Urteil des BSG vom 20.11.2003
BSG: anhörung, auskunft, verfahrensmangel, eng, beweisantrag, verzicht, arbeitsmarkt, gerichtsverfahren, erwerbsfähigkeit, anforderung
Bundessozialgericht
Beschluss vom 20.11.2003
Sozialgericht Frankfurt S 10/20 RJ 410/93
Hessisches Landessozialgericht L 13 RJ 350/96
Bundessozialgericht B 13 RJ 38/03 B
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird der Beschluss des Hessischen
Landessozialgerichts vom 23. Januar 2003 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
Mit Beschluss vom 23. Januar 2003 hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) in einem Verfahren um die
Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende
Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 30. November 1995 ohne mündliche Verhandlung auf der
verfahrensrechtlichen Grundlage des § 153 Abs 4 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückgewiesen und die
Revision nicht zugelassen.
Das LSG hat seine Entscheidung maßgeblich auf eine Auskunft der IG Metall - Bezirksleitung F. - vom 13.
September 1999 sowie eine Auskunft des Verbandes der Metall- und Elektrounternehmen H. e.V. vom 20. Oktober
1999 gestützt, die Gegenstand eines Anhörungsschreibens (§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG) vom 4. Dezember 2002, dem
an die Bevollmächtigten des Klägers gerichteten Schreiben jedoch nicht beigefügt waren und auf deren Anforderung
vom 13. Dezember 2002 erst per Telefax am 30. Dezember 2002 nachgereicht wurden. Mit Schriftsatz vom 2. Januar
2003 hatte der Kläger daraufhin zu den vorgenannten Auskünften eingehend Stellung genommen, sich auf die
sozialärztliche Stellungnahme der Frau Dr. T. vom 13. Januar 2000 berufen und zum Beweis dafür, dass er auch im
Oktober 1990 aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen sei, Tätigkeiten als Montierer,
Warenaufmacher, Versandfertigmacher oder Warensortierer auszuüben, beantragt, ein berufskundliches Gutachten
einzuholen, für das er den Leitenden Oberarzt Dr. F. bei der P. GmbH, M. , als Sachverständigen benannte. Ferner
hatte er die Einholung eines Gutachtens durch den Internisten S. in F. zu der Tatsache beantragt, dass er im Jahre
1990 aus gesundheitlichen Gründen die genannten Verweisungstätigkeiten gemäß dem berufskundlichen
Anforderungsprofil nicht habe verrichten können.
Mit der am 21. Februar 2003 eingelegten und am 5. Mai 2003 innerhalb der - verlängerten - Frist (§ 160a Abs 2 Satz 2
SGG) begründeten Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger neben einer Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2
SGG und (weiteren) Verfahrensfehlern insbesondere die Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend, weil nach
Stellung neuer Beweisanträge eine erneute Anhörung nach § 153 Abs 4 SGG erforderlich gewesen, jedoch
unterblieben sei. Er trägt weiterhin vor: Die Voraussetzungen für eine Beschlussentscheidung nach § 153 Abs 4 SGG
hätten nicht vorgelegen, weil allein das Gerichtsverfahren über zehn Jahre gedauert habe und diese lange
Verfahrensdauer, aber auch die schwierige Frage nach einer zumutbaren Verweisungstätigkeit (das LSG bejahe
Berufsschutz des Klägers) zur Folge hätten, dass die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auf einer "groben
Fehleinschätzung" beruhe. Der Senat habe nach der Anhörung nicht davon ausgehen können, dass in einer
mündlichen Verhandlung lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt werde; für den Senat sei vielmehr deutlich
gewesen, dass der Kläger seine Beweisanträge aus dem Schriftsatz vom 2. Januar 2003 zur Ermittlung zumutbarer
Verweisungstätigkeiten wiederholen würde, zumal ungeklärt sei, ob es die in Betracht gezogene Verweisungstätigkeit
des Montierers in der Lohngruppe IV bundesweit überhaupt in erheblicher Zahl auf dem Arbeitsmarkt gebe.
Die Beklagte hält die Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 Nr 2 und 3 SGG für nicht hinreichend dargetan bzw die
Beschwerde für unbegründet.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet; denn der gerügte Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen
Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz), das in der Regelung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG seinen
besonderen Ausdruck gefunden hat, liegt vor, und es ist nicht auszuschließen, dass das LSG nach dem
beabsichtigten Vortrag des Klägers bzw nach mündlicher Verhandlung zu Gunsten des Klägers entschieden hätte.
Die Möglichkeit, nach § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, weil eine
mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten wird, ist eng und in einer für die Beteiligten möglichst
schonenden Weise auszulegen und anzuwenden (vgl BSG Urteil vom 31. Juli 2002 - B 4 RA 28/02 R - veröffentlicht
bei Juris). Das bedeutet, dass das LSG in jedem Fall vor einer Entscheidung durch Beschluss auf den Schriftsatz des
Klägers vom 2. Januar 2003 hätte reagieren und ihn informieren müssen, dass und weshalb es seinen - neuen -
Vortrag gegebenenfalls für unerheblich hielt.
Indem das LSG am 23. Januar 2003 - ohne erneute Anhörung des Klägers - dessen Berufung im Beschlusswege nach
§ 153 Abs 4 SGG zurückgewiesen hat, hat es gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen. Denn die
Auskünfte der IG Metall vom 13. September 1999 und des Verbandes der Metall- und Elektrounternehmen H. e.V.
vom 20. Oktober 1999 sind vom LSG erstmals mit Telefax vom 30. Dezember 2002 in das Verfahren eingeführt
worden. Der Kläger hatte also am 2. Januar 2003 erstmals Gelegenheit, sich mit diesen Unterlagen auseinander zu
setzen und nach deren Auswertung vorzutragen, dass und weshalb aufgrund dieser Unterlagen eine
Berufungszurückweisung durch Beschluss nicht in Frage komme, sondern vielmehr zur Umsetzung der Erkenntnisse
in den vorgenannten Unterlagen auf seinen Fall (verbliebenes Leistungsvermögen im spezifisch zu beurteilenden
Einzelfall) eine weitere Beweiserhebung erforderlich sei. Hätte das LSG diesen - neuen - Vortrag des Klägers für seine
Entscheidung für unerheblich gehalten, hätte es der Grundsatz des fairen Verfahrens geboten, ihn zuvor hierauf
hinzuweisen, schon damit er gegebenenfalls einen Beweisantrag nach § 109 SGG hätte stellen können.
Im Übrigen ist fraglich, ob die Anwendung des § 153 SGG durch das LSG nach den Gesamtumständen des Falles
sachgerecht war. Zu Recht weist der Kläger darauf hin, dass das Verfahren in erster und zweiter Instanz insgesamt
über zehn Jahre andauerte und dass die tatsächlichen Umstände des Falles bis zum Schluss streitig blieben. Dass
bei einer solchen Fallgestaltung keine Sachlage gegeben ist, in der "zur Beschleunigung" ausnahmsweise unter
Verzicht auf eine mündliche Verhandlung entschieden werden kann, belegt nicht zuletzt der Beschluss vom 23.
Januar 2003 selbst, der mit 26 Seiten den Umfang eines komplexen Urteils überdurchschnittlichen
Schwierigkeitsgrads erreicht.
Zur Vermeidung einer weiteren Verfahrensverzögerung sowie weiterer Kosten macht der Senat daher von der durch §
160a Abs 5 SGG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, die Sache im Beschlusswege zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Dieses wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.