Urteil des BSG vom 01.07.1997

BSG (entgelt, arbeit, kläger, form, bundesrepublik deutschland, zwangsarbeit, geld, rente, wartezeit, unterhalt)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 2.6.2009, B 13 R 81/08 R
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto -
rentenversicherungspflichtiges Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis - Ghettoarbeit -
eigener Willensentschluss - Entgeltlichkeit
Leitsätze
1. Eine Beschäftigung in einem Ghetto ist auch dann aus eigenem Willensentschluss zustande
gekommen, wenn für die Ghetto-Bewohner Arbeitspflicht bestand, der Betroffene aber nicht zu
einer bestimmten Arbeit gezwungen wurde, sondern - zB bei einer Vermittlung durch den
Judenrat - das "Ob" und "Wie" der Arbeit bestimmen konnte.
2. Entgelt iS des ZRBG ist jede Entlohnung, ob in Geld oder Naturalien.
Geringfügigkeitsgrenzen sind nicht zu prüfen; unerheblich ist, ob lediglich "freier Unterhalt"
gewährt wurde.
3. Unerheblich ist, ob das Entgelt dem Beschäftigten direkt ausgehändigt wurde oder an einen
Dritten (zB den Judenrat) floss.
Tatbestand
1 Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von im
Ghetto Krakau/Polen von März 1941 bis März 1943 zurückgelegten Ghetto-Beitragszeiten.
2 Der 1922 in Krakau geborene Kläger ist jüdischer Abstammung und als Verfolgter im Sinne
des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Nach dem Kriege nahm er seinen
Wohnsitz in Frankreich; er bezieht eine Alterspension vom dortigen
Rentenversicherungsträger, der Zeiten ab dem 1.1.1948 zugrunde liegen.
3 Seinen Antrag vom Juni 2003 auf Altersrente unter Berücksichtigung von
Beschäftigungszeiten im Ghetto Krakau nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten
aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20.6.2002 (BGBl I 2074) bzw
Ersatzzeiten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28.7.2004 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 8.11.2004 ab: Die Tätigkeit im Ghetto Krakau könne nicht als
Beschäftigungszeit anerkannt werden, weil eine Entlohnung nur in Form von Sachleistungen
erfolgt sei, sodass es jedenfalls am Merkmal der Entgeltlichkeit fehle. Nicht ausreichend sei,
dass mögliche Geldleistungen an den Judenrat geflossen seien. Zudem sei auch nach den
historischen Erkenntnissen davon auszugehen, dass nach der Verkleinerung des Ghettos
Krakau im Juni 1942 ein Zwangsarbeitslager und kein Ghetto mehr bestanden habe.
4 Hiergegen hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Speyer Klage erhoben und geltend
gemacht, er sei von März 1941 bis März 1943 im Ghetto Krakau als Hilfsarbeiter und
Elektromechaniker beschäftigt gewesen. Er habe Lebensmittel, Unterkunft und auch
Barlohn, der an den Judenrat ausgezahlt worden sei, erhalten. Mit den
Lebensmittelzuwendungen habe er auch weitere Personen versorgt. Mit Urteil vom
5.10.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Ein Anspruch auf Altersrente bestehe nicht,
weil der Kläger die allgemeine Wartezeit nicht erfülle. Es sei bereits nicht glaubhaft gemacht,
dass er in der Zeit von März 1941 bis März 1943 im Ghetto Krakau eine freiwillige
Beschäftigung ausgeübt habe. Entscheidend sei aber letztlich, dass er kein Entgelt für
geleistete Arbeit erhalten habe. Zahlungen an den Judenrat könnten nicht berücksichtigt
werden. Die angegebenen täglichen Lebensmittelrationen könnten nicht als äquivalente
Entgelte Berücksichtigung finden.
5 Im Termin zur mündlichen Verhandlung über die Berufung des Klägers hat ihn das
Landessozialgericht (LSG) persönlich angehört. Hierbei hat er ua erklärt, er habe während
seiner Beschäftigung als Elektriker für die Wehrmachtspost jeweils mittags Suppe und Brot
erhalten; für die Arbeit sei Geld an das Arbeitsamt gezahlt worden. Für den Fall der
Berücksichtigung von Beitragszeiten hat die Beklagte Ersatzzeiten von November 1939 bis
Ende 1949 anerkannt.
6 Das LSG hat mit Urteil vom 27.2.2008 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte zur
Gewährung von Regelaltersrente ab Juni 1997 verurteilt. Mit den geltend gemachten
Arbeitszeiten und den von der Beklagten anerkannten verfolgungsbedingten Ersatzzeiten sei
die allgemeine Wartezeit für den Anspruch auf Regelaltersrente erfüllt. Der Wohnsitz des
Klägers in Frankreich stehe nicht entgegen, weil Rentenzahlungen aus der gesetzlichen
Rentenversicherung von der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 (EWGV 1408/71) erfasst seien.
Glaubhaft gemacht sei nicht nur der Aufenthalt im Ghetto Krakau im streitigen Zeitraum -
auch der Fortbestand des Ghettos nach seiner Verkleinerung im Jahre 1942 bis zu seiner
vollständigen Liquidierung im März 1943 -, sondern auch eine Beschäftigung aus eigenem
Willensentschluss und gegen Entgelt. Es reiche, dass die Arbeit dem Verfolgten von einem
Unternehmen oder einer Ghetto-Autorität mit Sitz im Ghetto angeboten oder ähnlich einer
Arbeitnehmerüberlassung oder Arbeitsvermittlung zugewiesen worden sei (Hinweis auf
Bundessozialgericht 4. Senat vom 14.12.2006, BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr
3) . Der Kläger habe - außerhalb des Ghettos - als Elektromechaniker bei der deutschen
Wehrmachtspost gearbeitet, wie sich aus dessen persönlicher Anhörung glaubhaft ergeben
habe. Im Sinne der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG liege in Abgrenzung zur
Zwangsarbeit eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss vor. Der Kläger habe
hierzu angegeben, gleich bei Errichtung des Ghettos habe er sich an das deutsche
Arbeitsamt im Ghetto gewandt, sich um Arbeit bemüht und auf dieser Grundlage die Stelle
bei der deutschen Wehrmachtspost erhalten. Für seine Arbeitsleistung habe der Kläger auch
ein Entgelt iS des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Buchst b ZRBG erhalten. Zwar sei nach § 1227 der
Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier
Unterhalt gewährt worden sei, versicherungsfrei gewesen. Als freier Unterhalt sei jedoch nur
dasjenige Maß an Wirtschaftsgütern anzusehen, das zur unmittelbaren Befriedigung der
notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeitnehmers erforderlich sei, nicht aber das, was
darüber hinaus gehe (BSG 13. Senat vom 7.10.2004, BSGE 93, 214 = SozR 4-5050 § 15 Nr
1) . Bei der Gewährung von Lebensmitteln sei daher zu prüfen, ob sie nach Art und Umfang
des Bedarfs unmittelbar zum Verbrauch oder Gebrauch oder zur bleibenden Vergütung
gegeben worden seien. Der erkennende Senat folge insoweit dem 4. Senat des BSG (Urteil
vom 14.12.2006) nicht; jedoch sei der Entgeltbegriff des ZRBG im Hinblick auf seine
Zielsetzung weit zu fassen. Die besonderen Verhältnisse, die in einem Ghetto herrschten,
können nicht außer Betracht bleiben. Auch halte es der Senat nicht für erforderlich, dass die
Entlohnung für die geleistete Arbeit unmittelbar dem Beschäftigten selbst zugeflossen sei
(Hinweise auf Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen) . Ausreichend sei vielmehr,
wenn die Zahlung als Gegenleistung für die verrichtete Arbeit an den Judenrat erfolgt und
dem Inhaftierten daher mittelbar zugeflossen sei. Aus Gutachten von Prof. Dr. G. sei zu
entnehmen, dass im Ghetto Krakau reguläre Arbeitsleistung grundsätzlich in Geld vergütet
worden sei; diese Zahlungen seien allerdings in der Regel nicht von den Arbeitgebern an
die Beschäftigten direkt ausgezahlt, sondern über den Judenrat geleitet worden, der sie
besteuert und aus den Erlösen Waren für das Ghetto eingekauft habe. Diese Form der
Entlohnung erfülle die Voraussetzung der Entgeltlichkeit iS des ZRBG. Im Hinblick auf den
erzwungenen Aufenthalt im Ghetto und der sich daraus ergebenden Schicksalsgemeinschaft
der Juden sei diese Form der Abwicklung rechtlich als Lohnabtretung zu qualifizieren. Dies
gelte auch für die Zeit ab Oktober 1942, in der die Funktion des Judenrats durch SS-
Einheiten übernommen worden sei, die nunmehr den Lohn, zum Teil in Naturalien, erhalten
hätten. Der Kläger beziehe für die streitige Zeit keine Leistungen aus einem System der
sozialen Sicherheit. Der Zahlung von Regelaltersrente stünden auch nicht die vom Kläger
bezogenen Leistungen nach dem Gesetz über die Errichtung der Stiftung "Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft" entgegen. Denn der Kläger habe zeitlich nach den hier nach
dem ZRBG zu berücksichtigenden Beschäftigungszeiten anderswo Zwangsarbeit verrichtet.
7 Hiergegen richtet sich die durch den Senat zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt die
Verletzung des materiellen Rechts, zunächst von "§ 31 SGB I iVm § 35 SGB VI", weil der
Kläger die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt habe. Denn für die Zeit von März 1941 bis März
1943 seien die Voraussetzungen für eine Beitragsfiktion nach dem ZRBG nicht gegeben.
Die Beschäftigung könne nicht als gegen Entgelt ausgeübt iS des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1
Buchst b ZRBG angesehen werden. Unter den Begriff des Entgelts im Sinne dieser
Regelungen fielen alle Einnahmen, die in einem unmittelbaren oder mittelbaren
Zusammenhang mit der geleisteten Arbeit stünden (Hinweis auf BSG 4. Senat vom
14.12.2006) . Hieraus folge, dass eine Beschäftigung nicht bereits dann gegen Entgelt
ausgeübt worden sei, wenn ein Arbeitgeber für eine durch einen Verfolgten in einem Ghetto
erbrachte Arbeitsleistung eine Gegenleistung an einen beliebigen Empfänger erbracht habe.
Den Feststellungen des LSG seien auch keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass der
Kläger seinen Anspruch auf Arbeitslohn an den Judenrat abgetreten habe. Durch das ZRBG
solle eine Beitragsfiktion in der gesetzlichen Rentenversicherung gerade für solche
Personen begründet werden, die infolge ihres zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto
zwar nur begrenzte Möglichkeiten zur Auswahl eines Arbeitsplatzes gehabt hätten, hiervon
abgesehen jedoch keinen rechtlichen Einschränkungen ihrer die Eingehung und
Ausgestaltung eines Beschäftigungsverhältnisses betreffenden Vertragsfreiheit unterworfen
gewesen seien. Hiermit wäre jedoch die Vorstellung nicht vereinbar, dass die
Vertragsfreiheit des Beschäftigten hinsichtlich der Verfügung über seinen Entgeltanspruch
aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer jüdischen Schicksalsgemeinschaft aufgehoben oder
eingeschränkt gewesen sein könnte. Schließlich seien nach dem ZRBG die
Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente erst zu Beginn des Monats Juli 1997 erfüllt
(Inkrafttreten des ZRBG zum 1.7.1997), sodass eine Rente nicht, wie vom LSG entschieden,
bereits ab Juni 1997 gewährt werden könne.
8 Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27.2.2008 aufzuheben und die
Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 5.10.2006
zurückzuweisen.
9 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
10 Er schließt sich den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils an und trägt
ergänzend vor, er habe, wie in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG ausgeführt,
gewusst, dass der Arbeitslohn für die von ihm geleistete Arbeit "an das deutsche Arbeitsamt"
gezahlt worden sei. Mit dem LSG sei davon auszugehen, dass eine konkludente Abtretung
des Anspruchs an den Judenrat vorgelegen habe. Das ZRBG fordere nicht, dass der
Betroffene über seinen Entgeltanspruch habe frei verfügen können; das Merkmal der
Freiwilligkeit beziehe sich lediglich auf die Ausübung und Aufnahme des
Beschäftigungsverhältnisses. Dass das LSG Rente bereits ab Juni 1997 zugesprochen
habe, begegne keinen Bedenken. Das ZRBG bestimme, dass die
Anspruchsvoraussetzungen zum 18.6.1997 als erfüllt anzusehen seien. Dies entspreche
nach § 99 Abs 1 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) einem Rentenbeginn zu
Anfang Juni 1997. Unerheblich sei, dass das Gesetz erst zum 1.7.1997 in Kraft getreten sei.
Entscheidungsgründe
11 Die Revision der Beklagten ist - mit Ausnahme der sich aus dem Entscheidungssatz
ergebenden Maßgabe (hierzu unter 6) - unbegründet.
12 Der Kläger hat Anspruch auf Regelaltersrente (§ 35 SGB VI) ab 1.7.1997 (zum
Rentenbeginn s unter 6). Zu diesem Zeitpunkt hatte er das 65. Lebensjahr vollendet und die
allgemeine Wartezeit (als Voraussetzung für eine Rente aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten:
Senatsurteil vom 26.7.2007, SozR 4-5075 § 1 Nr 4 LS 1, RdNr 25 ff; Urteil des 5. Senats des
BSG vom 12.2.2009 - B 5 R 70/06 R, zur Veröffentlichung vorgesehen) erfüllt (§ 35 SGB VI) .
Gemäß §§ 50 Abs 1 Nr 1, 51 Abs 1 SGB VI werden auf die allgemeine Wartezeit
Kalendermonate mit Beitragszeiten und nach § 51 Abs 4 SGB VI solche mit Ersatzzeiten
angerechnet. Nach § 55 Abs 1 SGB VI sind Beitragszeiten Zeiten, für die nach Bundesrecht
Beiträge gezahlt worden sind oder aber als gezahlt gelten. Zwar hat der Kläger keine
Beiträge zur deutschen Rentenversicherung geleistet. Allerdings gelten für die Zeit von März
1941 bis März 1943 nach § 2 Abs 1 des - als Art 1 des "Gesetzes zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto und zur Änderung des Sechsten Buches
Sozialgesetzbuch" vom 20.6.2002 (ZRBG/SGB VI-ÄndG) verkündeten - ZRBG Beiträge als
gezahlt. Zusammen mit den von der Beklagten anerkannten Ersatzzeiten wird damit die
Wartezeit überschritten (hierzu unter 5a) .
13
Zu Recht hat das LSG eine Ghetto-Beitragszeit des Klägers im zugesprochenen Umfang
festgestellt. Auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die die
Revision nicht angegriffen hat, sind für den Zeitraum von März 1941 bis März 1943 die
Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG erfüllt. Nach dieser Vorschrift gilt
das ZRBG
"für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort
zwangsweise aufgehalten haben , wenn
1. die Beschäftigung
a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist <2> ,
b) gegen Entgelt ausgeübt wurde <3> und
2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder
diesem eingegliedert war < 1> ,
soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen
Sicherheit erbracht wird."
Das ZRBG ist auch nicht verfassungswidrig <4> . Auf seiner Grundlage ergibt sich für den
Kläger der Anspruch auf eine nach Frankreich zu zahlende Regelaltersrente <5> ;
allerdings erst ab 1.7.1997 <6> .
14 1. Der Kläger ist Verfolgter iS des BEG. Er hat sich, wie vom LSG festgestellt, im Zeitraum
von März 1941 bis März 1943 zwangsweise im Ghetto Krakau aufgehalten, das damals im
deutsch besetzten Gebiet (Generalgouvernement) lag.
15 Es liegt ferner eine "Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto" iS des § 1 Abs 1 Satz 1
ZRBG vor. Der Senat liest diese Formulierung so, dass jegliche Beschäftigung darunter fällt,
die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie sich zwangsweise in einem Ghetto
aufgehalten haben. Ist diese Voraussetzung erfüllt, bedarf es keiner gesonderten Prüfung
mehr, ob Dienstleistungen oder Arbeiten, die außerhalb des räumlichen Bereichs eines
Ghettos verrichtet wurden, "Ausfluss der Beschäftigung im Ghetto waren" (so jedoch BSG 4.
Senat vom 14.12.2006, BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 99 im Anschluss an
einen Redebeitrag Dr. Schwaetzer, FDP, bei den Beratungen zum ZRBG im Deutschen
Bundestag) .
16 2. Der Kläger hat im fraglichen Zeitraum auch eine aus eigenem Willensentschluss zustande
gekommene Beschäftigung ausgeübt (§ 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Buchst a ZRBG) . Dies ergibt
sich aus den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG.
17
a) Der Senat geht von folgenden Grundsätzen aus:
Die aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung iS des § 1 Abs 1
Satz 1 Nr 1 Buchst a ZRBG ist von einer Zwangsarbeit iS des Gesetzes über die Errichtung
der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZStiftG) vom 2.8.2000 (BGBl I
1263) abzugrenzen (ebenso BSG 4. Senat vom 14.12.2006, BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 §
1 Nr 3, RdNr 100 f) ; nach § 11 Abs 1 Satz 1 Nr 1 EVZStiftG ist leistungsberechtigt ua
derjenige, der in einem Ghetto unter vergleichbaren Bedingungen (wie in einem KZ)
inhaftiert war und "zur Arbeit gezwungen wurde". Diese Wendung macht deutlich, dass
hiervon niemand erfasst wird, der (allgemein) zur Arbeit gezwungen "war". Ein (faktischer
oder rechtlicher) Arbeitszwang allein stellt keine Zwangsarbeit dar und steht deshalb einer
"Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss" nicht entgegen; diese ist vielmehr dann
nicht mehr gegeben, wenn jemand zu einer (spezifischen) Arbeit gezwungen "wurde".
18 Einem Anspruch nach dem ZRBG steht nicht entgegen, dass der Kläger Leistungen nach
dem EVZStiftG bezieht. Dies gilt bereits deshalb, weil er nach den Feststellungen des LSG
im Anschluss an die hier streitige Ghetto-Beschäftigung in Lagern Zwangsarbeiten verrichten
musste.
19 Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) Zwang, wie
zB bei Strafgefangenen und Kriegsgefangenen. Typisch ist dabei zB die obrigkeitliche
Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf
Einfluss haben. Eine verrichtete Arbeit entfernt sich um so mehr von dem Typus des Arbeits-
/Beschäftigungsverhältnisses und nähert sich dem Typus der Zwangsarbeit an, als sie durch
hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann
(Senatsurteil vom 14.7.1999, SozR 3-5070 § 14 Nr 2 S 8 f mwN).
20 Ob eine aus eigenem Willensentschluss iS des ZRBG zustande gekommene Beschäftigung
oder eine den eigenen Willensentschluss ausschließende Zwangsarbeit vorlag, ist vor dem
Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto zu beurteilen. Dabei sind die Sphären
"Lebensbereich" und "Beschäftigungsverhältnis" grundsätzlich zu trennen; ebenso spielen
die Beweggründe zur Aufnahme der Beschäftigung keine Rolle ( Senatsurteil vom
14.7.1999, SozR 3-5070 § 14 Nr 2 S 7; BSG 5. Senat vom 18.6.1997, BSGE 80, 250, 252 =
SozR 3-2200 § 1248 Nr 15 ) . Eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene
Beschäftigung liegt vor, wenn der Ghetto-Bewohner hinsichtlich des Zustandekommens oder
der Durchführung der Arbeit noch eine Dispositionsbefugnis zumindest dergestalt hatte, dass
er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch ohne Gefahr für Leib, Leben oder seine
Restfreiheit ablehnen konnte.
21 Auch die Annahme einer vom Judenrat angebotenen Arbeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal
der "aus eigenem Willensentschluss" zustande gekommenen Beschäftigung. Hiervon ging
bereits die sog Ghetto-Rechtsprechung des BSG aus, die den Gesetzgeber zur
Verabschiedung des ZRBG veranlasst hat. In einer Parallelentscheidung zum Leiturteil
(BSG 5. Senat vom 18.6.1997, BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15) , nämlich im
Urteil vom 18.6.1997 - 5 RJ 68/95 (in Juris nicht dokumentiert) findet sich zur Freiwilligkeit
der Beschäftigung lediglich die Feststellung, dass die damalige Klägerin auf Vermittlung des
Judenrats (als Näherin in einer Kleiderfabrik) beschäftigt war. Sofern dem Urteil des Senats
vom 7.10.2004 (BSGE 93, 214 = SozR 4-5050 § 15 Nr 1, RdNr 26) strengere Anforderungen
zu entnehmen sind, hält er hieran nicht fest.
22 b) Die tatsächlichen Feststellungen des LSG tragen seine Schlussfolgerung, die streitige
Beschäftigung des Klägers als Elektriker bei der Wehrmachtspost sei aus eigenem
Willensentschluss zustande gekommen. Denn nach den Feststellungen des
Berufungsurteils hat er sich die seiner beruflichen Vorbildung entsprechende Arbeit über das
deutsche Arbeitsamt selbst beschafft und ist über längere Zeit bei dieser geblieben.
23 3. Der Kläger hat die Beschäftigung auch "gegen Entgelt" ausgeübt (§ 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1
Buchst b ZRBG) .
24 Das LSG hat festgestellt, dass die Vergütung für die Arbeit des Klägers - wie dies
historischen Erkenntnissen entspricht - über die deutsche Arbeitsverwaltung an den Judenrat
(ab Oktober 1942 an SS-Einheiten) zur Versorgung der im Ghetto Festgehaltenen gezahlt
wurde. Bereits eine Entlohnung in dieser Form reicht als Entgelt im obigen Sinne aus.
25
Denn "Entgelt" iS von § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Buchst b ZRBG ist jegliche Entlohnung, nicht
nur in Geld, sondern auch in Form von Nahrungsmitteln oder entsprechenden Gutscheinen
(Coupons). Weitergehende Erfordernisse (zB Einhaltung einer Mindesthöhe; Miternährung
einer anderen Person) müssen nicht erfüllt werden. Unerheblich ist,
-
ob das Entgelt nur "geringfügig" war oder zum Umfang der geleisteten Arbeit in
keinem angemessenen Verhältnis stand (a),
-
ob als Entgelt nur Sachbezüge in Form freien Unterhalts (oder eines Teils davon)
gewährt wurden (b),
-
ob das Entgelt unmittelbar von der Beschäftigungsstelle ("Arbeitgeber") oder von einer
anderen Instanz (zB dem Judenrat) gewährt wurde (c).
26 Nur auf dieser Grundlage können Sinn und Zweck des ZRBG erfüllt werden. Das Gesetz soll
Verfolgten für deren Beschäftigung während ihres Zwangsaufenthalts in einem vom
Deutschen Reich zu verantwortenden Ghetto eine Rente aus der deutschen
Rentenversicherung ermöglichen. Es knüpft an die sog Ghetto-Rechtsprechung des BSG an,
erweitert jedoch in mehrfacher Hinsicht deren Reichweite.
27 Die Ghetto-Rechtsprechung hatte ein rentenversicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis iS der Reichsversicherungsgesetze (vor allem also der RVO) bei
Arbeitsleistungen angenommen, zu denen es aufgrund eines "Ghetto-Arbeitsmarkts"
gekommen war, die in "Ghetto-Geld" entlohnt worden waren und bei denen die
Überschreitung einer Geringfügigkeitsgrenze in Höhe eines Ortslohndrittels festgestellt
werden konnte (vgl etwa Urteil des 5. Senats vom 18.6.1997, BSGE 80, 250, 252 f = SozR 3-
2200 § 1248 Nr 15 S 54 f zum Ghetto Lodz).
28 Demgegenüber erfasst das ZRBG alle Beschäftigten, die sich zwangsweise in einem Ghetto
aufhielten, das sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem
eingegliedert war, und geht insoweit von einer einheitlichen Beurteilung aus (s BT-Drucks
14/8583, S 5: "Es kommt nicht darauf an, in welchem vom Deutschen Reich beherrschten
Gebiet die Beitragszeiten zurückgelegt worden sind") . Obwohl der Gesetzgeber davon
ausgehen musste, dass die von der ursprünglichen Rechtsprechung aufgestellten Kriterien
nur in ganz wenigen Ghettos anzuwenden sein würden, hat er eine unterschiedslose
Regelung unabhängig von lokal anwendbarem Recht, Ghetto-Größe und -Struktur
geschaffen; die Berücksichtigung einer Ghetto-Beitragszeit hat er darüber hinaus lediglich
davon abhängig gemacht, dass die Beschäftigung aus eigenen Willensentschluss zustande
gekommen und entgeltlich war.
29 Der gebotenen Einheitlichkeit der Beurteilung von Ghetto-Beschäftigungen hat der Senat
bereits dadurch Rechnung getragen, dass für die Anerkennung auch von außerhalb des
Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze zurückgelegten Ghetto-Beitragszeiten
das Erfordernis der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht erfüllt sein
muss (Urteil vom 26.7.2007, BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 19) ; ferner
dadurch, dass er in Anwendung des ZRBG einheitlich die Maßstäbe der
Reichsversicherungsgesetze angelegt hat, einerlei, ob die Ghetto-Beschäftigungen
innerhalb (Urteil vom 20.7.2005 - B 13 RJ 37/04 R, RdNr 28 ff) oder außerhalb (im Ghetto
Warschau, Generalgouvernement: Urteil vom 7.10.2004, BSGE 93, 214 = SozR 4-5050 § 15
Nr 1, RdNr 19 ff; s allg zur dortigen Rechtslage Senatsurteil vom 23.8.2001, SozR 3-2200 §
1248 Nr 17 S 67 f) ihrer unmittelbaren Geltung stattgefunden hatten.
30 An dieser Rechtsprechung hält der Senat jedoch insoweit nicht mehr fest, als er auch für
Beschäftigungen iS des ZRBG verlangt hat, dass diese, gemessen an den Bestimmungen
der Reichsversicherungsgesetze, zur Rentenversicherungspflicht geführt haben müssen. Für
die Ermittlung von Ghetto-Beitragszeiten nach dem ZRBG kann diese Voraussetzung nicht
gelten.
31 Zwar ist das ZRBG, wie sich auch aus der hierzu vorliegenden Gesetzesbegründung (BT-
Drucks 14/8583, S 1, 6; 14/8602, S 1, 5) ergibt, ausdrücklich in Reaktion auf die (und in
Akzeptanz der) Ghetto-Rechtsprechung des BSG verabschiedet worden (s Senatsurteil vom
7.10.2004, BSGE 93, 214 = SozR 4-5050 § 15 Nr 1, RdNr 36) . Dennoch kann dem
Gesetzgeber nicht entgangen sein, dass jedenfalls bei dem umfassenden
Anwendungsbereich des ZRBG die in der Ghetto-Rechtsprechung notwendigerweise
umgesetzte Rechtslage zur Abgrenzung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung
von einer versicherungsfreien Tätigkeit - zB unter dem Gesichtspunkt der Geringfügigkeit -
den Verhältnissen im Ghetto nicht mehr gerecht wurde.
32 (zu a) Die Anwendung des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Buchst b ZRBG erfordert nicht, dass das
Entgelt mehr als nur geringfügig war. Entgelt in diesem Sinne ist vielmehr jegliche
Gegenleistung (Geld oder Sachbezüge, insbesondere Lebensmittel) für die vom
Ghettobewohner verrichtete Arbeit ohne Rücksicht auf deren Höhe. Es ist nicht zu prüfen, ob
die Beschäftigung nach den Maßstäben der Reichsversicherungsgesetze
rentenversicherungspflichtig war.
33 Wenn der Senat nunmehr auch unter anderen Umständen vernachlässigbare Sachbezüge
(zB im Nährwert unzureichende Verpflegung am Arbeitsplatz) als Entgelt iS des § 1 Abs 1
Satz 1 Nr 1 Buchst b ZRBG ansieht, so mag dies den Rahmen der herkömmlichen Regeln
über das sozialversicherungsrechtliche Entgelt für zwangsweise im Ghetto lebende Verfolgte
verlassen. Hierin liegt jedoch kein grundsätzlicher Bruch, denn die diesen Regeln zugrunde
liegende Wertung wird gerade beachtet; zudem eröffnete bereits die Rechtsprechung zu den
Reichsversicherungsgesetzen Spielräume zur Berücksichtigung der individuellen
Verhältnisse des Beschäftigten. Die Sozialversicherungspflicht knüpft nach damaligem
Recht ebenso wie heute an der Erwerbstätigkeit an, wenn diese eine wesentliche
Lebensgrundlage des Versicherten darstellt. Auch an sich geringfügige Sachleistungen
(Lebensmittel) aber waren im Ghetto, das die Bewohner nicht verlassen durften und in dem
sie ständig von Hunger bedroht waren, überlebenswichtig; sie konnten sogar eher als
Lebensgrundlage angesehen werden als Geld oder geldwertes Vermögen.
34 Um rentenversicherungspflichtig zu sein, musste damals (wie heute) die Beschäftigung ein
Entgelt in Form von Geld oder von Sachbezügen (§ 1226 Abs 1 Nr 1, Abs 2 iVm § 160 RVO
) abwerfen, das eine gewisse Höhe überschreitet. Während heute nach § 8 Abs 1 Nr 1
des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV) ein fester Mindestbetrag überschritten sein
muss, bestand damals keine einschlägige gesetzliche Regelung. Das
Reichsversicherungsamt (RVA) sah jedoch allzu geringfügige, wirtschaftlich unerhebliche
Zuwendungen nicht als Entgelt iS des § 160 RVO (aF) an (Anleitung des RVA über den
Kreis der nach der Reichsversicherungsordnung gegen Invalidität und gegen Krankheit
versicherten Personen, in der Bearbeitung von Kreil, Stand 1935 - im Folgenden "Anleitung"
- S 73 mwN; eine entsprechende Fragestellung war trotz § 8 SGB IV noch 1988 relevant:
BSG vom 22.9.1988, SozR 4100 § 101 Nr 7 S 26 f mwN) . Auf vorübergehende
Dienstleistungen war gemäß § 1232 RVO (aF) iVm Art 104 des Einführungsgesetzes zur
RVO die "Bekanntmachung betreffend die Befreiung vorübergehender Dienstleistungen von
der Versicherungspflicht …" vom 27.12.1899 (RGBl 725) weiterhin anwendbar, die ohne
konkrete Betrags- und Zeitgrenzen ähnliche Beschränkungen der Versicherungspflicht
enthielt wie heute § 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV. Dabei kam es allerdings auf eine Angemessenheit
des Entgelts nicht an (s "Anleitung" S 73: "Andernfalls würde zu Unrecht eine Arbeit schon
deshalb versicherungsfrei sein, weil sie gering gelohnt wird"; mwN) . Auch kann entgegen oft
zu lesenden Ausführungen von keiner allgemeinen Geringfügigkeitsgrenze von "einem
Drittel des Ortslohns" gesprochen werden. Das RVA hat in einer solchen Schwelle
ausdrücklich nur einen "gewissen Anhalt, nicht aber eine feste Abgrenzung" gesehen und
vielmehr in der Hauptsache einen subjektiven Maßstab aus der Sicht des Beschäftigten
angelegt. Es hat "im Einzelfalle unter Vergleichung mit den übrigen Einkünften des
Beschäftigten und unter Berücksichtigung seiner Lebenshaltung" darauf abgestellt, ob dieser
durch die Tätigkeit "seinen Lebensunterhalt überwiegend oder doch in solchem Umfang
erwirbt, dass seine wirtschaftliche Stellung zu einem erheblichen Teile" hierauf beruht
("Anleitung", S 104; RVA vom 30.1.1931, EuM 29, 81, 82 f; vom 6.2.1922, EuM 13, 229, 231,
jeweils mwN).
35 Auf diese Prüfung kann aber für die Bestimmung des Begriffs "Entgelt" in § 1 Abs 1 Satz 1 Nr
1 Buchst b ZRBG verzichtet werden. Eine wie auch immer geartete Ausgrenzung nur
geringfügig vergüteter Beschäftigungen entbehrt aus den angeführten Gründen hier der
inneren Rechtfertigung.
36 Damit verzichtet der Senat nicht insgesamt auf das Tatbestandsmerkmal des § 1 Abs 1 Satz
1 Nr 1 Buchst b ZRBG. Denn nach wie vor bleibt erheblich, ob die Ghetto-Beschäftigung
"gegen" Entgelt ausgeübt wurde, also ob ein Austauschverhältnis bestand. Hiervon ist
jedoch nach dem Berufungsurteil auszugehen. Denn das LSG hat - unangegriffen -
festgestellt, dass der Kläger für seine Arbeit in der Form vergütet wurde, dass eine Zahlung
als Gegenleistung erfolgte (zur Zahlung an den Judenrat s ) .
37 (zu b) Das LSG hat zwar auf eine Versorgung des Klägers mit Nahrung am Arbeitsplatz nicht
abgehoben und eine solche auch nicht festgestellt. Dies ist jedoch vor dem Hintergrund zu
sehen, dass bereits die Beklagte im angefochtenen Bescheid Angaben des Klägers im
Verwaltungsverfahren (die er auch bei seiner Anhörung vor dem LSG bekräftigt hat)
zugrunde gelegt hatte, er habe für die Arbeit auch Suppe und Brot erhalten, was sie jedoch
für unerheblich hielt. Das LSG ist davon ausgegangen (Bl 12 des Berufungsurteils) , die
tägliche Versorgung mit Lebensmitteln für den Betroffenen allein reiche nicht aus, um eine
entgeltliche Beschäftigung anzunehmen, weil auch Zwangsarbeiter mit Nahrung versorgt
würden. Diese Argumentation vermengt jedoch die Voraussetzung der Beschäftigung "aus
eigenem Willensentschluss" (§ 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Buchst a ZRBG) mit der der
Beschäftigung "gegen Entgelt" (Buchst b aaO) . Selbst wenn, wie zT aus Ghettos berichtet,
Zwangsarbeitern auch Mittel zum Unterhalt ihrer Familie gewährt wurden, wird hieraus keine
Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss; ebenso wenig wird aus einer Beschäftigung
aus eigenem Willensentschluss wegen zu geringer Entlohnung Zwangsarbeit.
38 Mit Rücksicht auf Sinn und Zweck des ZRBG, die entgeltlichen Ghetto-Beschäftigungen in
die Rentenversicherung einzubeziehen, kann insoweit auch die Vorschrift über die
Versicherungsfreiheit bei lediglich freiem Unterhalt (§ 1227 RVO ) nicht gelten. Die
entgegenstehende Rechtsansicht (im Senatsurteil vom 7.10.2004, BSGE 93, 214 = SozR 4-
5050 § 15 Nr 1, RdNr 23 ff) hält der Senat nicht mehr aufrecht.
39
§ 1227 RVO (aF) regelte für das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung als
Ausnahme:
"Eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wird, ist
versicherungsfrei".
Die Vorschrift war aus dem Invalidenversicherungsgesetz vom 13.7.1899 (IVG)
übernommen worden und meinte vor allem die im Handwerk meist nur gegen freien
Unterhalt beschäftigten Lehrlinge. Nach den Materialien zum IVG sollte sie eine allzu große
Belastung der Arbeitgeber verhindern: Bei Gewährung nur freien Unterhalts sei dem
Arbeitgeber ein Abzug der Beitragsanteile des Arbeitnehmers vom Lohn nicht möglich
(Hanow/Lehmann, RVO/Invalidenversicherung, 4. Aufl 1925, § 1227 Anm 2 a; s auch RVA
vom 21.8.1924, EuM 17, 141, 142 mwN). Auch die Begründung, die in den Materialien zum
Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (vom 23.2.1957, BGBl I 45) zur erneuten
Einführung der Regelung des alten § 1227 RVO (neu: § 1228 Abs 1 Nr 2 RVO) nach
dessen Aufhebung (durch Art 3 Abs 2 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des
Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17.3.1945, RGBl I 41)
angeführt wurde ( BT-Drucks II/2437, S 63) , stellt auf die Besonderheiten enger,
familienhafter persönlicher Beziehungen ab:
"Beschäftigung ohne Barlohn erfolgt in mannigfachen Formen des Zusammenlebens
und der gegenseitigen Hilfeleistung. Erfahrungsgemäß stellt sich in solchen Fällen die
Frage nach der Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit der Beschäftigung
häufig erst nach Jahren und meist als Folge von Streitigkeiten zwischen den
Beteiligten. Die Versicherungsträger stehen bei der Regelung solcher Fälle oft vor
unüberwindlichen Schwierigkeiten."
40 Alle diese Erwägungen aber treffen auf Ghetto-Fälle mit den typischen Beschäftigungen
nicht zu. Würde man insoweit dennoch § 1227 RVO (aF) anwenden, würde die Anrechnung
von Ghetto-Beitragszeiten gerade für diejenigen Verfolgten an erschwerte Voraussetzungen
geknüpft, die damals in Form von Lebensmitteln die begehrteste Art von Entgelt erhielten
(zum Ganzen in ähnlichem Sinne schon BSG 4. Senat vom 14.12.2006, BSGE 98, 48 =
SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 109 ff) .
41 (zu c) Jedenfalls wurde eine Beschäftigung auch dann iS des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Buchst b
ZRBG "gegen Entgelt ausgeübt", wenn den Beschäftigten das Entgelt (welcher Art auch
immer) nicht am Arbeitsplatz (hier also: von der Wehrmachtspost), sondern von einer
anderen Stelle (zB dem Judenrat) ausgehändigt wurde; ebenso reicht eine Abführung des
Entgelts durch den direkten "Arbeitgeber" an eine derartige Stelle. Dies entspricht im
Grundsatz dem Rechtszustand unter Geltung der Reichsversicherungsgesetze.
42 Bereits nach § 160 Abs 1 RVO (aF) konnte das Entgelt "von dem Arbeitgeber oder einem
Dritten" gewährt werden; entsprechend konnte auch der Arbeitgeber die Vergütung an eine
Mittelsperson zahlen ("Anleitung", S 77 f; s zB RVA vom 12.1.1911, AN 1911, 404; Hanow,
RVO/Gemeinsame Vorschriften, 5. Aufl 1926, § 160 Anm 3, S 358 f) . Dabei dürfte es sich in
aller Regel um eine zumindest stillschweigend vereinbarte, weil unter den konkreten
Umständen im Ghetto übliche Regelung des Arbeitsvertrags handeln. Selbst wenn diese
nicht als selbstverständlich unterstellt würde, könnte dieser "ghettobedingte" Mangel dem
Verfolgten jedoch nicht zum Nachteil gereichen.
43 Die Lösung des Senats trägt auch dem Anliegen Rechnung, in Anbetracht des vorgerückten
Alters der Berechtigten über ihre Leistungsansprüche möglichst bald und ohne langwierige
Ermittlungen entscheiden zu können (hierzu bereits Senatsurteil vom 26.7.2007, BSGE 99,
35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 20 mwN ) .
44 Sein Auslegungsergebnis enthebt den Senat ferner der verfassungsrechtlichen Prüfung, ob
eine unterschiedliche Behandlung der für Ghettobeschäftigungen vorstellbaren Arten von
"Entgelt" (zB Barlohn, um Essensgeld gekürzter Barlohn, lediglich Nahrungsmittel am
Arbeitsplatz) oder auch seiner Höhe dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 des
Grundgesetzes ) widerspricht. Diese Vorschrift ist jedenfalls unmittelbar anwendbar.
Denn es geht nicht um die bloße Umsetzung früherer, nicht unter Geltung des
Grundgesetzes tatsächlich maßgebender Verhältnisse in Tabellen (s zum
Fremdrentengesetz BVerfG vom 26.1.1977, BVerfGE 43, 213, 227 f = SozR 5050 § 22 Nr 5;
ferner BVerfG Kammerbeschluss vom 4.4.1989, SozR 5050 § 22 Nr 19 S 54 f) , sondern um
Anwendung des im Jahre 2002 entstandenen ZRBG.
45 4. Das ZRBG ist nicht verfassungswidrig.
46 Der erkennende Senat teilt die Bedenken des 4. Senats des BSG im Urteil vom 14.12.2006
(BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3 RdNr 118) zur Verfassungsmäßigkeit der
Finanzierung der ZRBG-Leistungen nicht. Denn für nicht beitragsgedeckte Leistungen erhält
die Rentenversicherung den zusätzlichen Bundeszuschuss (s § 213 Abs 3 SGB VI) .
47 5. Auf der geschilderten Grundlage ist dem Kläger eine auf Ghetto-Beitragszeiten beruhende
Regelaltersrente zu zahlen.
48 a) Die allgemeine Wartezeit (s oben zu Beginn von II) von fünf Jahren (60 Monaten) erfüllt er
mit 25 Monaten (März 1941 bis März 1943) an Ghetto-Beitragszeiten nicht; insgesamt ist
jedoch für die Wartezeit der gesamte Zeitraum von November 1939 bis Ende 1949 (122
Monate) zu berücksichtigen. Insoweit hat die Beklagte in der Berufungsverhandlung für den
Fall der Berücksichtigung von Beitragszeiten ein Anerkenntnis von Ersatzzeiten erklärt, das
der Kläger angenommen hat (§ 101 des Sozialgerichtsgesetzes ) . Gegen die
Anrechnung der entsprechenden Ersatzzeiten im Berufungsurteil richtet sich die Revision
der Beklagten nicht, so dass weitere Einzelheiten dahinstehen können.
49 b) Der Zahlungsanspruch besteht auch angesichts dessen, dass der Kläger in einem
anderen EU-Staat (Frankreich) und somit weder in Deutschland noch in einem (sonstigen)
Abkommensstaat ansässig ist. Dabei bedarf es keiner Prüfung, ob das Recht der EU, zB die
EWGV 1408/71, den Export von Leistungen aufgrund des ZRBG in andere Mitgliedstaaten
anordnet, weil dies bereits aus dem ZRBG folgt.
50 aa) Denn der Zahlung der Renten ins Ausland steht das Territorialitätsprinzip des § 30 Abs 1
des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht entgegen; hiernach gelten die Vorschriften
des SGB (nur) für Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem
Geltungsbereich haben. Dieser Grundsatz gilt jedoch gemäß § 37 Satz 1 SGB I nur, soweit
sich aus den anderen Sozialgesetzbüchern nichts anderes ergibt. Eben dies ist hier jedoch
der Fall. Das ZRBG ergänzt die rentenrechtlichen Vorschriften des Gesetzes zur Regelung
der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung -
WGSVG - (§ 1 Abs 2 ZRBG) , das wiederum über seinen § 7 WGSVG das SGB VI ergänzt.
Es sieht - als rentenrechtliche Spezialregelung - mit hinreichender Deutlichkeit eine
Ausweitung seines räumlichen Anwendungsbereichs über den Geltungsbereich des SGB
hinaus vor (aA Beschluss des 4. Senats des BSG vom 20.12.2007 - B 4 R 85/06 R,
www.sozialgerichtsbarkeit.de, nicht in juris, RdNr 92 ff, insbesondere 94 f; unter
Bezugnahme auf sein Urteil vom 14.12.2006, BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 57
ff).
51 Vom Gesetzgeber mitbeschlossen, bezeichnet sich das Gesetz als "Gesetz zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto". Hieraus folgt, dass mit
seinen Regelungen jedenfalls auch die "Zahlbarmachung von Renten" erreicht werden, das
ZRBG also gerade auch auf Berechtigte im Ausland anzuwenden sein sollte. Denn die
Zahlbarkeit von Renten macht für Inländer keine Probleme, vielmehr standen der Zahlung
von Renten nach der "Ghetto-Rechtsprechung" des BSG ins Ausland in vielen Fällen die
Vorschriften der §§ 113 ff SGB VI entgegen (s BT-Drucks 14/8583, S 1 unter "A. Problem").
Darüber hinaus regelt § 2 Abs 1 Nr 2 ZRBG ausdrücklich die Behandlung der (fingierten)
Beiträge "für die Erbringung von Leistungen ins Ausland".
52 bb) Dies ist auch nicht völkerrechtlich problematisch.
53 Zwar liegt dem Territorialitätsprinzip der Gedanke zugrunde, dass hoheitliche Maßnahmen
eines Staates im Ausland völkerrechtlich verboten sind (vgl von Maydell, Internationales
Sozialversicherungsrecht in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts,
1979, S 943, 947; Rüfner in Wannagat, SGB, § 30 SGB I RdNr 8, Stand: 2000). Hingegen ist
einem Staat nicht verboten, an Sachverhalte mit Auslandsberührung Rechtsfolgen zu
knüpfen oder Leistungen auch ins Ausland zu exportieren (vgl von Maydell, aaO; Schlegel in
juris Praxis-Komm SGB I, 2005, § 30 RdNr 18; BSG vom 28.8.1970, BSGE 31, 288, 290 f =
SozR Nr 24 zu § 381 RVO) . Entsprechend hat das Territorialitätsprinzip im
Sozialversicherungsrecht seine hauptsächliche Bedeutung bei der Frage der
Versicherungspflicht, nicht hingegen bei der Leistungsauszahlung (vgl BSG Großer Senat
vom 21.12.1971, BSGE 33, 280, 285 = SozR Nr 13 zu § 1302 RVO ; Rüfner aaO) .
54 cc) Damit können Zweifel an der grundsätzlichen Position des 4. Senats dahingestellt
bleiben. Dieser geht (s bereits Urteil vom 14.12.2006, BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3,
RdNr 57 ff, ferner Beschluss vom 20.12.2007 - B 4 R 85/06 R, www.sozialgerichtsbarkeit.de,
nicht in Juris, RdNr 92 ff) im Zusammenhang mit der Anwendung des ZRBG davon aus, der
räumliche Geltungsbereich aller Bundesgesetze umfasse grundsätzlich nur die Personen,
die der Gebietshoheit der Bundesrepublik Deutschland unterlägen, also im Regelfall nur
diejenigen, die sich in deren Staatsgebiet aufhielten; ein Gesetz mit intendierter
Auslandsgeltung müsse diese "ausdrücklich" regeln. Diese Voraussetzung aber lässt sich
jedenfalls den vom 4. Senat im Urteil vom 14.12.2006angeführten Nachweisen (aaO, RdNr
58: "stellvertretend W. Graf Vitzthum, Staatsgebiet, in: HStR II, 3. Aufl 2004, § 18 RdNr 12, 13
mwN") nicht entnehmen. Ebenso wenig ergibt sich aus der vom 4. Senat in seinem
Beschluss vom 20.12.2007 (aaO, RdNr 96) angeführten Quelle (Diskussionsprotokoll vom
23.5.2002 zur Sitzung des Bundesrats-Ausschusses für Arbeit und Sozialpolitik vom
16.5.2002, zu TOP 8, S 23) , dass die Bundesregierung selbst darauf hingewiesen habe, der
Anwendungsbereich des ZRBG sei generell auf "Inländer" und "Vertragsstaatler" beschränkt
(aaO finden sich lediglich Auskünfte zur Rentenzahlung aufgrund von Entgeltpunkten aus
beitragsfreien Zeiten im Hinblick auf die Regelung des § 2 Abs 2 ZRBG; s bereits das Urteil
des 4. Senats vom 14.12.2006, BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 60).
55 6. Der Senat hat durch eine Maßgabe den Entscheidungssatz des Berufungsurteils insoweit
korrigiert, als hierin der Rentenbeginn auf den 1.6.1997, statt richtig auf den 1.7.1997,
festgesetzt wird.
56
Der Rentenbeginn aufgrund Antragstellung des Klägers im Juni 2003 bestimmt sich nach §
3 Abs 1 Satz 1 ZRBG:
"Ein bis zum 30. Juni 2003 gestellter Antrag auf Rente aus der gesetzlichen
Rentenversicherung gilt als am 18. Juni 1997 gestellt."
57
Mit der Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung bereits "ab Juni 1997" hat sich
das LSG auf dieser Grundlage augenscheinlich an der Vorschrift des § 99 Abs 1 Satz 1
SGB VI orientiert, wonach eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat
an geleistet wird, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt
sind. Diese Regelung gilt jedoch für einen Rentenbeginn aufgrund der Fiktion des § 3 Abs 1
Satz 1 ZRBG nicht. Denn Art 3 Abs 2 ZRBG/SGB VI-ÄndG sieht ein Inkrafttreten seines Art
1 (des ZRBG) erst "mit Wirkung vom 1. Juli 1997" vor. Entsprechend heißt es in der
Gesetzesbegründung zu § 3 ZRBG (BT-Drucks 14/8583 S 6) :
"In Absatz 1 dieser Vorschrift wird bei Antragstellung bis zum 30. Juni 2003 unterstellt,
dass ein Antrag auf Regelaltersrente an dem Tag gestellt ist, an dem das
Bundessozialgericht seine Entscheidung zur Anerkennung von Ghetto-Beitragszeiten
getroffen hat. Im Zusammenwirken mit der Regelung über das Inkrafttreten dieses
Gesetzes zum 1. Juli 1997 wird damit eine rückwirkende Rentenzahlung ab 1. Juli
1997 sichergestellt."
58 Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG; ein Anlass, hierbei die (unter 6
erläuterte) Maßgabe zu berücksichtigen, bestand nicht.