgeführte Heilbehandlung mit Bescheid vom 26. August 1998 ab. Den Widerspruch
des Klägers wies sie nach weiterer Aufklärung (Befundbericht der Universität L , Zentrum für Chirurgie, Prof. S und J
vom 18. März 1999, Gutachten des Dr. S - Sozialmedizinischer Dienst - vom 29. April 1998, Gutachten des
Arbeitsamtes Leipzig vom 26. April 1999) mit Bescheid vom 8. Juli 1999 zurück.
Im nachfolgenden Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Befundberichte der Fachärztin für Anästhesiologie Dr. K
vom 11. November 1999 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. S vom 10. November 1999 sowie ein
orthopädisches Sachverständigengutachten von Prof. Dr. F vom 18. Juli 2000 eingeholt. Der Sachverständige hat
nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 27. März 2000 einen Zustand nach Bruch des 12. Brustwirbelkörpers
nach operativer Behandlung (Spondylodese vom 11. und 12. Brustwirbelkörper) in guter Stellung knöchern verheilt
diagnostiziert und befunden, gravierende Beeinträchtigungen der körperlichen Leistungsfähigkeit seien beim Kläger
nicht feststellbar; er könne Tätigkeiten leichter Natur auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichten, wobei
kurzzeitige Arbeiten mittelschwerer Natur ohne Heben und Tragen schwerer Lasten zumutbar seien. Die vom SG
angegebene Tätigkeit eines Elektrogerätemontierers sei ihm vollschichtig zumutbar. Arbeiten im Akkord oder am
Fließband, mit häufigem Bücken, auf Leitern und Gerüsten, mit Heben und Tragen schwerer Lasten oder in längerer
Zwangshaltung sollten ausgeschlossen werden. Wesentliche Einschränkungen bezüglich des Wegs zur und von der
Arbeitsstelle bestünden nicht. Gestützt auf dieses Gutachten hat das SG mit Urteil vom 6. Oktober 2000 die Klage
abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat der Kläger geltend gemacht, die Tätigkeit eines Elektrogerätemontierers stelle
körperliche Anforderungen, die ihm nicht zumutbar seien, außerdem habe sich sein Gesundheitszustand
verschlechtert. Das Landessozialgericht (LSG) hat daraufhin Auskünfte des Zentralverbands der Deutschen
Elektrohandwerke vom 2. und 14. Juli 1998 sowie des Landesarbeitsamts Sachsen vom 16. August 1999 und ferner
berufskundliche Unterlagen zur Tätigkeit eines Verdrahtungselektrikers für Schalttafeln im Wohnungsbau aus einem
Verfahren beim LSG Nordrhein-Westfalen (Gutachten des Sachverständigen Hans-Jürgen D vom 22. November 1996,
Ergänzungen dazu vom 10. Juni 1997 und vom 14. Januar 1998 sowie die Sitzungsniederschrift und das Urteil vom
25. März 1998) beigezogen und den Beteiligten zur Kenntnisnahme übermittelt. Der Kläger hat zunächst vorgetragen,
nach der Diagnose seines behandelnden Arztes leide er unter einer instabilen Kompressionsfraktur des 12.
Brustwirbelkörpers sowie einer Thorakotomie links mit postoperativer Intercostalneuralgie und Durchtrennung des
Intercostalnervs und könne auch den vom LSG genannten Verweisungsberuf nicht ausüben. In der mündlichen
Verhandlung hat er sein Vorbringen dahin ergänzt, auf Grund der durch den Unfall hervorgerufenen Schädigung der
Wirbelsäule werde nunmehr der gesunde Teil der Wirbelsäule verstärkt in Mitleidenschaft gezogen, und seinen
schriftsätzlichen Antrag wiederholt, ein erneutes orthopädisches Gutachten einzuholen. Diesem Antrag ist das LSG
nicht gefolgt. Im Urteil vom 4. Dezember 2001 hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei weder berufs- noch
erwerbsunfähig. Zwar könne er seine letzte Beschäftigung als Elektromontierer nicht mehr ausüben. Auch bestünden
erhebliche Bedenken, ob ihm als Facharbeiter die Tätigkeit eines Elektrogeräte(-teile)montierers sozial zumutbar sei.
Er könne jedoch auf die Tätigkeit als Verdrahtungselektriker bei der Herstellung von Schalttafeln im Wohnungsbau
verwiesen werden; diese Tätigkeit sei ihm nach den beigezogenen berufskundlichen Unterlagen sozial zumutbar und
entspreche seinem vom SG festgestellten gesundheitlichen Leistungsvermögen. Eine weitere medizinische
Sachaufklärung sei im Hinblick auf den unspezifischen Vortrag des Klägers zur Verschlechterung seines
Gesundheitszustands nicht erforderlich. Angesichts der durch eine entsprechende Röntgendiagnostik belegten
Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. F , dass beim Kläger wegen der in guter Stellung knöchern verheilten
Fraktur keine gravierende Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit vorliege, zwinge der Hinweis auf die
andere Diagnose des behandelnden Arztes nicht zu weiteren Ermittlungen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine unzureichende Sachaufklärung. Das LSG habe seine
Feststellung, die Tätigkeit eines Verdrahtungselektrikers bei der Herstellung von Schalttafeln im Wohnungsbau sei
ihm gesundheitlich zumutbar, nicht treffen dürfen, ohne zumindest den behandelnden Arzt zu hören. Denn die letzte
medizinische Begutachtung sei am 27. März 2000 erfolgt, wobei der Gutachter sich nur zur Tätigkeit als
Elektrogerätemonteur geäußert habe. Zudem habe sich das LSG auf Untersuchungsergebnisse bezogen, die zum
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits zwei bzw zweieinhalb Jahre zurückgelegen hätten.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. Dezember 2001 aufzuheben und die
Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat erklärt, sich nicht zur Sache äußern zu wollen.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Der
vom Kläger gerügte Verfahrensmangel liegt vor, das Berufungsgericht hätte sich von seinem sachlich-rechtlichen
Standpunkt aus zu weiteren Ermittlungen in medizinischer Sicht gedrängt fühlen müssen.
Der geltend gemachte Rentenanspruch des Klägers richtet sich nach §§ 43, 44 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch
(SGB VI) in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung, da er auch Zeiten vor diesem Zeitpunkt erfasst. Die ab 1.
Januar 2001 geltende Neuregelung durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
vom 20. Dezember 2000 (BGBl I, 1827) ist allerdings heranzuziehen, soweit ein Rentenanspruch am 31. Dezember
2000 nicht bestand, aber für die nachfolgende Zeit in Betracht kommt (vgl § 300 Abs 1 iVm Abs 2 SGB VI).
Nach § 43 Abs 2 SGB VI aF sind berufsunfähig Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder
Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit
ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach
denen die Erwerbsfähigkeit zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen
und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der
besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Nicht berufsunfähig ist, wer
eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu
berücksichtigen. Nach § 240 SGB VI nF haben Versicherte, die wie der Kläger vor dem 2. Januar 1961 geboren sind,
bei Vorliegen von Berufsunfähigkeit einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Die Definition der
Berufsunfähigkeit weicht vom früheren Recht nur insoweit ab, als nach § 240 Abs 2 Satz 4 SGB VI nF berufsunfähig
nicht ist, wer - ungeachtet der jeweiligen Arbeitsmarktlage - eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden
täglich ausüben kann. Erwerbsunfähigkeit setzt nach § 44 Abs 2 SGB VI aF ebenso wie eine volle Minderung der
Erwerbsfähigkeit iS des neuen Rechts (§ 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI nF) eine gegenüber der Berufsunfähigkeit noch
weiter herabgesetzte Erwerbsfähigkeit voraus.
Ausgangspunkt bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit ist der bisherige Beruf des Versicherten. Kann dieser nicht mehr
ausgeübt werden, hängt der Rentenanspruch davon ab, ob es zumindest eine Tätigkeit gibt, die sozial zumutbar ist
und fachlich sowie gesundheitlich noch bewältigt werden kann. Dabei richtet sich die soziale Zumutbarkeit einer
Verweisungstätigkeit nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Dafür hat die Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Berufe der Versicherten ausgehend von der
Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, in Gruppen einteilt.
Dementsprechend werden die Arbeiterberufe durch Gruppen mit den Leitberufen des Vorarbeiters mit
Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter
Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger
Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von drei Monaten bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters
charakterisiert. Im Rahmen der sozialen Zumutbarkeit kann auf eine Tätigkeit der jeweils nächstniedrigeren Gruppe
verwiesen werden.
Auf dieser Grundlage hat das LSG zu Recht festgestellt, dass beim Kläger keine rentenberechtigende Minderung der
Erwerbsfähigkeit vorliegt, wenn er ausgehend von seinem erlernten und zuletzt ausgeübten Beruf des
Elektroinstallateurs sozial und fachlich auf die Tätigkeit eines Verdrahtungselektrikers bei der Herstellung von
Schalttafeln im Wohnungsbau verwiesen werden kann und solange sein gesundheitliches Leistungsvermögen
ausreicht, eine solche Tätigkeit vollschichtig, also auch mindestens sechs Stunden täglich, auszuüben. Was die
Beurteilung der sozialen und fachlichen Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit angeht, so lässt das angefochtene
Urteil keine Rechtsfehler erkennen. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG zur Ausbildung und bisherigen
Berufstätigkeit des Klägers sowie zur Wertigkeit und den fachlichen Anforderungen der Verweisungstätigkeit sind vom
Kläger nicht mit Verfahrensrügen angegriffen und daher für den Senat bindend (§ 163 Sozialgerichtsgesetz). Was die
Beurteilung der gesundheitlichen Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit angeht, so sind hingegen - wie der Kläger zu
Recht rügt - die tatsächlichen Feststellungen des LSG zum Leistungsvermögen des Klägers fehlerhaft. Der Eintritt
einer rentenberechtigenden Minderung seiner Erwerbsfähigkeit war zumindest nicht für den gesamten streitigen
Zeitraum ohne weitere Beweiserhebung auszuschließen.
Das medizinische Sachverständigengutachten von Prof. Dr. F vom 18. Juli 2000, auf das sich das LSG gestützt hat,
lag im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 4. Dezember 2001 über ein Jahr zurück. Der Kläger war diesem
Gutachten zufolge vom Sachverständigen zuletzt am 27. März 2000 ambulant untersucht worden. Röntgenologische
Untersuchungen der Wirbelsäule des Klägers, auf die sich der Sachverständige bezog, waren am 6. Dezember 1999
und 14. Januar 2000 durchgeführt worden, lagen also fast zwei Jahre zurück. Zwar ist der Zeitablauf allein kein
zwingender Grund für eine weitere Beweiserhebung, solange Anhaltspunkte für eine Verschlechterung des
Gesundheitszustands fehlen (vgl BSG Urteile vom 10. Februar 1983 - 5b RJ 76/82 - veröffentlicht in JURIS, vom 4.
Februar 1988 - 5/5b RJ 96/86 - SozR 1500 § 103 Nr 27 und vom 24. Juni 1998 - B 9 V 47/97 R; Beschluss vom 7.
November 2001 - B 9 SB 51/00 B, jeweils veröffentlicht in JURIS). Hier hatte jedoch der Kläger ausdrücklich
vorgetragen, sein Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, weil jetzt auch der gesunde Teil seiner Wirbelsäule
betroffen sei, und auch deswegen in der mündlichen Verhandlung eine erneute orthopädische Begutachtung beantragt.
Dieses Vorbringen war nicht deswegen unbeachtlich, weil der Kläger, wie das LSG ausführt, nicht dargelegt hatte, "auf
welche fachkompetenten Feststellungen und Wertungen die Behauptung gestützt wird". Denn insoweit war zu
berücksichtigen, dass nach den Angaben im Sachverständigengutachten bereits vor dem Unfall degenerative
Veränderungen (eine spondylotische Veränderung und Osteochondrose) der Brustwirbelsäule festgestellt waren, bei
denen naturgemäß ein Fortschreiten nicht auszuschließen ist, und die Angabe des Klägers über eine vom
behandelnden Arzt mitgeteilte Diagnose möglicherweise nur eine laienhafte Zusammenfassung war, die nicht alle von
diesem erhobenen Befunde enthielt. Von daher hätte sich das LSG zumindest veranlasst sehen müssen, einen
Befundbericht des behandelnden Arztes einzuholen, um festzustellen, ob die bisher eingeholten Gutachten auch den
aktuellen Gesundheitszustand des Klägers erfassen. Im Übrigen hatte sich der vom SG gehörte Sachverständige nur
zu der Verweisungstätigkeit eines Elektrogerätemontierers, nicht aber zu der erst im Berufungsverfahren benannten
Verweisungstätigkeit eines Verdrahtungselektrikers bei der Herstellung von Schalttafeln im Wohnungsbau geäußert.
Seiner Amtsaufklärungspflicht war das LSG nicht dadurch enthoben, dass der Kläger zunächst seinerseits eine
medizinische Stellungnahme seines behandelnden Hausarztes in Aussicht gestellt hatte, zumal der Kläger zur
Vorlage der schriftlichen Äußerung des Arztes um Fristverlängerung bzw Terminsverlegung gebeten hatte.
Da das Revisionsgericht die noch erforderliche Sachaufklärung nicht selbst vornehmen kann, ist der Rechtsstreit zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten, an das LSG zurückzuverweisen.