Urteil des BSG vom 07.05.2013

BSG: Krankenversicherung, keine Entziehung von Schutzmechanismen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch eine grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 7.5.2013, B 1 KR 26/12 R
Krankenversicherung - keine Entziehung von Schutzmechanismen des Rechts auf Leben und
körperliche Unversehrtheit durch eine grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts -
Auslandsbehandlung - Entziehung einer Überprüfung durch Nichtveröffentlichung grundsätzlich
verfügbarer Daten über die Methode
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
vom 22. März 2012 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für in der Ukraine erfolgte
Behandlungsmaßnahmen.
2 Der im Juli 1978 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger leidet an
Zerebralparese mit Bewegungsstörungen seit Geburt im Sinne einer spastischen
Tetraplegie und einer massiven statomotorischen Retardierung. Er ließ sich seit 1993
regelmäßig in dem von dem Neurologen und Chirotherapeuten Prof. Dr. Kozijavkin
geleiteten Institut in der Ukraine behandeln. Dessen Therapiekonzept, das er selbst
"System der intensiven neurophysiologischen Rehabilitation (SINR)" nennt (im Folgenden
Methode Kozijavkin), besteht in einer sogenannten multimodalen Behandlung. Es hat zum
Ziel, innerhalb einer zweiwöchigen Behandlung unter Beteiligung ärztlicher und
nichtärztlicher Fachkräfte eine Verbesserung der Bewegungsmöglichkeiten bei Personen
mit infantilen Zentralparesen herbeizuführen. Dazu werden ua Akupressur, Akupunktur,
Wärmebehandlung mit Bienenwachs, Reflextherapie, Manualtherapie und
Krankengymnastik eingesetzt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang
die Behandlung der Wirbelsäule mit Techniken der Manualtherapie, mit deren Hilfe
Wirbelsäulenblockaden gelöst werden sollen. An diese Behandlungsphase schließt sich
eine drei- bis zwölfmonatige Stabilisierungsphase an, der wiederum eine zweiwöchige
intensive Behandlung in der Ukraine folgt. Die Beklagte lehnte Anträge für die Erteilung von
Kostenzusagen für Behandlungen vom 19.9. bis 3.10.2000, 10. bis 24.4.2001, 28.9. bis
12.10.2001, 20.3. bis 3.4.2002 und vom 25.3. bis 8.4.2003 jeweils ab (Bescheid vom
17.8.2000; Widerspruchsbescheid vom 22.8.2001; Bescheid vom 5.3.2001;
Widerspruchsbescheid vom 22.8.2001; Bescheid vom 21.8.2001; Widerspruchsbescheid
vom 5.12.2001; Bescheide vom 6.3.2002 und 26.2.2003 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 7.8.2003). Der Kläger ließ sich dennoch in den jeweils
beantragten Zeiten in der Ukraine in dem Institut von Prof. Dr. Kozijavkin behandeln und
zahlte hierfür insgesamt 20 348,58 Euro.
3 Das SG hat die deshalb erhobenen Klagen zur gemeinsamen Verhandlung und
Entscheidung verbunden und die Beklagte unter Abweisung der weitergehenden Klage
dazu verurteilt, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu
bescheiden (Urteil vom 3.2.2005). Das BSG hat auf die Sprungrevision der Beklagten das
SG-Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
LSG Niedersachsen-Bremen zurückverwiesen (BSG Urteil vom 13.12.2005 - B 1 KR 6/05 R
- nv), weil über den vom Kläger erhobenen Anspruch ohne weitere Sachaufklärung zu
bestimmten generellen und individuellen Tatsachen nicht entschieden werden kann. Das
LSG hat die Klage abgewiesen, ohne weiteren Beweis zu erheben (LSG-Beschluss vom
3.3.2010). Das BSG hat den LSG-Beschluss wegen Missachtung der Bindungswirkung (vgl
§ 170 Abs 5 SGG) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an einen anderen Senat des LSG zurückverwiesen (BSG Beschluss vom 28.9.2010 - B 1
KR 46/10 B -). Das LSG hat nunmehr nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen: Die
Methode Kozijavkin sei zur Zeit der betroffenen Behandlungen nicht allgemein anerkannt
gewesen. Eine grundrechtsorientierte Auslegung komme nicht in Betracht, da die Krankheit
des Klägers mit einer regelmäßig tödlichen Erkrankung nicht wertungsmäßig vergleichbar
sei (Urteil vom 22.3.2012).
4 Der Kläger rügt sinngemäß die Verletzung der Bindungswirkung des ersten
Revisionsurteils (vgl § 170 Abs 5 SGG) und des Rechtsgedankens des § 2 Abs 1a SGB V
entsprechend der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5).
Das LSG hätte sich aufgrund seines Vorbringens gedrängt sehen müssen, durch
Sachverständige festzustellen, dass er durch die Spastik am ganzen Körper infolge der
infantilen Zentralparese schmerzintensiv betroffen sei. Dies sei weit unerträglicher als eine
Erblindung. Belege für den Nutzen der Methode Kozijavkin bestünden aus jüngerer Zeit
und seien zu berücksichtigen.
5 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. März 2012
aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom
3. Februar 2005 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. März 2012
aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
Landessozialgericht zurückzuverweisen.
6 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8 Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG das zur
Neubescheidung verurteilende SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die
angegriffenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Der Kläger kann keine
Neubescheidung verlangen, denn er hat keinen Anspruch aus § 18 Abs 1 S 1 SGB V auf
Erstattung der Kosten in Höhe von 20 348,58 Euro, die ihm durch die mehrfachen
Behandlungen in der Ukraine nach der Methode Kozijavkin innerhalb der Gesamtzeit vom
19.9.2000 bis 8.4.2003 entstanden sind. Die Methode Kozijavkin entsprach in diesem
Zeitraum nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse (dazu
1.). Die Voraussetzungen einer grundrechtsorientierten Auslegung des § 18 Abs 1 S 1
SGB V sind nicht erfüllt (dazu 2.).
9 1. Nach den auch den erkennenden Senat bindenden Vorgaben (vgl § 170 Abs 5 SGG)
des ersten Revisionsurteils (BSG Urteil vom 13.12.2005 - B 1 KR 6/05 R - RdNr 12, nv)
beruht der geltend gemachte Anspruch auf § 18 Abs 1 S 1 SGB V (in der hier noch
maßgeblichen bis 31.12.2003 geltenden Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes vom
21.12.1992, BGBl I 2266). Der Anspruch setzt voraus, dass eine dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung der
Krankheit des Klägers nur im Ausland, im Institut Prof. Dr. Kozijavkins in der Ukraine, in
den genannten Zeiträumen möglich war. Daran fehlt es.
10 Gemäß den bindenden Vorgaben des ersten Revisionsurteils (BSG Urteil vom 13.12.2005
- B 1 KR 6/05 R - RdNr 20 ff, nv) ist entscheidend, dass die Leistung im Ausland zur Zeit
der Behandlung den Kriterien des in § 2 Abs 1 S 3 SGB V geregelten Qualitätsgebots
entsprach. Das wiederum ist der Fall, wenn die "große Mehrheit der einschlägigen
Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler)" die Behandlungsmethode befürwortet und von
einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, über die
Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dieses setzt im Regelfall voraus, dass
über Qualität und Wirksamkeit der neuen Methode - die in ihrer Gesamtheit und nicht nur
in Bezug auf Teilaspekte zu würdigen ist - zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare
Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich
einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die
Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere
Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein (vgl
bereits BSGE 84, 90, 96 f = SozR 3-2500 § 18 Nr 4 S 18 f - Kozijavkin I; BSG SozR 3-2500
§ 18 Nr 6 S 23 ff - Kozijavkin II).
11 Nach dem überzeugenden Ergebnis der Beweisaufnahme des LSG war die Methode
Kozijavkin noch im Jahr 2005 - und darüber hinaus - nicht allgemein anerkannt. Es fehlten
bis zum damaligen Zeitpunkt unabhängige Studien nach anerkannten wissenschaftlichen
Standards zur Wirksamkeit der Methode. Entgegen der Auffassung des Klägers hat das
LSG sich nicht allein auf deutsche Quellen beschränkt, sondern etwa über die Datenbank
DIMDI internationale Publikationen einbezogen (zB Mijna Hadders-Algra, Tineke Dirks,
Cornill Blauw-Hospers, Victorine de Graaf-Peters, The Kozijavkin method: giving parents
false hope? The Lancet, Bd 365, Lieferung 9462, S 842, 5.3.2005). Die Methode
Kozijavkin wird weder in Deutschland noch in anderen Ländern der EU eingesetzt.
12 2. DerKläger kann sich im Ergebnis auch nicht auf eine grundrechtsorientierte Auslegung
des § 18 Abs 1 S 1 SGB V zu seinen Gunsten berufen.
13 a) Der erkennende Senat muss trotz der grundsätzlichen Bindungswirkung (vgl § 170 Abs
5 SGG) seines ersten Revisionsurteils (BSG Urteil vom 13.12.2005 - B 1 KR 6/05 R - Juris)
darüber entscheiden, ob der Kläger aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung des
§ 18 Abs 1 S 1 SGB V den zu prüfenden Anspruch hat. Ein oberster Gerichtshof des
Bundes ist nämlich, wenn er - wie hier der erkennende Senat - seine der
Zurückverweisung zugrunde liegende Rechtsauffassung inzwischen geändert hat und
erneut mit derselben Sache befasst wird, an seine zunächst vertretene Rechtsauffassung
nicht gebunden (vgl GmSOGB BSGE 35, 293, 296 ff = SozR Nr 15 zu § 170 SGG). Das
erste Revisionsurteil enthält keine ausdrücklichen Ausführungen zu einer
grundrechtsorientierten Auslegung. Die diese Rechtsfigur entwickelnde Rechtsprechung
des BVerfG (BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5), die den Beteiligten des dortigen
Verfahrens nach dem 6.12.2005 zugestellt wurde, war dem 1. Senat des BSG bei seiner
Entscheidung vom 13.12.2005 noch nicht bekannt. Der erkennende Senat hat seine
Rechtsprechung zu § 18 Abs 1 S 1 SGB V später dahingehend fortentwickelt, dass ein
Leistungs- und Kostenerstattungsanspruch nach dieser Rechtsgrundlage auch dann
besteht, wenn für Versicherte eine nach den Inlandsmaßstäben grundrechtsorientierter
Leistungsbestimmung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu
beanspruchende Leistung nur im Ausland möglich ist (vgl BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 §
109 Nr 3, RdNr 30). Eine verfassungskonforme Auslegung kommt nicht nur bei
lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden (vgl BSGE 96, 170 = SozR 4-
2500 § 31 Nr 4, RdNr 21, 29 mwN - Tomudex), sondern auch bei wertungsmäßig damit
vergleichbaren Erkrankungen wie einer drohenden Erblindung in Betracht (vgl BSGE 106,
81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 31; BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, RdNr 31
- D-Ribose).
14 b) Der Kläger kann aus der Regelung des § 2 Abs 1a SGB V nichts für sich herleiten, da
sie erst zum 1.1.2012 in Kraft getreten ist (vgl Art 1 Nr 1 und Art 15 Abs 1 Gesetz zur
Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung
Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG> vom 22.12.2011, BGBl I 2983). In der Sache führt
die Regelung allerdings die Rechtsprechung des BVerfG und des erkennenden Senats
zur grundrechtsorientierten Auslegung fort. Auf diese Rechtsprechung (vgl BVerfGE 115,
25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5; BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 31; BSGE
96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, RdNr 30 - D-Ribose) sucht sich der Kläger zu stützen.
Sie ist ihrer Art nach anzuwenden, greift aber vorliegend nicht ein.
15 c) Die grundrechtsorientierte Auslegung einer Regelung des SGB V über einen Anspruch
auf Übernahme einer Behandlungsmethode zu Lasten der GKV setzt voraus, dass
folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: (1.) Es liegt eine lebensbedrohliche
oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung oder wertungsmäßig damit
vergleichbaren Erkrankung vor. (2.) Bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein
anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung. (3.)
Bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein
anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine "auf Indizien gestützte", nicht ganz fern
liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf
den Krankheitsverlauf (BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 33; BSGE 97, 190
= SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 21 mwN). Diese Voraussetzungen sind nicht alle erfüllt.
16 aa) Es ist beim Kläger allerdings nicht völlig ausgeschlossen, dass die Auswirkungen
seiner infantilen Zerebralparese mit Bewegungsstörungen, einer spastischen Tetraplegie
und einer ausgeprägten statomotorischen Retardierung eine Ausprägung erreichen,
welche allgemein für eine grundrechtskonforme erweiternde Auslegung des
Leistungsrechts der GKV zu fordern ist. Der erkennende Senat hat zwar entschieden, dass
ein Versicherter, der an einer infantilen Zerebralparese mit spastischer Paraparese der
Beine, Sekundärschäden am knöchernen Apparat (Coxarthrose,
Pseudoradikulärsyndrom) und sich dadurch verstärkender Spastik bei in Ruhe
einschießenden schmerzhaften Spasmen leidet, nicht die Schwelle erreicht, welche
allgemein für eine grundrechtskonforme erweiternde Auslegung des Leistungsrechts der
GKV zu fordern ist (vgl BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 23). Bei einer
spastischen Tetraplegie sind indes nicht lediglich die Beine, sondern alle vier Extremitäten
betroffen. Die Körperhaltung ist meist asymmetrisch. Kopf- und Augenkontrolle sowie die
Sprachmotorik sind regelmäßig erschwert. Der Kläger beruft sich sinngemäß darauf, ein
von ihm beantragtes Sachverständigengutachten hätte eine Spastik des ganzen Körpers
ergeben. Ohne genaue Feststellung und Analyse der Funktionsbeeinträchtigungen ist
nicht klar, dass der Kläger an einer Erkrankung leidet, die wertungsmäßig einen
Schweregrad etwa wie bei einer völligen Erblindung erreicht. Der erkennende Senat
unterstellt dies. Denn der Kläger hat die Feststellungen des LSG zur geringfügigeren
Erkrankung des Klägers mit durchgreifenden Rügen angegriffen (vgl zu den
Anforderungen § 164 Abs 2 S 3 SGG und hierzu BSGE 111, 168 = SozR 4-2500 § 31 Nr
22, RdNr 27 f mwN). Der Senat kann dennoch abschließend über die Sache entscheiden,
da die weiteren Voraussetzungen einer grundrechtsorientierten Auslegung nicht erfüllt
sind.
17 bb) Bezüglich seiner Krankheit stand dem Kläger im betroffenen Zeitraum eine allgemein
anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung in Deutschland zur
Verfügung. Die infantile Zerebralparese wird nach allgemein anerkanntem Stand der
medizinischen Erkenntnisse als Symptomenkomplex angesehen, für den es keine
pauschale, auf alle Patienten in gleicher Weise ausgerichtete Standardtherapie gibt.
Vielmehr erfordert die Erkrankung ein individuelles Behandlungskonzept, das den
festgestellten Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen Rechnung
trägt. Therapieelemente sind regelmäßig funktionelle Übungsbehandlungen der
motorischen Störungen einschließlich verordneter Heilmittel (Maßnahmen der
physikalischen Therapie, der Ergo-, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie),
Pharmakotherapien zur Verringerung von Muskelspasmen oder Verhinderung von
Krampfanfällen, verordnete Hilfsmittel, operative Behandlungen bei Kontrakturen und
Sehnenverkürzungen, Therapien zusätzlicher Störungen sowie medizinische ambulante,
erforderlichenfalls stationäre Rehabilitationsleistungen (vgl Zusammenstellung der
Therapieelemente im Grundsatzgutachten des Medizinischen Dienstes der
Spitzenverbände der Krankenkasse eV vom 8.5.2003, S 22 ff; vgl auch ebenda,
Leitlinien der Gesellschaft für Neuropädiatrie zur Diagnose und Therapie der infantilen
Cerebralparese, S 52 ff). Es gibt aufgrund des umfassenden ambulanten und stationären
Angebots in Deutschland für die keinesfalls seltenen Fälle infantiler Zerebralparesen
insoweit keinerlei Hinweis auf quantitative Versorgungslücken. Die bei der Methode
Kozijavkin eingesetzten, sich teilweise mit dem Behandlungsangebot in Deutschland
überschneidenden Therapieelemente belegen die Verträglichkeit einer individuellen
Therapie nach Standard in Deutschland für den Kläger.
18 Das Ziel der Methode Kozijavkin besteht entsprechend den Feststellungen des LSG darin,
innerhalb einer zweiwöchigen Behandlung unter Beteiligung ärztlicher und nichtärztlicher
Fachkräfte eine Verbesserung der Bewegungsmöglichkeiten von Personen mit infantiler
Zerebralparese zu erreichen. Es geht lediglich darum, Symptome der infantilen
Zerebralparese zu lindern und ihre Verschlimmerung zu verhüten. Eine Heilung der
Krankheit kommt nicht in Betracht. Auch die in Deutschland angewandten anerkannten
Behandlungsstrategien zielen auf eine Linderung und Verhütung der Verschlimmerung
der Symptome der infantilen Zerebralparese (vgl Grundsatzgutachten des MDS vom
8.5.2003, S 22 ff; vgl auch ebenda, Leitlinien der Gesellschaft für Neuropädiatrie zur
Diagnose und Therapie der infantilen Cerebralparese, S 52 ff).
19 cc) Bezüglich der Methode Kozijavkin besteht auch lediglich eine ganz fern liegende
Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Eine
grundrechtsorientierte Auslegung des § 18 Abs 1 S 1 SGB V darf nach der
Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht dazu führen, dass unabhängig von
wissenschaftlichen Maßstäben allein die entfernte Hoffnung auf eine positive Einwirkung
auf den Krankheitsverlauf zu einer Kostenerstattung zwingt. Abmilderungen des
Qualitätsgebots kommen zwar infolge grundrechtsorientierter Auslegung der Regelungen
des Leistungsrechts der GKV im Anschluss an den Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005
(BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) und die dazu inzwischen ergangene
umfangreiche Folgerechtsprechung des Senats (vgl zB BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 §
27 Nr 7, RdNr 31 - D-Ribose; BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 21 und 30 f
mwN - Tomudex; BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 20 ff mwN - LITT; BSGE
100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 32 - Lorenzos Öl; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 16
RdNr 12 mwN - ICL; vgl zu weiteren Anwendungsfällen zB: Kretschmer, MEDSACH 2009,
54 ff) auch im Anwendungsbereich des § 18 Abs 1 S 1 SGB V in Betracht (vgl Hauck in
Festschrift 50 Jahre saarländische Sozialgerichtsbarkeit, 2009, S 49, 67). Ist für
Versicherte eine nach den Inlandsmaßstäben grundrechtsorientierter
Leistungsbestimmung in der GKV zu beanspruchende Leistung nur im Ausland möglich,
besteht ein Leistungs- und Kostenerstattungsanspruch nach § 18 Abs 1 S 1 SGB V.
20 Die Folge der verfassungskonformen Auslegung ist es indes, dass zur Gewährleistung der
verfassungsrechtlichen Schutzpflichten bei neuen Behandlungsmethoden die Einhaltung
des Arztvorbehalts (§ 15 SGB V) und die Beachtung der Regeln der ärztlichen Kunst
erforderlich bleiben. Dies gilt auch, wenn es beim Versicherten zu einer
notstandsähnlichen behandlungsbedürftigen Situation kommt. Gleichermaßen ist das
Bestehen von mehr als bloß ganz entfernt liegenden Aussichten auf eine spürbar positive
Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die streitige Therapie nach den Regeln der
ärztlichen Kunst zu beurteilen (vgl näher BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr
22 ff mwN - LITT). Dies ändert mithin nichts an der Heranziehung und Maßgeblichkeit
allein wissenschaftlicher Maßstäbe zur Beurteilung eines Behandlungserfolgs im Recht
der GKV, wie sie sich zB in § 2 Abs 1 S 3 SGB V und auch in § 18 Abs 1 S 1 SGB V
niederschlagen und in Sondersituationen evidenzbezogen abgestuft zur Anwendung
gelangen können (vgl auch BVerfG Beschluss vom 28.8.2007 - 1 BvR 1617/05 - zur
"Kuba-Therapie" bei Retinitis pigmentosa, Verfassungsbeschwerde ua gerichtet gegen
den Beschluss des Senats vom 15.6.2005 - B 1 KR 111/04 B - und das Urteil des
Bayerischen LSG vom 11.11.2004 - L 4 KR 296/03 -; vgl zum Ganzen BSGE 106, 81 =
SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 29 ff). Ziel der grundrechtsorientierten Auslegung ist es, die
Gestaltung des Leistungsrechts der GKV an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu
orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art 2 Abs 2 S 1 GG zu
stellen.
21 Die aufgezeigte Zielsetzung begrenzt zugleich die Reichweite einer
grundrechtsorientierten Auslegung. So reichen rein experimentelle
Behandlungsmethoden, die nicht durch hinreichende Indizien gestützt sind, hierfür nicht
aus (vgl zB BVerfG Beschluss vom 26.2.2013 - 1 BvR 2045/12 - NZS 2013,
500, 501 = NJW 2013, 1664, 1665 = Juris RdNr 15). Es ist auch nicht zulässig, den
Rechtsgütern des Art 2 Abs 2 S 1 GG die Schutzmechanismen zu entziehen, die die
Rechtsordnung hierfür vorsieht. Das hat der erkennende Senat für Arzneimittel - vom
BVerfG bestätigt - entschieden und der Gesetzgeber ist dem ebenfalls gefolgt (vgl zu § 2
Abs 1a SGB V GKV-VStG, BR-Drucks 456/11 S 74; BVerfG Beschluss vom 30.6.2008 - 1
BvR 1665/07 - SozR 4-2500 § 31 Nr 17 im Anschluss an BSG USK 2007-25 - mnesis). In
diesem Sinne bleiben für nicht oder nicht in der betreffenden Indikation zugelassene
Arzneimittel neben der mit dem neuen § 2 Abs 1a SGB V vorgenommenen
leistungsrechtlichen Klarstellung die vom BSG entwickelten Grundsätze zur
Leistungspflicht der GKV unberührt, die vom BVerfG nicht beanstandet wurden (vgl
ebenda).
22 Eine weitere Begrenzung der sich aus der grundrechtsorientierten Auslegung und § 2 Abs
1a SGB V ergebenden Ansprüche auf Methoden, die noch nicht dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen, folgt aus der
Mitwirkungsobliegenheit der Behandler. Die aus der grundrechtsorientieren Auslegung
und aus § 2 Abs 1a SGB V resultierende Absenkung der Anforderungen, die ansonsten an
den Evidenzgrad des Behandlungserfolgs zu stellen sind, verlangt unter dem
Gesichtspunkt des Patientenschutzes die jeweils mögliche Erhebung und
Zugänglichmachung von nach wissenschaftlichen Maßstäben verfügbaren Informationen
durch die Behandler entsprechend ihrem Berufs- und Standesrecht. Die aktive Bereitschaft
der Behandler, zum Abbau der (noch) vorhandenen Erkenntnisdefizite beizutragen, ist
unverzichtbarer Teil des auch der grundrechtsorientierten Auslegung und § 2 Abs 1a SGB
V zugrundeliegenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses.
23 Nichts anderes kann gelten für Fälle der Auslandsbehandlung nach einer neuen Methode
gemäß § 18 Abs 1 S 1 SGB V, deren grundsätzlicher Anwendbarkeit durch Ärzte im Inland
bei hinreichend wissenschaftlicher Fundierung nichts im Wege stünde. Scheitert die
Überprüfbarkeit der Methode nach Maßgabe der Erkenntnisse der medizinischen
Wissenschaft an der langjährig fehlenden, aber in Fachveröffentlichungen geforderten
Publikation grundsätzlich verfügbarer Daten - womöglich als Teil eines Marketingkonzepts
des Behandlers im Ausland -, sind derartige Erkenntnismängel nicht durch die
grundrechtsorientierte Auslegung und § 2 Abs 1a SGB V zu überwinden. Die auch und
gerade dem Patientenschutz dienende, tatsächlich mögliche wissenschaftliche Kontrolle,
die innerhalb von EU und EWiR die Regelungen über die Zulassung neuer
Behandlungsmethoden prägt, steht bei Auslandskrankenbehandlungen nach § 18 SGB V
nicht zur Disposition der ausländischen Leistungserbringer. Die grundrechtsorientierte
Auslegung des § 18 Abs 1 S 1 SGB V darf nicht dazu dienen, ein Anreizsystem dafür zu
schaffen, dass in Deutschland versicherte Patienten Behandlungsleistungen außerhalb
von EU und EWiR nur deshalb erhalten, weil sich ihre Anbieter dauerhaft objektiv der
tatsächlich möglichen wissenschaftlichen Kontrolle ihrer Leistungen entziehen,
insbesondere keine Daten über die Einzelheiten der Behandlung einschließlich ihrer
objektivierbaren Folgen veröffentlichen (vgl zur Sicherung des Qualitätsgebots gemäß § 2
Abs 1 S 3 SGB V durch § 135 Abs 1 SGB V BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 21 mwN;
zu seiner Geltung für den Anspruch auf Krankenhausbehandlung vgl BSGE 101, 177 =
SozR 4-2500 § 109 Nr 6, RdNr 52; BSG Urteil vom 18.12.2012 - B 1 KR 34/12 R - RdNr 34
mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 137 Nr 2 vorgesehen; zur Geltung
des Qualitätsgebots für Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen iS von § 107 Abs 2 Nr
2 SGB V vgl BSGE 81, 189, 195 = SozR 3-2500 § 111 Nr 1; BSGE 89, 294, 305 = SozR 3-
2500 § 111 Nr 3; Wahl in jurisPK-SGB V, § 111, 2. Aufl, Stand 1.4.2012, RdNr 37 mwN).
24 So liegt es hier. Die Zahl nach der Methode Kozijavkin in der Ukraine behandelter
Patienten mit einer Zerebralparese von 10 521 allein im Zeitraum 1991 - 1999, davon 68
% mit Tetraparese (vgl Nachweis im Grundsatzgutachten des MDS vom 8.5.2003, S 43:
Kozijavkin/Del Bello, Praktische Paediatrie 2000, Nr 6-8; vgl auch die Zahlen im
Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. hc von Voß für das Verfahren Sächsisches
LSG L 1 KR 1/03, S 12 f) belegt, dass das dortige Patientenvolumen ohne Weiteres
geeignet ist, aussagekräftige statistische Daten zu generieren, um den Nutzen der
Therapie zu beurteilen. Es ist ebenfalls wissenschaftlich gesichert, dass kontrollierte
prospektive klinische Studien mit einem aussagekräftigen Design über die Methode
Kozijavkin möglich sind (vgl Grundsatzgutachten des MDS vom 8.5.2003, S 46 bei Fn 6).
Zu einer in Aussicht genommenen Wirksamkeitsstudie zur Methode Kozijavkin (vgl
Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. hc von Voß für das Verfahren Sächsisches
LSG L 1 KR 1/03, S 14) ist es bisher nicht gekommen. Die Behandlungseinrichtungen in
Deutschland wären bei wissenschaftlich hinreichend belegter Wirksamkeit und
nachgewiesenem Nutzen der Methode nach dem Sinngehalt des Grundsatzgutachtens
des MDS ohne Weiteres in der Lage, hiernach zu verfahren. In diesem Falle würde damit
aber auch ein wesentlicher Grund für Patienten aus Deutschland entfallen, zwecks
Behandlung nach der Methode Kozijavkin in die Ukraine zu reisen.
25 Die Defizite in der wissenschaftlichen Beweisführung für einen Nutzen der Methode
Kozijavkin sind seit langem bekannt. Der erkennende Senat stützte schon seine erste
Entscheidung zur Methode Kozijavkin darauf, dass diese Methode bisher nicht
ausreichend erforscht und eine abschließende Bewertung ihrer Wirksamkeit und ihrer
Risiken deshalb nicht möglich ist. Bereits in der ersten Hälfte der 90er Jahre des vorigen
Jahrhunderts war die Erfolgsrate der umstrittenen Therapie mangels vergleichender
Effektivitätsstudien nicht objektivierbar (Prof. Dr. Hanefeld, Zentrum für Kinderheilkunde
der Universität Göttingen, Stellungnahme vom 13.7.1993; Dr. Rosenkötter,
Sozialpädiatrisches Zentrum Ludwigsburg). Die Schwierigkeiten bei der Überprüfung und
Bewertung wurden damals auch darauf zurückgeführt, dass die Behandlungsmethode eng
an die Person von Dr. Kozijavkin gebunden und eine Einweisung ausländischer Ärzte
bisher nicht erfolgt sei. Damit fehlte eine unabdingbare Voraussetzung für die Erlangung
der wissenschaftlichen Anerkennung, nämlich die Möglichkeit, die Behandlung an anderer
Stelle und durch andere Ärzte zu wiederholen und ihre Ergebnisse überprüfbar zu machen
(vgl insgesamt BSGE 84, 90, 97 = SozR 3-2500 § 18 Nr 4).
26 Der kritische wissenschaftliche Umgang ärztlicher Behandler in Deutschland mit der
Methode Kozijavkin drückt sich ua auch darin aus, dass sie nicht pauschal alle hierbei
aufgeführten Therapieelemente verwenden, sondern lediglich jene Teile, die nach
wissenschaftlichen Kriterien für den Patienten einen Nutzen versprechen (vgl die
Zusammenstellung der Therapieelemente im Grundsatzgutachten des MDS vom 8.5.2003,
S 22 ff). Dementsprechend bejaht etwa die Gesellschaft für Neuropädiatrie in ihrer
Stellungnahme zur Methode Kozijavkin den Einsatz therapeutischer Techniken der
Manuellen Medizin bei spastischen infantilen Zerebralparesen, allerdings lediglich in nach
wissenschaftlichem Standard gesichertem Umfang, welches sie bei der Methode
Kozijavkin schon als nicht gewährleistet ansieht. Sie lehnt aber Einzelelemente wie die
Apitherapie wegen ihres Risikopotentials ohne gesicherten Nutzen ab (vgl die
Wiedergabe im Grundsatzgutachten des MDS vom 8.5.2003, S 58 ff und Stellungnahme
des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin Prof.
Dr. Straßburg vom 6.4.2011). In Einklang hiermit hat die Methode Kozijavkin in den
vergangenen zehn Jahren im Rahmen der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit
Zerebralparesen in den deutschen Sozialpädiatrischen Zentren keine wesentliche Rolle
mehr gespielt (vgl Stellungnahme Prof. Dr. Straßburg vom 6.4.2011).
27 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.