Urteil des BSG vom 11.04.2006

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BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 17.6.2008, B 8 AY 13/07 R
sozialgerichtliches Verfahren - Streitgegenstand - Asylbewerberleistung -
Analogleistung - rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer -
Asylfolgeantrag - Zurechnung elterlichen Fehlverhaltens - Inlandsintegration -
Berechnung der Leistungshöhe
Tatbestand
1 Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ab dem
14. Februar 2006, insbesondere statt der Leistungen nach §§ 3 ff AsylbLG (so genannte
Grundleistungen) Leistungen nach § 2 AsylbLG (so genannte) Analog-Leistungen unter
entsprechender Anwendung des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
2 Die Kläger sind Roma aus dem Kosovo und besaßen die serbisch-montenegrinischer
Staatsangehörigkeit. Die Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern der minderjährigen Kläger zu 3 bis
7. Der Kläger zu 1 reiste erstmalig am 18. Mai 1993 in die Bundesrepublik Deutschland ein
und beantragte erfolglos Asyl. Am 14. Juli 1999 stellte er einen Asylfolgeantrag, der seit dem
14. Mai 2002 unanfechtbar abgelehnt ist. Die Kläger zu 2 bis 7, die am 15. Juli 1999 in die
Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, stellten am 22. Juli 1999 einen Asylantrag. Auch
dieser ist seit dem 28. Oktober 2004 unanfechtbar abgelehnt. Seit unanfechtbarer Ablehnung
der Asylanträge sind die Kläger im Besitz von Duldungen der Ausländerbehörde. Seit Juli
1999 beziehen sie Grundleistungen nach den §§ 3 ff AsylbLG.
3 Am 14. Februar 2006 beantragten die Kläger die Gewährung von Analog-Leistungen nach § 2
Abs 1 AsylbLG. Der Beklagte lehnte Analog-Leistungen mit der Begründung ab, die Kläger
hätten die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst, weil in ihrem Fall
eine freiwillige Rückkehr ins Heimatland möglich und auch zumutbar sei (Bescheid vom 2.
März 2006; Widerspruchsbescheid vom 11. April 2006). Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat
den Bescheid vom 2. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April
2006 aufgehoben und den Beklagten "dem Grunde nach verurteilt, den Klägern ab
Antragstellung Leistungen nach § 2 Abs 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes zu gewähren"
(Urteil vom 24. Juli 2006). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die
Berufung des Beklagten "mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte verurteilt wird,
den Klägern ab 14. Februar 2006 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren" (Urteil vom 22.
November 2007). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Beklagte
habe unabhängig von der Leistungsgewährung als solcher eine Regelung über die fehlende
Leistungsberechtigung nach § 2 AsylbLG auf Dauer im Sinne einer Vorabentscheidung
getroffen. Die Kläger hätten die Dauer ihres Aufenthalts nicht selbst rechtsmissbräuchlich
beeinflusst. Zwar falle hierunter auch eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv
vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein
Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erhalten habe, ein
Rechtsmissbrauch liege aber nicht vor, wenn die Ausreise in das Herkunftsland unzumutbar
sei. Den Klägern zu 3 bis 7 sei die Ausreise unzumutbar, weil sie aufgrund ihres Alters im
Wesentlichen durch die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet sozialisiert und an das
Heimatland noch bestehende Bindungen bei ihnen nicht ersichtlich seien. Eine vergleichbare
Inlandsintegration der Kläger zu 1 und 2 liege zwar nicht vor. Gleichwohl sei auch ihnen die
Ausreise unzumutbar, da sie ansonsten entweder ihre minderjährigen Kinder in Deutschland
zurücklassen oder zum unzumutbaren Weggang in das Kosovo zwingen müssten.
4 Mit der Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 2 Abs 1 AsylbLG. Er ist der Ansicht,
ein langjähriger Aufenthalt in Deutschland und der erlangte Integrationsgrad führten allein
nicht dazu, dass der Ausländer gegen aufenthaltsverändernde Maßnahmen geschützt sei und
deshalb im Ergebnis einen Anspruch auf Legalisierung des Aufenthaltes habe. Neben der
Integration in die deutschen Verhältnisse und der Entfremdung vom Heimatstaat verlange die
verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung grundsätzlich eine aufenthaltsrechtliche
Verankerung, die in den Fällen bloßer Duldung regelmäßig nicht erfüllt sei. Die von der
Rechtsprechung des BSG geforderte besondere Integration in die deutschen
Lebensverhältnisse liege unter diesen Voraussetzungen nicht vor.
5 Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
6 Die Kläger haben schriftsätzlich beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 Sie halten die Entscheidung des LSG für zutreffend.
8 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil
einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ).
Entscheidungsgründe
9 Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der
Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Mangels
ausreichender tatsächlicher Feststellungen (§ 163 SGG) kann der Senat nicht entscheiden,
ob den Klägern höhere Leistungen, insbesondere Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG,
zustehen.
10 Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 2. März 2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11. April 2006 (§ 95 SGG). Mit diesem Bescheid hat der
Beklagte Leistungen nach § 2 AsylbLG abgelehnt und verfügt, dass weiterhin
Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erbracht werden. Hiergegen wehren sich die Kläger mit
kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG),
gegebenenfalls jedoch auch mit kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und
Leistungsklagen für den Fall, dass sich die Überprüfung von Leistungsbewilligungen an §§
44, 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz
- (SGB X) messen sollte. Die richtige Klageart ist davon abhängig, ob vor Erlass des
angegriffenen Bescheides Leistungen durch - gegebenenfalls konkludenten Bescheid (§ 33
Abs 2 Satz 1 SGB X) -, auf Dauer oder zeitlich begrenzt, oder aber Leistungen ohne
Bescheid ausgezahlt wurden. Feststellungen des LSG hierzu fehlen, weil es von einem
Grundlagenbescheid ausgegangen ist, mit dem unabhängig von der aktuellen
Leistungsgewährung eine hiervon abtrennbare Entscheidung über die Leistungsversagung
nach § 2 AsylbLG auf Dauer im Sinne einer Vorabentscheidung getroffen worden sei, der
(bestandskräftige) Bescheide über die Leistungsgewährung nach § 3 AsylbLG nicht
entgegenstünden.
11 Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. Eine sogenannte Vorabentscheidung ermöglicht
eine hoheitliche Entscheidung über eine grundlegende Frage des Sozialrechtsverhältnisses,
etwa das verbindliche Bejahen oder Verneinen bestimmter Elemente eines zukünftigen
Anspruchs oder Rechtsverhältnisses, schon vor der Entstehung des Anspruchs bzw des
Rechtsverhältnisses (BSG SozR 3-1300 § 39 Nr 7 S 10 f; BVerwG Buchholz 436.0 § 120
BSHG Nr 17). Wird aber eine Leistung mangels Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen
abgelehnt, wird nicht vorab über eine Frage, sondern endgültig über den Anspruch
entschieden. Ein Verwaltungsakt, mit dem die Leistung abgelehnt wird, besitzt zudem keine
Dauerwirkung (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 12/06 R - RdNr 8 mwN).
Allerdings hat der Beklagte mit dem angegriffenen Bescheid auch "weiterhin
Grundleistungen nach § 3 AsylbLG" bewilligt, sodass der Bescheid vom 2. März 2006 nicht
nur eine Ablehnung, sondern auch eine Bewilligung auf Dauer enthält. Dies bedeutet, dass
in der Folgezeit gegebenenfalls ergangene Bescheide, die diesen Bescheid abgeändert
oder ersetzt haben, Gegenstand des Vorverfahrens nach § 86 SGB X oder des
Gerichtsverfahrens nach § 96 SGG geworden sind (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b
AY 1/07 R - RdNr 13). Das LSG wird dies näher zu prüfen und gegebenenfalls zu beachten
haben, ob der Antrag vom 14. Februar 2006 auch als Widerspruch gegen einen noch nicht
bestandskräftigen Bewilligungsbescheid zu verstehen ist.
12 In der Sache handelt es sich vorliegend um eine Klage auf höhere Leistungen, selbst wenn
kein typischer Höhenstreit vorliegt, weil Analog-Leistungen regelmäßig in Form von
Geldleistungen in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht werden und Leistungen
nach §§ 3 ff AsylbLG grundsätzlich als Sachleistungen vorgesehen sind (vgl dazu näher
Senatsurteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R).
13 Ob, wie das LSG entschieden hat, den Klägern Ansprüche auf höhere Leistungen nach dem
AsylbLG, insbesondere nach § 2 Abs 1 AsylbLG iVm dem SGB XII, gegen den für die
Leistung zuständigen Beklagten (vgl § 2 Abs 1 Flüchtlingsaufnahmegesetz iVm § 2
Abs 2 Nr 3 und Abs 4 FlüAG sowie § 13 Abs 1 Nr 1 Landesverwaltungsgesetz Baden-
Württemberg) zustehen, kann der Senat nicht abschließend entscheiden, weil das LSG -
ausgehend von seiner Rechtsansicht zu § 2 AsylbLG, die vom Senat nicht geteilt wird - keine
ausreichenden Feststellungen zu den vom Senat für erforderlich gehaltenen
Voraussetzungen des § 2 Abs 1 AsylbLG (hier idF, die die Norm durch das Gesetz zur
Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der
Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30. Juli 2004 - BGBl I 1950 - erhalten
hat) getroffen hat. Danach ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf
diejenigen Leistungsberechtigten (des § 1 AsylbLG) entsprechend anzuwenden, die über
eine Dauer von insgesamt 36 Monaten (bzw ab 28. August 2007 von 48 Monaten; Art 6 Abs
2 Nr 2 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union vom 19. August 2007 - BGBl I 1970) Leistungen nach § 3 AsylbLG
erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
Gegebenenfalls misst sich die Begründetheit der Revision dabei zusätzlich an § 48 Abs 1
Satz 1 SGB X oder § 44 SGB X (vgl zu dessen Anwendung das Senatsurteil vom 17. Juni
2008 - B 8 AY 5/07 R), wenn für den streitigen Zeitraum frühere (bestandskräftige)
Bewilligungsbescheide abgeändert worden wären.
14 Die Kläger gehören zum Kreis der Leistungsberechtigten nach § 1 Abs 1 Nr 4 AsylbLG; sie
halten sich als Ausländer tatsächlich im Bundesgebiet auf und sind im Besitz einer Duldung
nach § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Alle Kläger erhielten vor dem streitigen Zeitraum
für mindestens 36 Monate (bzw ab 28. August 2007 48 Monate) Leistungen nach § 3
AsylbLG. Ob allerdings die Kläger ihre Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik Deutschland
selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben, kann nicht beurteilt werden. Entgegen der
Entscheidung des LSG, das der Rechtsprechung des 9b-Senats des BSG (SozR 4-3520 § 2
Nr 1) gefolgt ist, handelt ein Leistungsempfänger nämlich nicht schon dann
rechtsmissbräuchlich, wenn er trotz des auf Grund der Duldung bestehenden
Abschiebeverbots nicht freiwillig ausreist und hierfür keine anerkennenswerten Gründe
vorliegen. Vielmehr ist ein über das bloße Verbleiben hinausgehendes vorsätzliches
Verhalten erforderlich (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R). Entsprechendes
gilt für das Stellen eines Asylfolgeantrages, weil insoweit nur ein Recht in Anspruch
genommen wird, welches Verfassungsrang besitzt. Zudem erfasst § 2 AsylbLG alle
Leistungsberechtigten, also auch den Folgeantragsteller nach § 71 Asylverfahrensgesetz
(AsylVfG) - § 1 Abs 1 Nr 7 AsylbLG -, sodass allein ein Asylfolgeantrag ohne hinzutretendes,
auf die Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes gerichtetes rechtsmissbräuchliches
Verhalten, nicht zum Ausschluss von Analog-Leistungen führt. Die Umstände des
Folgeantrages und des sich anschließenden Verfahrens sind nicht bekannt. Dies wird das
LSG gegebenenfalls zu ermitteln haben.
15 Entgegen der Rechtsprechung des früheren 9b-Senats, die vom erkennenden Senat
aufgegeben worden ist, kann ein etwaiger Missbrauchsvorwurf auch nicht durch eine
zwischenzeitliche Integration - wie vom LSG angenommen - ausgeräumt werden. Ob das
vorwerfbare Verhalten die Aufenthaltsdauer beeinflusst hat, ist vielmehr unter
Berücksichtigung der gesamten Zeit zu beurteilen, die nach dem maßgeblichen
Fehlverhalten verstrichen ist (BSG aaO). Dass dabei ein Fehlverhalten der Eltern den
Kindern nicht zugerechnet wird (BSG aaO), ist vorliegend ohne Bedeutung, weil nach § 2
Abs 3 AsylbLG minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer
Haushaltsgemeinschaft leben, Analog-Leistungen ohnedies nur erhalten, wenn mindestens
ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Analog-Leistungen erhält.
16 Der Senat kann auch deshalb - abgesehen davon, dass das LSG keine Feststellungen zur
Bedürftigkeit der Kläger (§§ 3, 7 AsylbLG bzw § 2 AsylbLG iVm §§ 19, 82 ff SGB XII)
getroffen hat - nicht abschließend in der Sache entscheiden, weil nicht beurteilt werden
kann, ob den Klägern - unterstellt, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 AsylbLG sind zu
bejahen - überhaupt noch weitere Leistungen zustehen. Hierzu muss das LSG - da die
Beteiligten in der Sache um die Höhe der Leistungen streiten - den Umfang der nach §§ 3 ff
AsylbLG im streitigen Zeitraum an jeden einzelnen Kläger insgesamt erbrachten Leistungen
ermitteln. Der Wert der erbrachten Leistungen ist dann von den nach § 2 AsylbLG iVm dem
SGB XII dem jeweiligen Kläger zustehenden Leistungen in Abzug zu bringen. Dabei sind
allerdings nur vergleichbare Leistungen einzubeziehen; unschädlich ist es, wenn nach den
§§ 3 ff AsylbLG Einmalleistungen erbracht sein sollten, die nach dem SGB XII durch
Pauschalen (uU den Regelsatz) abgegolten würden (Senatsurteil vom 17. Juni 2008 - B 8
AY 5/07 R). Gegebenenfalls ist jedoch darauf zu achten, dass nicht mehr bestehende
Bedarfe nicht mehr zu decken sind (so genannter Aktualitätsgrundsatz). Vergleichbare
Leistungen im bezeichneten Sinne sind zB nicht Leistungen bei Krankheit (§ 4 AsylbLG),
weil bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs 1 AsylbLG Leistungen nach § 264 Abs
2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) von der
zuständigen Krankenkasse zu erbringen wären; diese Leistungen wären mithin nicht
Bestandteil der den Klägern nach den Vorschriften des SGB XII zu erbringenden Leistungen.
Soweit den Klägern Analog-Leistungen nicht zustehen sollten, wird das LSG zu prüfen
haben, ob ihnen höhere Grundleistungen zustehen.
17 Das LSG wird gegebenenfalls auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu
entscheiden haben.