Urteil des BSG vom 19.12.2013

BSG: entschädigung, änderung der verhältnisse, bekanntgabe, erwerbsfähigkeit, unfallfolgen, presse, rentenanspruch, anfechtungsklage, minderung, anhörung

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 19.12.2013, B 2 U 1/13 R
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 5.
Dezember 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der im Anschluss an eine vorläufige Entschädigung
zu zahlenden Verletztenrente streitig.
2 Die Klägerin erlitt am 15.7.1999 in ihrer versicherten Tätigkeit als Postzustellerin einen
Autounfall, den die Beklagte als Arbeitsunfall anerkannte. Bis zum 29.10.2001 erhielt sie
Verletztengeld. Mit Bescheid vom 20.12.2001 stellte die Beklagte bestimmte
Gesundheitsschäden als Folgen des Arbeitsunfalles fest und gewährte als vorläufige
Entschädigung ab 30.10.2001 eine Verletztenrente nach einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 vH. Nach Einholung von Gutachten und Anhörung der
Klägerin entschied die Beklagte in einem der Klägerin am 12.7.2002 zugegangenen
Bescheid vom 11.7.2002, dass ab 1.8.2002 anstelle der als vorläufige Entschädigung
gezahlten Rente eine Rente lediglich nach einer MdE von 35 vH auf unbestimmte Zeit
gezahlt werde. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, es sei eine
Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes eingetreten. Auch sei die bislang als
vorläufige Entschädigung gewährte Rente nunmehr gemäß § 62 Abs 2 Satz 1 SGB VII als
Dauerrente nach einer MdE von 70 vH weiterzugewähren, weil nicht binnen drei Jahren
nach dem Unfallereignis, sondern erst zum 1.8.2002 die erstmalige Feststellung der Rente
erfolgt sei. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.1.2003
zurück.
3 Das SG hat die Klage gegen diese Bescheide sowie gegen eine die Anerkennung weiterer
Unfallfolgen betreffende Entscheidung der Beklagten vom 25.5.2007 und auf Zahlung einer
Verletztenrente ab 1.8.2002 nach einer MdE von 70 vH sowie ab 1.1.2007 nach einer MdE
von 80 vH abgewiesen (Urteil vom 17.3.2010). Die Beklagte sei berechtigt gewesen, ohne
Bindung an die bisher zugrunde gelegte Höhe der MdE die Verletztenrente nach einer
niedrigeren MdE ab 1.8.2002 festzusetzen, weil der Bescheid der Klägerin innerhalb der
Frist von drei Jahren bekannt gegeben worden sei und die unfallbedingte MdE nur noch 30
vH betrage. Das LSG hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG und den
Bescheid der Beklagten vom 11.7.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
29.1.2003 aufgehoben (Urteil vom 5.12.2012). Die Beklagte sei nicht mehr aufgrund des §
62 Abs 2 SGB VII zur Herabsetzung der Verletztenrente befugt gewesen. Zwar sei der
Bescheid vom 11.7.2002 der Klägerin innerhalb von drei Jahren nach dem Unfallzeitpunkt
zugegangen, dessen materielle Wirksamkeit sei jedoch aufgrund des § 73 Abs 1 SGB VII
erst nach dem Dreijahreszeitraum zum Zeitpunkt des Beginns der Verletztenrente nach
einer MdE von 35 vH am 1.8.2002 eingetreten. Für den Dreijahreszeitraum des § 62 Abs 2
SGB VII sei allein auf diesen Zeitpunkt des Eintritts der materiellen Rechtsfolgen des
Bescheids abzustellen. Die Verletztenrente sei daher als Dauerrente nach einer MdE von
70 vH in Höhe der vorläufigen Entschädigung weiterzuzahlen. Eine wesentliche Änderung
der Unfallfolgen, die zu einer abweichenden Rentenfestsetzung hätte berechtigen können,
sei nach den vorliegenden Beweisergebnissen nicht feststellbar. Der die Anerkennung
weiterer Unfallfolgen betreffende Bescheid vom 25.5.2007 sei nicht Gegenstand des
Verfahrens geworden.
4 Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 62 Abs 2
SGB VII. Innerhalb der Frist von drei Jahren sei der Klägerin der Bescheid vom 11.7.2002
bekanntgegeben und damit wirksam geworden. Auf diesen Zeitpunkt sei abzustellen, so
dass die Feststellung der Verletztenrente auf Dauer ohne Bindung an die bisher zugrunde
gelegte MdE habe erfolgen dürfen. Die MdE habe nach den eingeholten Gutachten 35 vH
betragen.
5 Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 5. Dezember 2012
aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle
vom 17. März 2010 zurückzuweisen.
6 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8 Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen
Urteils des LSG und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht begründet.
Entgegen der Rechtsansicht des LSG war die Beklagte gemäß § 62 Abs 2 SGB VII befugt,
die Bewilligung der als vorläufige Entschädigung zuerkannten Verletztenrente vom
20.12.2001 aufzuheben und eine Verletztenrente auf Dauer ohne Bindung an die bisher
zugrunde gelegte MdE zu bewilligen. Ob die Beklagte allerdings die Verletztenrente ab
1.8.2002 nach einer höheren MdE als 35 vH zu gewähren hat, kann wegen fehlender
Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht entschieden werden.
9 1. Auf die Revision der Beklagten war über die Anfechtungsklage der Klägerin gegen den
Bescheid der Beklagten vom 11.7.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
29.1.2003 zu entscheiden, der das LSG stattgegeben hatte. Mit den angefochtenen
Verfügungen hat die Beklagte die Feststellung einer als vorläufige Entschädigung zu
zahlenden Verletztenrente nach einer MdE von 70 vH mit Ablauf des Monats Juli 2002
aufgehoben und eine Verletztenrente nach einer MdE von 35 vH auf Dauer ab 1.8.2002
gewährt. Soweit das LSG das Urteil des SG auch insoweit aufgehoben hat, als das
erstinstanzliche Gericht die Klage gegen den weiteren Bescheid vom 25.5.2007
abgewiesen hat, ist hierüber nicht zu entscheiden. Insoweit hat die Beklagte als
Revisionsführerin das Urteil des LSG nicht angefochten. Die Klägerin konnte zulässig ihr
vorrangiges Ziel der Weitergewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 70 vH
über den 1.8.2002 hinaus mit einer Anfechtungsklage erreichen (§ 54 Abs 1 SGG). Soweit
die Klägerin die von der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden ebenfalls
abgelehnte Zahlung einer Verletztenrente nach einer höheren MdE als 70 vH, nämlich 80
vH, begehrt, konnte die Klägerin dieses Begehren zulässig mit einer Leistungsklage (§ 54
Abs 4 SGG) verfolgen (vgl dazu BSG vom 5.2.2008 - B 2 U 6/07 R - SozR 4-1300 § 41 Nr
1 RdNr 11).
10 2. Die Beklagte war gemäß § 62 Abs 2 SGB VII befugt, die vorläufige Entschädigung der
Klägerin durch Bescheid vom 11.7.2002 mit Wirkung ab 1.8.2002 neu festzustellen.
Maßgebend für die Anwendbarkeit des § 62 Abs 2 SGB VII ist entgegen der Rechtsansicht
des LSG ausschließlich die formelle Wirksamkeit (Bekanntgabe gemäß § 37 Abs 1 iVm §
39 Abs 1 SGB X) des Bescheids vom 11.7.2002.
11 In der gesetzlichen Unfallversicherung haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge
eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus um mindestens 20
vH gemindert ist, nach § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII Anspruch auf Rente. Diese wird bei
Minderung der Erwerbsfähigkeit als Teilrente geleistet und in Höhe des Vomhundertsatzes
der Vollrente festgesetzt, der dem Grad der MdE entspricht (§ 56 Abs 3 Satz 2 SGB VII).
Gemäß § 62 Abs 2 Satz 2 SGB VII kann bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach
der vorläufigen Entschädigung der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der
vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht
geändert haben. Nach Satz 1 des § 62 Abs 2 SGB VII wird die Rente jedoch spätestens
mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall kraft Gesetzes als Rente auf
unbestimmte Zeit geleistet. § 62 Abs 2 SGB VII ermächtigt damit dazu, trotz vorliegender
Entscheidung über die Bewilligung einer Verletztenrente als vorläufige Entschädigung
eine Dauerrente ohne Bindung an die bisher zugrunde gelegte MdE nach einer
niedrigeren MdE zu bewilligen, ohne dass dafür eine wesentliche Änderung gegenüber
den Verhältnissen eingetreten sein müsste, die bei Bewilligung der vorläufigen
Entschädigung vorgelegen hatten. Diese Spezialvorschrift verdrängt in ihrem
Anwendungsbereich die generelle Regelung des § 48 SGB X, die als Voraussetzung ua
eine wesentliche Änderung der Verhältnisse für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes
fordert. Die Anwendung des § 62 Abs 2 Satz 2 SGB VII setzt voraus, dass eine
Verletztenrente als vorläufige Entschädigung bewilligt wurde, der Versicherungsträger
nunmehr erstmals darüber entscheidet, ob dem Versicherten eine Rente auf unbestimmte
Zeit zusteht, und der Änderungsvorbehalt wegen Ablaufes des Dreijahreszeitraumes noch
nicht entfallen war (vgl BSG vom 16.3.2010 - B 2 U 2/09 R - BSGE 106, 43 = SozR 4-2700
§ 62 Nr 1, RdNr 14 ff). Diese Voraussetzungen des § 62 Abs 2 SGB VII lagen hier vor.
12 a) Die Beklagte hatte nach Anhörung der Klägerin gemäß § 24 Abs 1 SGB X in dem
angefochtenen Bescheid vom 11.7.2002 für einen mit den Umständen vertrauten
objektiven Erklärungsempfänger noch hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass
sie die Regelung in dem Bescheid vom 20.12.2001 über die bewilligte Verletztenrente als
vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 70 vH zum Ablauf des 31.7.2002 aufhebe
und ab 1.8.2002 eine Verletztenrente nach einer MdE von 35 vH gewähre. Auch wenn
Rechtsklarheit und Rechtssicherheit grundsätzlich erfordern, in der
Aufhebungsentscheidung den aufzuhebenden Verwaltungsakt genau zu benennen und
den Umfang der Aufhebung zu bezeichnen (vgl hierzu BSG vom 16.3.2010 - B 2 U 2/09 R
- BSGE 106, 43 = SozR 4-2700 § 62 Nr 1, RdNr 22), genügte der angefochtene Bescheid
hier noch dem Bestimmtheitserfordernis des § 33 Abs 1 SGB X.
13 b) In dem Bescheid vom 20.12.2001 hatte die Beklagte eine Verletztenrente als vorläufige
Entschädigung iS von § 62 Abs 1 Satz 1 SGB VII gewährt. In diesem Bescheid hatte sie
durch ausdrückliche Verwendung der Bezeichnung "vorläufige Entschädigung" für die
bewilligte Rente und Hinweis auf § 62 Abs 1 SGB VII hinreichend deutlich zum Ausdruck
gebracht, dass die Verletztenrente lediglich vorläufig und damit unter Vorbehalt gewährt
werde.
14 c) Nach der Bewilligung der vorläufigen Entschädigung unter Änderungsvorbehalt war
zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des diese Entscheidung aufhebenden Verwaltungsaktes
vom 11.7.2002 der Dreijahreszeitraum nach dem Unfallereignis am 15.7.1999 iS des § 62
Abs 2 SGB VII noch nicht abgelaufen und deshalb der Änderungsvorbehalt kraft Gesetzes
noch nicht entfallen. Der angefochtene Bescheid vom 11.7.2002 ging nämlich nach den
nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angefochtenen und damit für den Senat
bindenden Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) dem insoweit zum Empfang von
Sendungen Bevollmächtigten der Klägerin am 12.7.2002 zu. Unerheblich ist, dass der
angefochtene Bescheid in Umsetzung des § 72 Abs 1 SGB VII den Endzeitpunkt der
vorläufigen Entschädigung mit dem Ablauf des Juli 1999 und den Beginn der
Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von nur noch 35 vH auf den 1.8.1999 und damit
von den materiellen Rechtsfolgen her jeweils auf einen Zeitpunkt nach Ablauf der
Dreijahresfrist festsetzte.
15 Für die Wahrung der Dreijahresfrist des § 62 Abs 1 und Abs 2 SGB VII genügt es, dass die
die Bewilligung der vorläufigen Entschädigung aufhebende Verfügung innerhalb dieses
Zeitraums gemäß § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X durch Bekanntgabe wirksam wird, auch wenn
ihre materiell-rechtlichen Wirkungen nach diesem Zeitraum eintreten (vgl ua Burchardt in:
Becker ua, SGB VII, § 62 RdNr 16; Sacher in: Lauterbach, UV-SGB VII, § 62 SGB VII RdNr
21; Bereiter-Hahn/Mehrtens, GUV, § 62 SGB VII Anm 9.1; Holtstaeter in:
Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Komm zum SozR, 3. Aufl 2013, § 62 RdNr 9; Padé in:
jurisPK-SGB VII, § 62 RdNr 39; Marschner in: BeckOK-SozR, § 62 SGB VII RdNr 9; Kunze
in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII, 3. Aufl, § 62 RdNr 4; Ricke in: Kasseler Komm, § 62
SGB VII RdNr 7; Kranig in: Hauck/Noftz, K § 62 SGB VII RdNr 9; vgl auch BSG vom
16.3.2010 - B 2 U 2/09 R - BSGE 106, 43 = SozR 4-2700 § 62 Nr 1, RdNr 14 ff).
16 Zwar ist dem Wortlaut der Regelungen des § 62 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB VII, nach denen
bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung die MdE
abweichend festgestellt werden kann und die vorläufige Entschädigung spätestens mit
Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall als Rente auf unbestimmte Zeit
geleistet wird, nicht mit letzter Eindeutigkeit zu entnehmen, ob die Norm auf die formelle
Wirksamkeit des die erstmalige Neufeststellung regelnden Bescheides durch
Bekanntgabe iS der §§ 37 Abs 1, 39 Abs 1 SGB X oder auf den materiell-rechtlichen
Zeitpunkt des Wegfalls der vorläufigen Entschädigung iS des § 73 Abs 1 SGB VII
abzustellen ist. Die Entstehungsgeschichte sowie der Sinn und Zweck des § 62 SGB VII
sprechen jedoch dafür, allein auf den Zeitpunkt der Wirksamkeit durch Bekanntgabe der
die Bewilligung der vorläufigen Entschädigung aufhebenden Entscheidung abzustellen.
17 Bereits die Vorschriften der RVO regelten die Gewährung einer Verletztenrente als
vorläufige Entschädigung. § 1585 Abs 1 RVO sah die Gewährung einer vorläufigen
Entschädigung während der ersten zwei Jahre nach dem Unfall vor, wenn die Rente noch
nicht als Dauerrente festgestellt werden konnte. Gemäß § 1585 Abs 2 RVO war die
Dauerrente spätestens mit Ablauf von zwei Jahren festzustellen, ohne dass hierfür die
Änderung der Verhältnisse erforderlich war und ohne dass die bisherigen Feststellungen
der Grundlagen für die Rentenberechnung bindend waren. § 622 Abs 2 RVO bestimmte,
dass spätestens mit Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall die Rente kraft Gesetzes zur
Dauerrente wurde. Hierzu hat der Senat entschieden, dass die Umwandlung einer
vorläufigen Entschädigung kraft Gesetzes in eine Dauerrente nicht erfolgte, wenn der
Entziehungsbescheid vor Ablauf der seinerzeit zweijährigen Frist nach dem Unfall
bekannt gegeben wurde (vgl BSG vom 19.12.1968 - 2 RU 153/66 - BSGE 29, 73, 74 =
SozR Nr 8 zu § 622 RVO, - 2 RU 95/65 - und - 2 RU 165/66 - juris, unter Aufgabe von BSG
vom 29.9.1965 - 2 RU 20/65 - BSGE 24, 36, 37 = SozR Nr 2 zu § 622 RVO). Es ist nicht
ersichtlich, dass durch den mit diesen Vorschriften der RVO insoweit inhaltlich
übereinstimmenden § 62 SGB VII, der nunmehr allerdings eine dreijährige Frist für die
Neufestsetzung einräumt, eine abweichende Regelung erfolgen sollte, so dass nunmehr
für die Frage, ob innerhalb der Dreijahresfrist die vorläufige Entschädigung aufgehoben
wurde, nicht mehr auf den Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Bescheides durch
Bekanntgabe abzustellen wäre. Vielmehr geht aus den Gesetzesmaterialien deutlich
hervor, dass - mit Ausnahme der um ein Jahr verlängerten Frist - die Neuregelung des §
62 SGB VII dem bisherigen Recht entsprechen sollte (vgl BT-Drucks 13/2204 S 73, 91).
18 Eine an die formelle Bekanntgabe anknüpfende Auslegung der Dreijahresfrist des § 62
Abs 2 SGB VII steht zudem mit dem sich aus Sinn und Zweck der Vorschrift ergebenden
Regelungskonzept der Norm in Einklang. Wie der Senat bereits in seiner Entscheidung
vom 16.3.2010 (B 2 U 2/09 R - BSGE 106, 43 = SozR 4-2700 § 62 Nr 1, RdNr 17 f)
ausgeführt hat, trägt § 62 SGB VII den Erfahrungen Rechnung, dass in der ersten Zeit
nach dem Versicherungsfall dessen gesundheitliche Folgen und deren Auswirkungen auf
die Erwerbsfähigkeit des Versicherten häufig allmählichen oder auch kurzfristigen
Veränderungen unterliegen. Anpassung und Gewöhnung können zu Besserungen führen,
die unfallbedingte MdE kann in den ersten Jahren auch zunehmen. § 62 Abs 1 Satz 1
SGB VII ermächtigt und verpflichtet den Unfallversicherungsträger, die Rente auf
unbestimmte Zeit stets, also auch im Dreijahreszeitraum, dann festzustellen, wenn in
tatsächlicher Hinsicht der Umfang der MdE abschließend festgestellt werden kann und die
weiteren Voraussetzungen vorliegen. Nur wenn dies nicht möglich ist, soll der zuständige
Träger vorläufig entscheiden. Eine abschließende Feststellung des Umfangs der MdE hat
er zu treffen, wenn die MdE, die aufgrund des bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens
festgestellten Sachverhalts zu schätzen ist, voraussichtlich über den verbliebenen
Dreijahreszeitraum nach dem Versicherungsfall hinaus fortbestehen wird. Kann eine
solche Prognose nicht gestellt werden, hat der Träger ein zwar entstandenes, aber
bezüglich Dauer oder Umfang noch nicht abschließend beurteilbares Recht auf Rente
festzustellen, aber nur unter dem Vorbehalt erleichterter Abänderbarkeit im
Dreijahreszeitraum als vorläufige Entschädigung. Infolge der Bewilligung unter der
spezialgesetzlich erlaubten Nebenbestimmung des Vorbehalts erleichterter
Abänderbarkeit weiß der Versicherte, dass sich sein Rentenanspruch nach Grund und
Höhe noch nicht verfestigt hat (vgl BSG vom 16.3.2010 - B 2 U 2/09 R - aaO RdNr 17 f).
Die Erleichterung der Abänderbarkeit und die damit verbundene Ungewissheit für den
Versicherten, ob und in welcher Höhe eine Rente auf Dauer gezahlt wird, lässt das Gesetz
jedoch nur für die Dauer von drei Jahren zu. Diesem mit § 62 SGB VII verfolgten
Regelungskonzept wird genügt, wenn innerhalb des Dreijahreszeitraums die Bewilligung
der vorläufigen Entschädigung aufgehoben, endgültig über den Rentenanspruch
entschieden und diese Entscheidung dem Versicherten bekanntgegeben wird. Innerhalb
des Dreijahreszeitraums wird dadurch die Entscheidung über die Gewährung einer
Verletztenrente getroffen und erlangt der Versicherte Kenntnis davon, ob und in welcher
Höhe in Zukunft eine Rente gezahlt wird. Dies gilt unabhängig davon, ob die
Entscheidung des Versicherungsträgers den Zeitpunkt des Endes der Zahlung der
vorläufigen Entschädigung und des Beginns der Zahlung einer Dauerrente gemäß § 73
Abs 1 und 2 SGB VII mit dem Zeitpunkt des Beginns des Monats nach Bekanntgabe des
Bescheides festlegt und dieser Zeitpunkt außerhalb des Dreijahreszeitraums liegt.
19 Schließlich sprechen auch Erwägungen der Verwaltungspraktikabilität für die von der
Beklagten ebenso wie im Schrifttum einhellig vertretene formelle Auslegung des § 62 Abs
2 SGB VII. Wie der Senat bereits zur weitgehend inhaltsgleichen Vorschrift des § 622 Abs
2 RVO ausgeführt hat (vgl BSG vom 19.12.1968 - 2 RU 153/66 - BSGE 29, 73, 74 = SozR
Nr 8 zu § 622 RVO), wird damit die Möglichkeit geschaffen, die Frist, innerhalb der eine
vorläufige Entschädigung aufgehoben und eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit, ggf
nach einer geringeren MdE, bewilligt oder eine solche abgelehnt werden muss, so weit
wie möglich auszuschöpfen.
20 Die vom LSG vertretene abweichende Rechtsauffassung kann sich auch nicht auf die
bisherige Rechtsprechung des BSG berufen. Die Entscheidungen des Senats vom
5.2.2008 (B 2 U 6/07 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 1) und vom 16.3.2010 (B 2 U 2/09 R -
BSGE 106, 43 = SozR 4-2700 § 62 Nr 1, RdNr 23) stützen vielmehr das hier gefundene
Ergebnis. So hat der Senat in seiner Entscheidung vom 16.3.2010 (aaO RdNr 14) für den
Fristablauf des § 62 Abs 2 SGB VII ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe der
Entscheidung abgestellt. In der vom LSG insbesondere für seine Rechtsansicht
herangezogenen Entscheidung des BSG vom 5.2.2008 (aaO) findet sich kein Anhalt dafür,
dass der Senat auf den Zeitpunkt der materiellen Wirksamkeit der Entscheidung nach § 62
Abs 2 SGB VII abgestellt haben könnte.
21 Ob der Klägerin für die Zeit ab 1.8.2002 eine Verletztenrente nach einer höheren MdE als
35 vH zu gewähren ist, kann allerdings nicht abschließend entschieden werden. Nach den
Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) lag zu diesem Zeitpunkt lediglich keine zur
Aufhebung bzw Abänderung nach § 48 SGB X berechtigende wesentliche Änderung
gegenüber den bei Erlass des Bescheides vom 20.12.2001 vorliegenden Verhältnissen
vor. Das LSG hat jedoch nicht festgestellt, ob die unfallbedingten, ggf auch bindend
festgestellten Gesundheitsschäden bei der Klägerin (vgl zur Feststellung von
Gesundheitsschäden BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700
§ 11 Nr 1, RdNr 14 ff) im Zeitraum seit dem 1.8.2002 eine höhere MdE als 35 vH bedingen.
Feststellungen zur tatsächlichen Höhe der MdE ab dem 1.8.2002 wird das LSG mithin erst
zu treffen haben.
22 3. Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits unter Beachtung
des Ergebnisses des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.