Urteil des BSG vom 27.03.2007

BSG: verfassungskonforme auslegung, behandlung, krankheit, therapie, label, arzneimittel, veröffentlichung, versorgung, neurologie, gesellschaft

Bundessozialgericht
Urteil vom 27.03.2007
Sozialgericht Berlin S 85 KR 3245/00
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 1 KR 56/03
Bundessozialgericht B 1 KR 17/06 R
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Dezember 2005 wird
zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
1
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für ein selbst beschafftes, außerhalb seines bestimmungsgemäßen
Indikationsgebiets angewandtes Arzneimittel (Off-Label-Use).
2
Die 1955 geborene, bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Klägerin erkrankte 1981 an Multipler Sklerose (MS), die
bei ihr in einer sekundär-chronischen Form mit Schüben besteht. Seit 1995 erhielt die Klägerin deswegen eine
immunmodulatorische Therapie mit dem dafür zugelassenen Arzneimittel Betaferon. Im Verlaufe der Therapie kam es
zu Nebenwirkungen (grippeähnliche Symptomatik, Verstärkung der Spastik), sodass die Klägerin im Januar 2000 über
ihren behandelnden Vertragsarzt, den Neurologen und Psychiater B. , von der Beklagten begehrte, stattdessen mit
intravenös zu verabreichenden Immunglobulinen (IvIg) versorgt zu werden. Die Klägerin erhielt aufgrund der
Verordnungen ihres Arztes das IvIg-Präparat "Polyglobin 10 %" zunächst als Sachleistung; dieses Mittel verfügt zwar
über eine Arzneimittelzulassung in Deutschland für verschiedene Indikationen, nicht jedoch für die Behandlung von
MS. Nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte die
Kostenübernahme ab, weil das Mittel für die Behandlung von MS nicht zugelassen und die Therapie für die chronisch-
progrediente MS nicht abgesichert sei (Bescheid vom 21.3.2000; Widerspruchsbescheid vom 21.9.2000). Deshalb hat
die Klägerin das Sozialgericht (SG) angerufen.
3
Weil der Nervenarzt B. wegen seiner vertragsärztlichen Verordnungen von "Polyglobin 10 %" Arzneikostenregressen
ausgesetzt war, verordnete er der Klägerin das Mittel vom 24.8.2001 an nur noch auf Privatrezept. Sie wandte von
August 2001 bis Januar 2002 für die Beschaffung aus einer Apotheke insgesamt 4.776,98 EUR auf, deren Erstattung
sie mit ihrer Klage begehrt. Hierzu hat sie ua geltend gemacht, sie leide an einer Spritzenphobie, sodass ihr tägliche
subkutane Injektionen mit anderen Mitteln nicht möglich seien; andere Behandlungsmöglichkeiten bestünden nicht.
Durch die IvIg-Therapie hätten sich die Befunde sowie ihre Bewegungs- und Gehfähigkeit deutlich verbessert.
4
Das SG hat die Klage abgewiesen, weil kein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V bestehe. Die
Behandlung der sekundär-chronischen MS mit "Polyglobin 10 %" sei keine Leistung der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV). Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlichen
Voraussetzungen für einen Off-Label-Use seien nicht erfüllt. Es gebe keine Forschungsergebnisse, die eine
Zulassung des Präparats für die Behandlung der Krankheit der Klägerin erwarten ließen. Selbst nach Mitteilung des
behandelnden Arztes habe eine Studie Ende 2001 keinen therapeutischen Nutzen für entsprechende MS-Patienten
ergeben. Auch in den "Leitlinien zur Behandlung der MS" der Deutschen Gesellschaft für Neurologie werde diese
Therapie nicht empfohlen. Ein nur für den Einzelfall geltend gemachter Behandlungserfolg führe nicht zur
Leistungspflicht (Urteil vom 4.9.2003).
5
Das Landessozialgericht (LSG) hat die dagegen gerichtete Berufung zurückgewiesen: Ein Off-Label-Use von
"Polyglobin 10 %" scheide aus, weil aufgrund der Datenlage nach den zutreffenden Feststellungen des SG keine
begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe. Obwohl sich ein Wandel bei der Behandlung der
schubförmig verlaufenden frühen MS abzeichne, gelte dies nicht auch für die sekundär-chronische MS. Nach
Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts/Bundesamt für Sera und Impfstoffe von Oktober 2005 würden
immunmodulatorische Medikamente zwar inzwischen bereits früh nach einer MS-Diagnose eingesetzt; die Erteilung
einer Arzneimittelzulassung für "schubförmige MS" erfordere aber eine Phase-III-Studie, die bislang nicht durchgeführt
worden sei. Schließlich sei die Wirksamkeit bereits zum Zeitpunkt der Behandlung nicht ausreichend nachgewiesen
und eine positive Entscheidung veranlasst gewesen (Urteil vom 15.12.2005).
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Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 13 Abs 3 SGB V iVm § 2 Abs 1 Satz 3, § 12 Abs 1, § 27 Abs
1 Satz 2 Nr 3 und § 31 Abs 1 SGB V. Das LSG schließe sie rechtswidrig von notwendigen Leistungen zur Behandlung
ihrer MS aus. Da "Polyglobin 10 %" über Jahre hinweg die Beschwerden ihrer schwerwiegenden Krankheit gelindert
und sich als potenziell wirksam erwiesen habe, dürfe sie als wirtschaftlich weniger potente Versicherte nicht schutzlos
dem Umstand ausgeliefert sein, dass bei ihr herkömmliche Arzneimittel unverträglich bzw wirkungslos seien. Geboten
sei vielmehr eine verfassungsadäquate Anwendung und Auslegung des Leistungsrechts der GKV. Das Urteil des BSG
vom 19.3.2002 (BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 - Sandoglobulin) halte angesichts des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 (BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5)
verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr Stand. MS sei als lebensbedrohende Krankheit anzusehen bzw
stehe einer solchen wertungsmäßig gleich. - Nach ihren Angaben im Revisionsverfahren wird die Klägerin im Falle
auftretender MS-Schübe aktuell mit Cortison-Präparaten behandelt.
7
Die Klägerin beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Dezember 2005 und des
Sozialgerichts Berlin vom 4. September 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom
21. März 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2000 zu verurteilen, ihr 4.776,98
EUR abzüglich der zu leistenden gesetzlichen Zuzahlungen zu zahlen, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts
Berlin-Brandenburg vom 15. Dezember 2005 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an dieses Gericht zurückzuverweisen.
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Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
9
Sie ist der Ansicht, die Wirksamkeit des Mittels sei für die Krankheit der Klägerin nicht belegt. Der Beschluss des
BVerfG vom 6.12.2005 wirke sich nicht aus, weil es hier nicht um eine lebensbedrohliche oder vorhersehbar tödlich
verlaufende Krankheit gehe.
II
10
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass sie von der
Beklagten die Erstattung der in der Zeit von August 2001 bis Januar 2002 aufgewandten Kosten für das auf
privatärztliche Verordnung hin selbst beschaffte Fertigarzneimittel "Polyglobin 10 %" nicht beanspruchen kann.
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Die Voraussetzungen des allein in Betracht kommenden Kostenerstattungsanspruchs aus § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2
SGB V (hier anzuwenden in der seit 1.7.2001 geltenden Fassung von Art 5 Nr 7 Buchst b Neuntes Buch
Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - vom 19.6.2001, BGBl I 1046) sind nicht erfüllt.
Danach ist eine Krankenkasse zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und
dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Die Beklagte hat die Versorgung
mit dem begehrten Arzneimittel in der hier betroffenen Zeit nicht zu Unrecht abgelehnt. Das folgt aus dem
Leistungsrecht der GKV (1.), auch wenn es verfassungskonform ausgelegt wird (dazu 2.).
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1. Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender
Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt daher voraus, dass die
selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder
Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN;
zuletzt: BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - Idebenone, zur Veröffentlichung vorgesehen). Zu diesen
Leistungen gehört die Versorgung mit dem Arzneimittel "Polyglobin 10 %" nicht.
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a) Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB V) nicht von
der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die
erforderliche (§ 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl zB BSG, Urteil vom 4.4.2006 -
B 1 KR 12/04 R, SozR 4-2500 § 27 Nr 7 RdNr 22 mwN - D-Ribose). Dies ist hier der Fall, weil "Polyglobin 10 %" für
die Behandlung der MS nicht zugelassen ist.
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b) Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von "Polyglobin 10 %" auf Kosten der GKV, das nur über eine
Zulassung für die Behandlung anderer Krankheiten als für diejenige verfügt, an welcher die Klägerin leidet, muss
ebenfalls ausscheiden. Der Senat hat bereits in seinem von den Vorinstanzen in Bezug genommenen Urteil vom
19.3.2002 - B 1 KR 37/00 R (BSGE 89, 184 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 - Sandoglobulin) sowohl allgemein zu den
Voraussetzungen für einen solchen Off-Label-Use ausführlich Stellung genommen als auch speziell für einen an MS
(dort in einer primär chronisch-progredienten Verlaufsform) leidenden Versicherten den Anspruch auf eine intravenöse
Verabreichung von Immunglobulinen im Einzelnen verneint. Ein Off-Label-Use kommt nur in Betracht, wenn es 1. um
die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der
Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder
palliativ) erzielt werden kann (ebenso zuletzt - diese Rspr auch gegen Kritik aus dem Schrifttum verteidigend - Urteil
vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R - SozR 4-2500 § 31 Nr 5 RdNr 17 f - Ilomedin, auch zur Veröffentlichung in BSGE
vorgesehen).
15
Auch wenn es sich bei der bei der Klägerin bestehenden Form der MS um eine die Lebensqualität auf Dauer
nachhaltig beeinträchtigende Krankheit handelt und es zumutbare Behandlungsalternativen wegen aufgetretener
erheblicher Nebenwirkungen von Betaferon (vgl aber noch BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 -
Sandoglobulin) nicht zu geben scheint (so die Feststellungen der Vorinstanzen), fehlt es jedenfalls an der für einen
Off-Label-Use auf Kosten der GKV erforderlichen Erfolgsaussicht. Wie der Senat (aaO und Urteil vom 26.9.2006 - B 1
KR 1/06 R - RdNr 19) dargelegt hat, kann von hinreichenden Erfolgsaussichten dann ausgegangen werden, wenn
Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen
werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt
worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo)
veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei
vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht
worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige,
wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens
über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Die letztgenannten Voraussetzungen waren
im Sandoglobulin-Urteil des Senats - bei dem die Versorgung mit Immunglobulinen in der Zeit von September 1997 bis
zur Verkündung des Urteils am 19.3.2002 im Streit war - nicht erfüllt. Die Voraussetzungen sind damit gleichermaßen
nicht erfüllt bezogen auf den im Falle der Klägerin streitigen Behandlungszeitraum von August 2001 bis Januar 2002,
zumal neue, auf diesen Zeitpunkt zurückwirkende Erkenntnisse nicht vorliegen. Der Senat hat im genannten Urteil
darauf abgestellt, dass nach den vom Paul-Ehrlich-Institut veröffentlichten Ergebnissen eines internationalen
Symposiums von November 2001 für die sekundär-progressive MS ebenfalls kein wissenschaftlicher Konsens über
den Nutzen einer Behandlung mit Immunglobulinen bestand (BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8).
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Mit diesen Erkenntnissen stehen die von der Revision nicht beanstandeten, vom LSG in Bezug genommenen
Feststellungen des SG in Einklang. Die Vorinstanzen haben sich insbesondere auf Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-
Instituts von Oktober 2005 und die "Leitlinien zur Behandlung der MS" (Stand April 2002) der Deutschen Gesellschaft
für Neurologie gestützt und dargelegt, dass sich selbst für die Folgezeit kein Wandel in der Datenlage für die
sekundär-chronische MS abzeichnete, an der die Klägerin leidet. Hinzu kommt das hier fehlende - auch vom LSG
hervorgehobenen - Erfordernis, dass die anspruchsauslösenden positiven Erkenntnisse bereits zum Zeitpunkt der
Behandlung der Klägerin hätten vorliegen müssen (vgl zuletzt BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr
27 mwN - Wobe-Mugos E, vgl auch Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 mwN -
Neuropsychologische Therapie, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die neu erhobenen Daten zur Wirksamkeit von IvIg
bei schubförmiger MS führten nur dazu, dass immunmodulatorische Medikamente schulmäßig inzwischen frühzeitig
nach der Diagnosestellung eingesetzt werden, jedoch kann dieser Arzneimitteleinsatz nicht auf die sekundär-
chronische MS übertragen werden; eine Phase-III-Arzneimittelzulassungs-Studie ist bezogen auf die Krankheit der
Klägerin und das streitbefangene Arzneimittel bislang nicht mit Erfolg durchgeführt worden. Es sind auch keine
Forschungsergebnisse ersichtlich, die eine Zulassung des Präparats zur Behandlung der sekundär-chronischen MS
bereits in den Jahren 2001/2002 erwarten ließen. Selbst der behandelnde Arzt der Klägerin hat im Klageverfahren
mitgeteilt, dass eine als Zulassungsstudie geplante Studie des Herstellers von "Polyglobin 10 %" Ende 2001 keinen
therapeutischen Nutzen für Patienten mit primär- oder sekundär-chronischer MS ergeben habe. Schließlich wurde die
begehrte Therapie auch in den "Leitlinien zur Behandlung der MS" (Stand April 2002) der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie bei sekundär progredienter MS aufgrund der Forschungslage nicht empfohlen. Damit ist - entsprechend
den Erkenntnissen des Sandoglobulin-Urteils des Senats - gleichermaßen auszuschließen, dass seinerzeit außerhalb
eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens schon Erkenntnisse vorlagen, die denjenigen einer Phase-III-
Studie gleichstehen (vgl in Bezug auf dieses alternative Erfordernis: Urteil des Senats vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R
- SozR 4-2500 § 31 Nr 5 RdNr 24 - Ilomedin, zur Veröffentlichung vorgesehen).
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c) Auch weitere von der Klägerin vorgetragene Gesichtspunkte verhelfen der Revision nicht zum Erfolg. Um einen sog
Seltenheitsfall, in dem sich eine Krankheit und ihre Behandlung einer systematischen Erforschung entzieht und bei
dem eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkassen in Betracht zu ziehen wäre (vgl dazu BSGE 93, 236 = SozR
4-2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 21 - Visudyne), handelt es sich vorliegend nicht. Der von der Klägerin speziell für ihren
Einzelfall geltend gemachte Behandlungserfolg ist unerheblich, weil die streitige Therapie wissenschaftlich anerkannt
wirksam sein muss, um den sich für den Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten aus § 2 Abs 1
und § 12 Abs 1 SGB V ergebenden Einschränkungen genügen zu können; der Anspruch umfasst folglich nur solche
Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität dem allgemein anerkannten Stand der
wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht. Hierzu genügt es nicht, dass die Arzneimitteltherapie bei einem
Versicherten nach seiner eigenen Ansicht oder derjenigen seiner Ärzte positiv gewirkt haben soll und ggf
herkömmlichen Arzneimitteln vorzuziehen ist (vgl zB BSGE 76, 194, 198 = SozR 3-2500 § 27 Nr 5 S 11 -
Remedacen). Zu Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels muss es vielmehr grundsätzlich zuverlässige
wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne geben, dass der Erfolg der Behandlungsmethode in einer für
die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist (vgl zB BSGE 93, 1, 2 = SozR 4-2500
§ 31 Nr 1, jeweils RdNr 7 mwN - Immucothel; zuletzt BSGE 95, 132 RdNr 18 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 25 mwN -
Wobe-Mugos E). Auch bei einer erfolgten Arzneimittelanwendung sind Spontanheilungen und wirkstoffunabhängige
Effekte mit in Rechnung zu stellen (vgl BSG, Urteil vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 4 RdNr 42
mwN - Tomudex (auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen)).
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2. Zu keinem anderen Ergebnis führt schließlich aufgrund des Beschlusses des BVerfG vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98
- BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 - immunbiologische
Therapie) die verfassungskonforme Auslegung derjenigen Normen des SGB V, die einem verfassungsrechtlich
begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen (vgl dazu BSG, Urteil vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05
R, SozR aaO RdNr 23 - Tomudex).
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a) Diese Auslegung hat zur Folge, dass im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 und §
31 Abs 1 Satz 1 SGB V Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit ausnahmsweise bejaht werden müssen, obwohl ein
Mittel bzw eine Behandlungsmethode an sich von der Versorgung zu Lasten der GKV ausgeschlossen ist. Die
verfassungskonforme Auslegung setzt ua voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende
(vgl BSG, ebenda RdNr 21 und 30 mwN) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt
(vgl BSG, Urteil vom 4.4.2006 - B 1 KR 12/04 R, SozR 4-2500 § 27 Nr 7 RdNr 31 f - D-Ribose). Daran fehlt es.
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Der Senat hat insoweit zuletzt in seinem Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R (Idebenone, RdNr 17 ff, zur
Veröffentlichung vorgesehen) ausgeführt, dass mit den genannten Krankheits-Kriterien des BVerfG eine strengere
Voraussetzung umschrieben wird, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung
des Off-Label-Use formuliert ist. Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen an. Ohne einschränkende Auslegung
ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das
vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit
ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann
aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen
Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten
anzusehen (vgl auch BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr 34 - Neuropsychologische Therapie).
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Bereits die Anforderungen an das Bestehen einer "schwerwiegenden" Erkrankung für einen Off-Label-Use sind
erheblich. Nicht jede Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen
Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der
Erkrankungen abhebt. Auch ein Off-Label-Use bedeutet nämlich, Arzneimittel für bestimmte Indikationen ohne die
arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor
inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit schützen soll. Ausnahmen können schon insoweit nur in
engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer
krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die
Anforderungen des Rechts der GKV an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel (§ 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V)
beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu
befriedigenden Bedarfs Rechnung trägt (so zum Ganzen BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - RdNr 18
mwN - Idebenone).
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Der institutionelle Schutz, den das für Deutschland erforderliche Arzneimittelzulassungsverfahren bietet, fehlt auch bei
einem systematisch betriebenen Off-Label-Use, weil in derartigen Fällen die gebotene indikationsbezogene
Arzneimittelzulassungsprüfung nicht stattgefunden hat. Damit aber drohen den Versicherten auch hier
Gesundheitsgefahren, vor denen sie das Zulassungsverfahren gerade schützen will. Soll trotzdem - noch
hinausgehend über die dargestellten einschränkenden Voraussetzungen der Sandoglobulin-Rechtsprechung für einen
Off-Label-Use - unter Berufung auf den verfassungsrechtlich gebotenen Gesundheitsschutz ein Anspruch auf die
zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels zu Lasten der GKV begründet werden, ist auch darauf
abzustellen, ob sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch
nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren droht. Verbleibt durch einen langen, verzögerten Krankheitsverlauf
jahrzehntelang Zeit zur Therapie, ist in Rechnung zu stellen, dass die im Zeitablauf typischerweise voranschreitenden
medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse in Zukunft Therapiemöglichkeiten eröffnen und (positive wie
negative) Ergebnisse zu Tage fördern können, welche aktuell noch nicht verfügbar sind. Dann aber ist es auch
verfassungsrechtlich hinnehmbar, den von einer schweren Krankheit betroffenen Patienten bei fehlender Akut-
Problematik trotz der damit verbundenen Belastungen und Unzuträglichkeiten in der Regel abzuverlangen, vor der
Inanspruchnahme der GKV für unkonventionelle Pharmakotherapien zunächst das Vorliegen einer auf solchen
Forschungsergebnissen gestützten Zulassung der beanspruchten Fertigarzneimittel abzuwarten. Dementsprechend
hat das BSG die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit iS des Beschlusses des BVerfG vom
6.12.2005 (aaO) verneint zB bei einem Prostata-Karzinom im Anfangsstadium (Urteil vom 4.4.2006 - B 1 KR 12/05 R,
SozR 4-2500 § 27 Nr 8 RdNr 36 - Interstitielle Brachytherapie mit Permanent-Seeds), bei einer in 20 bis 30 Jahren
drohenden Erblindung (Beschluss vom 26.9.2006 - B 1 KR 16/06 B) sowie bei einer langsam progredient verlaufenden
Friedreich schen Ataxie mit über Jahre hinweg möglichen stabilen Symptomen (Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06
R - Idebenone).
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Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine
notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik
vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet,
dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche
Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen
wird. Ähnliches kann für den ggf gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines
wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten. Solches ist bei einer bestehenden MS in
sekundär-progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit nicht anzunehmen. Wie die
MDK-Ärzte Dres. Hanisch und Hoffmann in ihrem in den Beklagtenakten enthaltenen, der Klägerseite zur Kenntnis
gegebenen Gutachten "Einsatz von Immunglobulinen bei MS" (Stand Dezember 2005, Seite 9/10) - gestützt auf
umfangreiche medizinische Fachliteratur-Recherchen - ausgeführt haben, benötigen ca 50 % der MS-Patienten nach
15 Jahren Hilfe beim Laufen und beträgt die durchschnittliche Dauer vom Beginn der Krankheit bis zur
Rollstuhlabhängigkeit 29,9 Jahre. Die durchschnittliche Zeit von Krankheitsbeginn bis zum Tod beträgt in der Regel
mindestens 30-40 Jahre, ohne dass die MS dann selbst idR unmittelbare Todesursache ist; die durchschnittliche
Überlebenswahrscheinlichkeit von MS-Patienten ist zehn Jahre nach Krankheitsbeginn im Vergleich mit der
Normalbevölkerung noch um etwa zehn Jahre reduziert. Ausgehend von diesen auch von der Revision nicht
beanstandeten Erkenntnissen handelt es sich bei der sekundär-progredienten MS nicht um eine Krankheit, die von
ihrem akuten Behandlungsbedarf her derjenigen gleichsteht, welche dem vom BVerfG am 6.12.2005 entschiedenen
Fall der Duchenne schen Muskeldystrophie zugrunde lag. Während die von diesem Leiden betroffenen Patienten
zumeist das 20. Lebensjahr nicht erleben (vgl BSGE 81, 54, 55 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4), besteht für Patienten mit
sekundär-progredienter MS eine deutlich andere Situation. Die letztgenannte Krankheit wird charakterisiert durch eine
chronische, zT schubartig verlaufende Progredienz. Eine gezielt kausale Therapie gibt es insoweit nicht, vielmehr
kann - auch mit den von der Klägerin begehrten, im Übrigen nicht nebenwirkungsfreien Immunglobulinen - nur versucht
werden, die Schubrate bzw die Schwere der Schübe zu vermindern bzw die Progression der Behinderung zu hemmen
(vgl MDK-Gutachten S 11, 14, 15 f).
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Die Klägerin ist im Falle auftretender Krankheitsschübe zudem nicht gänzlich unversorgt, sondern wird dann zur
Linderung mit Cortison behandelt. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von "Polyglobin 10 %" unter
Lockerung der zum Schutz der Patienten und der Versicherten der GKV geschaffenen speziellen gesetzlichen
Regelungen über die Arzneimittelversorgung muss vor diesem Hintergrund ausscheiden.
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Mit Hilfe des Beschlusses des BVerfG vom 6.12.2005 lässt sich auch nicht die rechtliche Schranke überwinden, dass
für einen auf Kosten der GKV zulässigen Off-Label-Use bereits zum Zeitpunkt der Behandlung die oben dargestellten
anspruchsauslösenden Erkenntnisse vorliegen müssen (vgl dazu bereits BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 4 RdNr 31; zuvor
außerhalb der Fälle grundrechtsorientierter Auslegung: stRspr, vgl BSGE 81, 54, 58 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 S 13 f;
SozR 3-2500 § 135 Nr 12 S 56 f (für Festlegungen in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und
Krankenkassen); BSGE 93, 236, 243 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1 RdNr 19; BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31
Nr 3 RdNr 27 mwN (für Pharmakotherapien)). Diese allgemeine Voraussetzung des Leistungsrechts der GKV gilt
unabhängig davon, ob die zu behandelnde Krankheit eine besondere Schwere und Lebensbedrohung aufweist. Das
Verfassungsrecht gebietet es nicht, eine Krankenkasse für leistungspflichtig zu erklären und zur Kostenerstattung zu
verurteilen, wenn sich eine zum Behandlungszeitpunkt aufgestellte, den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechende
Prognose über die Erfolgsaussichten einer bestimmten Behandlung aufgrund zwischenzeitlich gewonnener neuer
Erkenntnisse ex post als (möglicherweise) "medizinisch überholt" erweist.
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Von daher ist es für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Erstattung der in den Jahren 2001/2002
angefallenen Therapiekosten ohne Belang, dass die einschlägigen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie zur Behandlung der MS (im Internet unter www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/030-050.htm - recherchiert am
28.2.2007) inzwischen geändert worden sind (3. überarbeitete Aufl vom 16.10.2004). Im Übrigen heißt es auch in
diesen Leitlinien speziell zur sekundär-progredienten MS unter Bezugnahme auf eine Studie aus dem Jahr 2004
(Hommes et al, "Intraveneous immunoglobulin in secondary progressive multiple sclerosis (SMPS): randomized
placebo-controlled trial", Lancet 364 (9440), 1149-1156) weiterhin, dass die intravenöse Verabreichung von
Immunglobulinen für diese Verlaufsform der MS nicht empfohlen werden könne.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.