Urteil des BSG vom 01.06.2010

BSG: heizung, umzug, unterkunftskosten, freizügigkeit, wichtiger grund, veröffentlichung, wohnraum, gestaltungsspielraum, link, eingliederung

Bundessozialgericht
Urteil vom 01.06.2010
Sozialgericht Berlin S 157 AS 11252/08
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 34 AS 1724/08
Bundessozialgericht B 4 AS 60/09 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. September 2009
aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juli 2008
zurückgewiesen. Der Tenor des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juli 2008 wird in der Hauptsache
klarstellend wie folgt gefasst: "Der Bescheid des Beklagten vom 25. Januar 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3. März 2008 wird geändert. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum
vom 1. Februar bis 30. Juni 2008 monatlich weitere 100,28 Euro an Leistungen für Unterkunft und Heizung zu
erbringen." Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe:
I
1
Streitig ist die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung im Zeitraum vom 1.2. bis 30.6.2008.
2
Der Kläger lebte bis Ende 2006 in B., zog dann nach Ba. um und Anfang 2008 nach B. zurück. Er bezog bereits bei
seinem ersten B.- Aufenthalt Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Der in B. für ihn
zuständige Grundsicherungsträger, die Arge E., gewährte ihm bis Dezember 2007 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts - ohne sanktionsbedingten oder sonstigen Abzug - in Höhe von 537,52 Euro (Regelleistung: 347
Euro und Leistungen für Unterkunft und Heizung: 190,52 Euro). Durch Bescheid vom 14.1.2008 hob sie die
Bewilligung mit Wirkung ab dem 1.2.2008 wegen des Wechsels der Zuständigkeit auf Grund des Umzugs des Klägers
auf. Am 25.1.2008 bewilligte der Beklagte dem Kläger für den Zeitraum vom 1.2.2008 bis 30.6.2008
Grundsicherungsleistungen in Gestalt einer Regelleistung von 347 Euro und für Kosten der Unterkunft von 193,19
Euro.
3
Den Widerspruch des Klägers, mit dem dieser ua geltend gemacht hat, dass seine Miete - durch Mietvertrag
nachgewiesen - in B. 300 Euro warm betrage und er sich damit innerhalb der von dem Beklagten gezogenen
"Angemessenheitsgrenzen" halte, wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 3.3.2008 zurück. Zur
Begründung führte er aus, der Umzug des Klägers aus dem Bezirk E. nach B. sei nicht erforderlich gewesen. Daher
seien auch nur die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in bisheriger angemessener Höhe von 193,19 Euro von
ihm zu erbringen (§ 22 Abs 1 Satz 2 SGB II).
4
Mit seiner Klage ist der Kläger insoweit erfolgreich gewesen, als das SG Berlin den Beklagten unter Änderung des
Bescheides vom 25.1.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2008 verurteilt hat, dem Kläger
100,28 Euro, insgesamt 293,47 Euro (Bruttowarmmiete in Berlin von 300 Euro minus 6,53 Euro Kosten der
Warmwasserbereitung) als Kosten der Unterkunft zu gewähren (Urteil vom 24.7.2008). Der Kläger hat in der
mündlichen Verhandlung vor dem SG die Klage in Höhe von 6,53 Euro zurückgenommen.
5
Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG Berlin-Brandenburg das Urteil des SG aufgehoben und die Klage
abgewiesen (Urteil vom 10.9.2009). Es hat ausgeführt, die vom Kläger geltend gemachten Kosten für Unterkunft und
Heizung in B. in Höhe von 300 Euro abzüglich der Kosten für die Warmwasserbereitung seien zwar angemessen. Sie
hielten sich unstreitig in den von dem Beklagten gesetzten Angemessenheitsgrenzen. Gleichwohl sei der Beklagte
nicht verpflichtet, sie in tatsächlicher Höhe zu übernehmen. Der Umzug von E. nach B. sei nicht erforderlich gewesen,
sodass Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II nur in der Höhe erbracht werden
müssten, wie sie von der Arge E. gewährt worden seien. Weder habe der Kläger den Umzug im Hinblick auf die
Aufnahme einer konkreten Erwerbstätigkeit vollzogen, noch seien gesundheitliche Gründe oder sonstige Gründe
sozialer Art für den Umzug ausschlaggebend gewesen. Der Anwendungsbereich des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II könne
auch nicht auf einen Umzug innerhalb des "Vergleichsraums" beschränkt werden. Dieses gäben weder Gesetzestext
noch Gesetzesmaterialien her. Ebenso wenig könne ein Verstoß gegen Art 11 GG angenommen werden. Ein
Grundrechtseingriff liege bereits deswegen nicht vor, weil § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II nicht auf die Einschränkung der
Freizügigkeit ziele. Daher liege auch keine mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigung vor. Zudem sei der Kläger
tatsächlich nicht gehindert gewesen, nach B. umzuziehen, denn er habe für den Preis des Zimmers an seinem
Wohnort in Ba. nach den Ermittlungen des Gerichts ebenfalls ein Zimmer in B. mieten können. Ebenso wenig
vermochte das LSG einen Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG zu erkennen. Der "wichtige Grund" iS des Art 3 Abs 1 GG
liege darin, dass zu Gunsten der Finanzlage der öffentlichen Hand an dem bisherigen Wohnstandard festgehalten
werden solle. Auch bei richtiger Beratung des Klägers durch den Beklagten hätte kein Leistungsanspruch bestanden,
sodass die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ebenfalls nicht gegeben seien. Damit habe
die Beklagte die allein streitigen Leistungen für Unterkunft und Heizung zutreffend auf 193,52 Euro begrenzt, wobei sie
bereits über die von der Arge E. gewährten 190,52 Euro hinausgegangen sei.
6
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II. Er werde
durch die vom LSG gewählte Auslegung des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II in der ihm durch Art 11 Abs 1 GG
gewährleisteten Freizügigkeit eingeschränkt, ohne dass hierfür ein Rechtfertigungsgrund iS des Art 11 Abs 2 GG
vorhanden sei.
7
Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. September 2009 aufzuheben
und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juli 2008 zurückzuweisen.
8
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
9
Er hält die Ausführungen des LSG für zutreffend.
II
10
Die zulässige Revision ist begründet.
11
Der Kläger hat Anspruch auf die Übernahme der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in dem vom
SG ausgeurteilten Umfang. Im Gegensatz zur Auffassung des LSG waren die Leistungen nach § 22 Abs 1 Satz 1
SGB II nicht der Höhe nach auf den im Zuständigkeitsbereich der Arge E. ihm gewährten Zahlbetrag nach § 22 Abs 1
Satz 2 SGB II zu begrenzen. § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II entfaltet nach der Gesetzesbegründung, seiner
systematischen Stellung innerhalb des § 22 Abs 1 SGB II und seinem Sinn und Zweck nur für Umzüge im
Vergleichsraum Wirkung. Eine derartige Reduktion des Anwendungsbereichs des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II ist zudem
verfassungsrechtlich unter Berücksichtigung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art 3 Abs 1 GG iVm der durch
Art 11 Abs 1 GG gewährleisteten Freizügigkeit geboten.
12
1. Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 25.1.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
3.3.2008. Zutreffend sind SG und LSG davon ausgegangen, dass die Folgebescheide nicht Gegenstand dieses
Rechtsstreits geworden sind. § 96 SGG greift in diesen Fällen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nicht (s
nur BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R, BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1; BSG, Urteil vom
29.3.2007 - B 7b AS 4/06 R; BSG, Urteil vom 25.6.2008 - B 11b AS 45/06 R). Die Beteiligten haben sich zudem in
einem schriftlichen Vergleich vor dem SG (Aktenzeichen: S 96 AS 22323/08) darüber geeinigt, dass der Beklagte sich
für den Leistungszeitraum vom 1.7. bis 31.12.2008 der rechtskräftigen Entscheidung für den hier streitbefangenen
Leistungszeitraum unterwerfen wird.
13
Die Beteiligten haben den Streitgegenstand auch zulässig auf die Kosten der Unterkunft (KdU) beschränkt. Zwar sind
nach der Rechtsprechung des BSG bei einem Streit um höhere Leistungen grundsätzlich alle
Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen (BSG SozR 4-4300 § 428 Nr 3 RdNr 16; BSG,
Urteil vom 16.5.2007 - B 11b AS 29/06 R; BSG, Urteil vom 5.9.2007 - B 11b AS 49/06 R = SozR 4-4200 § 11 Nr 7).
Ein Bescheid kann im Einzelfall jedoch gleichwohl mehrere abtrennbare Verfügungen enthalten. Um eine derartige
abtrennbare Verfügung handelt es sich bei dem Betrag, der für die KdU nach § 22 SGB II bewilligt worden ist (vgl
hierzu im Einzelnen BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R, BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 19,
22; s auch BSG, Urteil vom 27.2.2008 - B 14/11b AS 55/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 9).
14
Der Kläger hat zudem den Streitgegenstand betragsmäßig begrenzt. Er hat die Klage vor dem SG in Höhe von
monatlich 6,53 Euro für die Kosten der Warmwasserbereitung zurückgenommen. In Streit steht mithin für den
streitigen Zeitraum der Differenzbetrag zwischen seinen tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in B.
in Höhe von 300 Euro monatlich minus 6,53 Euro = 293,47 Euro und den von dem Beklagten als Leistung nach § 22
Abs 1 Satz 1 SGB II erbrachten 193,19 Euro, also 100,28 Euro monatlich.
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2. Der Kläger hat Anspruch auf monatlich weitere 100,28 Euro als Leistungen für Unterkunft und Heizung in dem
streitigen Zeitraum.
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Er erfüllt die Voraussetzungen des § 7 SGB II für Leistungen der Grundsicherung. Sein Anspruch umfasst dem
Grunde nach auch Leistungen für KdU. Diese werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit sie
angemessen sind (vgl § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II). Damit lässt sich der Gesetzgeber - anders als bei der
pauschalierten Regelleistung - bei den Unterkunftskosten zunächst vom Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit leiten,
indem er anordnet, auf die tatsächlichen Unterkunftskosten abzustellen. Diese sind im Grundsatz zu erstatten.
Allerdings sind die tatsächlichen Kosten nicht in beliebiger Höhe erstattungsfähig, sondern nur insoweit, als sie
angemessen sind. Die Angemessenheitsprüfung limitiert somit die erstattungsfähigen Kosten der Höhe nach (BSG,
Urteil vom 22.9.2009 - B 4 AS 18/09 R).
17
Die vom Kläger in B. getätigten Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 300 Euro warm sind
unstreitig angemessen iS des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Das LSG hat die angemessenen Mietkosten für einen
Alleinstehenden in B. mit 360 Euro warm beziffert. Die dortigen Aufwendungen des Klägers liegen mit 300 Euro unter
dieser Grenze. Der Beklagte ist mithin verpflichtet, die tatsächlichen Aufwendungen des Klägers als Leistung für
Unterkunft und Heizung in dieser Höhe zu übernehmen. Er kann nicht damit gehört werden, dass die Leistung auf die
tatsächlichen angemessenen Aufwendungen am Wohnort des Klägers im Bezirk der Arge E. zu begrenzen sei.
18
3. Nach § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) gilt mit Wirkung ab dem 1.8.2006: Erhöhen sich nach einem nicht
erforderlichen Umzug die angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, werden die Leistungen weiterhin
nur in Höhe der bis dahin zu tragenden Aufwendungen erbracht. Es kann im vorliegenden Fall dahinstehen, nach
welchen abstrakten Kriterien die Erforderlichkeit eines Umzugs iS dieser Vorschrift zu beurteilen ist und ob der Umzug
des Klägers von Ba. nach B. hier in diesem Sinne erforderlich war. Die Vorschrift des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II findet
auf Fallgestaltungen, bei denen ein Umzug über die Grenzen des Vergleichsraums iS der Rechtsprechung des BSG (s
BSG, Urteil vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R) hinaus vorgenommen wird, von vornherein keine Anwendung (vgl LSG
Baden-Württemberg vom 17.7.2008 - L 7 AS 1300/08; LSG Niedersachsen-Bremen vom 26.10.2007 - L 13 AS 168/07
ER; Berlit in Münder, LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 22 RdNr 48, 51; Lang/Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl
2008, § 22 RdNr 47b; Knickrehm/Voelzke in Knickrehm/Voelzke/Spellbrink, Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II,
DGST Praktikerleitfaden, 2009, S 21; Krauß in Hauck/Noftz, SGB II Stand IX/2009 § 22 RdNr 95; aA Herold-Tews in
Löns/Herold-Tews, SGB II, 2. Aufl 2009, § 22 RdNr 27b). Dieses folgt aus der Gesetzesbegründung (a), ihrer
systematischen Stellung innerhalb des § 22 Abs 1 SGB II (b) und dem Sinn und Zweck der Vorschrift (c). Zudem ist
die Reduktion des Anwendungsbereichs der Norm auf den Vergleichsraum unter Berücksichtigung des allgemeinen
Gleichheitssatzes des Art 3 Abs 1 GG und der durch Art 11 Abs 1 GG gewährleisteten Freizügigkeit geboten (d).
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a) Eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf die Grenzen des Vergleichsraums mag sich zwar
nicht zwingend aus dem Wortlaut des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II erschließen. Bereits die Begründung im
Gesetzentwurf legt jedoch ein Verständnis der Norm nahe, das auf eine Anwendung innerhalb des Vergleichsraums
hinausläuft (vgl Lang/Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 22 RdNr 47a; Krauß in Hauck/Noftz, SGB II,
Stand IX/2009, § 22 RdNr 95). In der Bundestagsdrucksache 16/1410 wird die Einführung des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB
II wie folgt erläutert (S 23, zu Nummer 21 Buchstabe a): Durch die Regelung seien die Kosten der Unterkunft und
Heizung in den Fällen auf die bisherigen angemessenen Unterkunftskosten begrenzt, in denen Hilfebedürftige unter
Ausschöpfung der durch den kommunalen Träger festgelegten Angemessenheitsgrenzen für Wohnraum in eine
Wohnung mit höheren, gerade noch angemessenen Kosten ziehen. Es wird hier also auf die kommunalen
Angemessenheitsgrenzen abgestellt. Diese beziehen sich nach der ständigen Rechtsprechung des BSG jedoch
immer auf den Vergleichsraum am Wohnort des Hilfebedürftigen (vgl BSG, Urteil vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R,
BSGE 102, 263, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen und vom 17.12.2009 - B 4 AS 27/09 R, auch zur
Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Nur dort ist die abstrakte Angemessenheitsgrenze zu ermitteln. Soweit das
Berufungsgericht dem entgegenhält, eine Begrenzung auf den Vergleichsraum sei nicht mit der weiteren Begründung
des Gesetzentwurfs in Übereinstimmung zu bringen, in der als Beispielsfall für die Erforderlichkeit des Umzugs die
Eingliederung in Arbeit benannt werde, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Das LSG nimmt an, ein Umzug
innerhalb des örtlichen Bereichs sei bei Eingliederung in Arbeit im Regelfall nicht erforderlich. Dabei verkennt es, dass
der Vergleichsraum in der Rechtsprechung des erkennenden Senats als ein ausreichend großer Raum (nicht bloß
Orts- oder Stadtteil) der Wohnbebauung definiert wird, in dem auf Grund der räumlichen Nähe, der Infrastruktur und
insbesondere der verkehrstechnischen Verbundenheit ein insgesamt betrachtet homogener Lebens- und Wohnbereich
auszumachen ist (BSG, Urteil vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R, BSGE 102, 263, auch zur Veröffentlichung in SozR
vorgesehen). Insbesondere um einer Ghettoisierung vorzubeugen, sind die Grenzen des Vergleichsraums weit zu
ziehen. Der Senat hat es deshalb nicht für ausgeschlossen gehalten, das gesamte Stadtgebiet M. als räumlichen
Vergleichsmaßstab anzusehen und hat einen solchen für das Stadtgebiet E., einschließlich des Ortsteils K.
angenommen (BSG, Urteil vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R, BSGE 102, 263, auch zur Veröffentlichung in SozR
vorgesehen; BSG, Urteil vom 17.12.2009 - B 4 AS 27/09 R, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). In einem
solchen Vergleichsraum ist die Erforderlichkeit eines Umzugs zur Eingliederung in Arbeit nicht von vornherein
ausgeschlossen. Zudem fügt sich die Regelung des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II insoweit in das Konzept des
Vergleichsraums ein, als sie den Ausnahmecharakter der Übernahme von höheren Unterkunftskosten als den
bisherigen unterstreicht, weil in der Regel die Aufnahme einer Arbeit im Vergleichsraum keinen Umzug erfordert.
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b) Eine Beschränkung der Wirkung des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II auf den Vergleichsraum entspricht auch der
systematischen Stellung der Norm innerhalb des § 22 Abs 1 SGB II. Die Vorschrift steht im Zusammenhang mit den
Sätzen 1 und 3 des Abs 1. Die Höhe der angemessenen Unterkunfts- und Heizkosten nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II
wird im Vergleichsraum im Rahmen der "abstrakten Angemessenheitsprüfung", also im "kommunalen Bereich"
ermittelt. Die Verpflichtung zur Kostensenkung bei nicht angemessenen Unterkunftskosten nach § 22 Abs 1 Satz 3
SGB II besteht nur innerhalb des Vergleichsraums; ggf ist sogar ein noch engerer Raum geschützt, das soziale
Umfeld. Kosten müssen jedoch nur bis zu einem Mietpreis gesenkt werden, wie er nach einem "schlüssigen Konzept"
im Vergleichsraum als angemessen ermittelt worden ist. § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II nimmt Elemente beider
Regelungen in sich auf. Einerseits normiert die Vorschrift die Höhe der angemessenen Kosten iS des Satz 1 und
andererseits soll sie - wie auch Satz 3 - der Verpflichtung des Leistungsträgers, unangemessene Unterkunftskosten
tragen zu müssen, vorbeugen. Anknüpfungspunkt der beiden Regelungen, in die § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II
eingebunden ist, ist jedoch immer die abstrakt angemessene Miete im Vergleichsraum. Ein Grund, § 22 Abs 1 Satz 2
SGB II aus diesem systematischen Zusammenhang herauszulösen, ist nicht ersichtlich.
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c) Die aus der Systematik folgende Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II wird durch
Sinn und Zweck der Regelung bestätigt. Mit der nur ausnahmsweisen Übernahme von höheren Unterkunftskosten
gegenüber den bisher als angemessen anerkannten - auch innerhalb der Angemessenheitsgrenzen - soll zweierlei
vorgebeugt werden. Zum einen soll dem Missbrauch der Leistungsinanspruchnahme eine Grenze gesetzt werden.
Dem Hilfebedürftigen wird es verwehrt, den maximalen Leistungsanspruch auszuschöpfen, wenn sein
existenzsichernder Bedarf bereits angemessen gedeckt ist (vgl Lang/Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl, 2008,
§ 22 RdNr 47b). Zum Zweiten soll den Kostensteigerungen für Leistungen der Unterkunft innerhalb der kommunalen
Grenzen vorgebeugt werden. Nach einer vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) in
Auftrag gegebenen Studie "Kosten der Unterkunft und die Wohnungsmärkte. Auswirkungen der Regelungen zur
Übernahme der Kosten der Unterkunft auf Transferleistungsempfänger und Kommunen" besteht ein direkter
Zusammenhang zwischen den für Leistungen für Unterkunft und Heizung aufgewandten Kosten der Kommunen und
der Mietpreisgestaltung der Anbieter von Wohnraum (Forschungen, Heft 142, Hrsg: BMVBS/BBSR, Bonn 2009, S 104
ff). Auch der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge weist darauf hin, dass die kommunalen
Angemessenheitsregelungen ein spezifisches Nachfrageverhalten produzieren (Stellungnahme des Deutschen
Vereins für öffentliche und private Fürsorge zur Diskussion über eine Pauschalierung der Leistungen für Unterkunft
und Heizung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 10.3.2010, DV 01/10 AF III, S 5). Bewohnen
Hilfebedürftige daher angemessenen Wohnraum, für den sie jedoch nur Aufwendungen unterhalb der
Angemessenheitsgrenze zu tätigen haben, soll ihnen die Möglichkeit abgeschnitten werden, neuen Wohnraum unter
Ausschöpfung der Angemessenheitsgrenze anzumieten, um den Kommunen ein Steuerungsinstrument im Hinblick
auf die Kostenentwicklung bei Leistungen nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II zu belassen. Ein derartiges Interesse an
der Kostengestaltung besteht für die Kommune über ihren Leistungsbereich hinaus nicht und sie kann von ihr auch
über dessen Grenzen hinweg nicht beeinflusst werden. Ziel der Regelung ist es hingegen nicht, Kommunen, in denen
ein hohes Mietniveau gegeben ist, vor einem weiteren Zuzug von arbeitsuchenden Hilfebedürftigen zu "schützen"
(Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, Stand IX/2009, § 22 RdNr 95). Ebenso wenig ist es Sinn und Zweck der Vorschrift,
den Hilfebedürftigen in seiner Dispositionsfreiheit, sich einen anderen Wohnort außerhalb des bisherigen
Vergleichsraums zu suchen, einzuschränken (Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, Stand IX/2009, § 22 RdNr 95). Er soll
durch das Grundsicherungsrecht nicht gehindert werden, an einen Ort umzuziehen, von dem er sich die
Verwirklichung seiner beruflichen oder persönlichen Chancen verspricht, nur weil das dortige Mietniveau höher ist, als
an seinem bisherigen Wohnort.
22
d) Die Reduktion der Begrenzung der Unterkunftskosten nach § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II auf die des Vergleichsraums
ist zudem nach Art 3 Abs 1 GG iVm Art 11 Abs 1 GG geboten. Prüfungsmaßstab ist insoweit vornehmlich Art 3 Abs
1 GG, weil der spezifische Schutzgedanke des allgemeinen Gleichheitssatzes zu der hier anzuwendenden Regelung
die stärkere soziale Beziehung aufweist (vgl zur Prüfung bei Überschneidung des Gleichheitssatzes mit
Freiheitsgrundrechten BVerfGE 64, 229, 238 f; 65, 104, 112 f; 75, 382, 393; 82, 60, 86).
23
Der allgemeine Gleichheitssatz verbietet es, verschiedene Gruppen von Normadressaten ungleich zu behandeln,
wenn zwischen ihnen nicht Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, die eine unterschiedliche
Behandlung rechtfertigen können (BVerfG, Beschlüsse vom 7.10.1980 - 1 BvL 50/79, 1 BvL 89/79, 1 BvR 240/79,
BVerfGE 55, 72, 88; BVerfG, Beschlüsse vom 11.5.2005 - 1 BvR 368/97, 1 BvR 1304/98, 1 BvR 2300/98, 1 BvR
2144/00, BVerfGE 112, 368, 401; BVerfG, Beschluss vom 11.7.2006 - 1 BvR 293/05, BVerfGE 116, 229, 238). Soweit
die Gewährung von Sozialleistungen bedürftigkeitsabhängig ist, hat der Gesetzgeber dabei grundsätzlich einen weiten
Gestaltungsspielraum (BVerfG, Beschluss vom 2.2.1999 - 1 BvL 8/97, BVerfGE 100, 195, 205; BSG, Urteil vom
3.12.2002 - B 2 U 12/02 R, BSGE 90, 172, 178 = SozR 3-5910 § 76 Nr 4). Der Gestaltungsspielraum wird jedoch
umso enger, je mehr sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich
geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (BVerfG, Beschluss vom 26.1.1993 - 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1
BvL 43/92, BVerfGE 88, 87, 96). Ein "wichtiger Grund" alleine ist dann - anders als das LSG meint - nicht mehr
ausreichend. Ob die zur Prüfung gestellte Regelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist, hängt in einem
solchen Fall vielmehr davon ab, ob für die getroffene Differenzierung Gründe von solchem Gewicht bestanden, dass
sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen konnten (BVerfG, Beschluss vom 6.7.2004 - 1 BvL 4/97, BVerfGE 111, 160
= SozR 4-5870 § 1 Nr 1).
24
Dieser Maßstab gebietet es, den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zumindest bei den aus § 22 Abs 1 Satz 2
SGB II folgenden Umzugsbeschränkungen bei Überschreitung der Grenzen des Vergleichsraums zu begrenzen. Eine
Ausweitung der nur begrenzten Übernahme der Aufwendungen für Unterkunfts- und Heizkosten nach einem Umzug
über die Grenzen des bisherigen Vergleichsraums hinaus würde zu einer unterschiedlichen Behandlung von
Hilfebedürftigen führen, die in Bereichen mit niedrigen Mieten wohnen, gegenüber solchen, in deren Vergleichsraum
die Mieten deutlich höher sind. Während letztere ungehindert durch die Beschränkung des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II
sich einen neuen Wohnort suchen könnten, weil in dem Bereich des "neuen" Grundsicherungsträgers die
Angemessenheitsgrenze ohnehin niedriger ist als die bisherige angemessene Miete, werden Hilfebedürftige aus
Vergleichsräumen mit niedrigeren Mieten anders behandelt, weil sie an diesem niedrigeren Mietniveau festgehalten
würden. Eine verfassungsfeste Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung gibt es nicht. Soweit das LSG allein
darauf abstellt, den Hilfebedürftigen an seinem bisherigen Wohnstandard festhalten zu wollen, wird die
Ungleichbehandlung hierdurch ebenso wenig gerechtfertigt, wie durch die Benennung des Ziels, die Kosten für
Unterkunftsleistungen möglichst niedrig halten zu wollen.
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Im Rahmen der Prüfung ist hier zusätzlich Art 11 Abs 1 GG zu beachten, weil die "benachteiligte" Gruppe durch die
Begrenzung der Unterkunftskosten am neuen Wohnort mittelbar in ihrem Recht auf Freizügigkeit (vgl zur mittelbaren
Beeinträchtigung BVerfG, Urteil vom 17.3.2004 - 1 BvR 1266/00, BVerfGE 110, 177 RdNr 35) beeinträchtigt wird. Dies
hat zur Folge, dass sich die dem Gesetzgeber im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes zukommende
Gestaltungsfreiheit zusätzlich verengt.
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Nach Art 11 Abs 1 GG genießen alle Deutschen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II
berührt den sachlichen Schutzbereich des Art 11 Abs 1 GG. Er betrifft auch die freie Wohnsitzgründung in einem
Bundesland oder einer Gemeinde (BVerfG, Urteil vom 17.3.2004 - 1 BvR 1266/00, BVerfGE 110, 177 RdNr 33).
Insoweit kommt es nicht darauf an, ob § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II auf die Einschränkung der Freizügigkeit zielt. Das
Grundgesetz bindet den Schutz vor Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht an den Begriff des Eingriffs oder gibt diesen
inhaltlich vor (BVerfGE 110, 177 RdNr 35). Auch wenn staatliche Maßnahmen nur faktische Wirkung entfalten,
müssen Grundrechtsbeeinträchtigungen hinreichend zu rechtfertigen sein. Eine derartige Rechtfertigung ist hier jedoch
nicht zu erkennen. Auch die Gruppe der SGB II-Leistungsempfänger, die am Zuzugsort höhere Leistungen für
Unterkunft und Heizung beanspruchen würde als an ihrem Ausgangsort, würde nur Leistungen innerhalb der Grenzen
der Angemessenheit am Zuzugsort und damit nach einem SGB II-Leistungsempfängern angemessenen Standard
erhalten. Die Belastungen des dortigen Trägers - der neuen zuständigen Kommune - würden sich mithin in den
Grenzen seiner "normalen" Belastung durch Gewährung existenzsichernder Leistungen halten (vgl hierzu Silagi, Zur
Festschreibung der Einschränkung der Freizügigkeit im Wohnortzuweisungsgesetz durch das BVerfG, ZAR 2004,
225, 226 f). Es gehört nicht zu den Funktionen des Grundsicherungsrechts, die aufnehmende Kommune durch § 22
Abs 1 Satz 2 SGB II vor arbeitsuchenden Hilfebedürftigen zu schützen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.