Urteil des BSG vom 07.09.2010

BSG: berufliche eignung, krankengeld, rehabilitation, unfallversicherung, arbeitsentgelt, ersatzkasse, anwendungsbereich, behinderung, entstehungsgeschichte, gesetzesentwurf

Bundessozialgericht
Urteil vom 07.09.2010
Sozialgericht Speyer S 9 R 952/06
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 4 R 256/07
Bundessozialgericht B 5 R 16/08 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. November 2007
aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 23. Februar 2007 wird
zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungs- und Revisions-verfahrens zu
erstatten.
Gründe:
I
1
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zahlung von Übergangsgeld für einen weiteren Tag im Oktober 2005.
2
Die Beklagte gewährte dem 1949 geborenen Kläger, der für die Zeit vom 1.10.2005 bis 18.10.2005 Krankengeld von
der Gmünder Ersatzkasse erhalten hatte, vom 19.10.2005 bis 9.11.2005 eine stationäre Leistung zur medizinischen
Rehabilitation und bewilligte ihm mit Bescheid vom 24.11.2005 für die Dauer dieser Leistung Übergangsgeld in Höhe
von kalendertäglich 28,02 Euro. Mit Schreiben vom 21.12.2005 wies die Beklagte erläuternd darauf hin, dass für jeden
Kalendermonat unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Tage 30 Kalendertage berechnet würden. Das für die
Zeit vom 19.10.2005 bis 9.11.2005 bewilligte Übergangsgeld erfasse 21 Tage und belaufe sich damit bei täglich 28,02
Euro auf insgesamt 588,42 Euro. Mit Bescheid vom 9.1.2006 nahm die Beklagte den Bescheid vom 24.11.2005
zurück und gewährte erneut Übergangsgeld für die Zeit vom 19.10.2005 bis 9.11.2005 in Höhe von kalendertäglich
28,02 Euro. Den Widerspruch des Klägers wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 17.7.2006 als unbegründet zurück.
Der Kläger habe vom 1.10. bis 18.10.2005 Krankengeld bezogen. Damit könne das Übergangsgeld nach § 45 Abs 8
SGB IX für den Monat Oktober 2005 nur noch für 12 Tage gezahlt werden, weil der Kalendermonat mit 30 Tagen
angesetzt werde, wenn Leistungen für einen ganzen Kalendermonat gezahlt würden.
3
Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das SG Speyer die Beklagte verurteilt, dem Kläger weitere 28,02 Euro
Übergangsgeld zu zahlen (Urteil vom 23.2.2007). Nach Zulassung der Berufung (Beschluss vom 25.6.2007) hat das
LSG Rheinland-Pfalz das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 28.11.2007). Zur
Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: § 45 Abs 8 SGB IX sei entgegen der Ansicht des SG auch
dann anzuwenden, wenn "gemischte Leistungen" - wie hier Krankengeld und Übergangsgeld - in einem Kalendermonat
an verschiedenen Kalendertagen gezahlt würden. Anderenfalls könnten Versicherte, die zwei verschiedene
Lohnersatzleistungen iS von § 45 Abs 8 Halbs 1 SGB IX im selben Kalendermonat bezögen, für einen Kalendertag
mehr Zahlungen erhalten als Versicherte, denen nur eine der Leistungen des § 45 Abs 8 SGB IX gewährt werde. Für
das vertretene Normverständnis spreche auch die Entstehungsgeschichte, wonach die Regelung das Verfahren
gerade erleichtern solle, wenn verschiedene Leistungen zusammenträfen. Der Normierung des SGB IX habe die
gesetzgeberische Absicht zu Grunde gelegen, ein gemeinsames Recht für alle Bereiche der Rehabilitation zu
schaffen und bis dahin unterschiedlich gewährte Leistungen aus verschiedenen Bereichen zu harmonisieren. Ein
Auslegungsergebnis im dargelegten Sinne ergebe sich des Weiteren unter Berücksichtigung der Berechnung des
Übergangsgeldes. Denn nach § 47 Abs 1 Satz 3 SGB IX sei das laufende Arbeitsentgelt unabhängig von der Anzahl
der Kalendertage im konkreten Monat durch 30 zu teilen.
4
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 45 Abs 8 SGB IX. Aus dem Wortlaut
der Vorgängervorschrift, des § 13 Abs 5 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation, dem
Gesetzesentwurf zum SGB IX und dem in § 45 Abs 8 Halbs 2 SGB IX zum Gesetz gewordenen Willen des
Gesetzgebers lasse sich nicht ergründen, ob § 45 Abs 8 SGB IX auch beim Zusammentreffen mehrerer der im ersten
Halbsatz genannten Leistungsarten anwendbar sein solle. Die Auslegung des LSG widerspreche zudem dem Ziel der
Arbeitserleichterung und der Verwaltungsvereinfachung. Eine Bevorteilung von Versicherten mit unterschiedlichen
Sozialleistungen im selben Kalendermonat gegenüber Versicherten, die nur eine der Leistungen des § 45 Abs 8 Halbs
1 SGB IX bezögen, könne nicht entstehen. Ebenso wenig spreche der gesetzgeberische Wille zur Harmonisierung für
die vom LSG vertretene "weitere Leistungseinschränkung". Schließlich habe die Auffassung des Berufungsgerichts
eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Stundenlöhnern und Beziehern von Monatsgehältern zur Folge.
5
Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. November 2007 aufzuheben und
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 23. Februar 2007 zurückzuweisen.
6
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
7
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II
8
Die Revision des Klägers ist begründet.
9
Das LSG hat zu Unrecht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das SG hat im Ergebnis
zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Übergangsgeld für einen weiteren Tag im Oktober 2010 bejaht.
10
Dem Kläger steht für die Dauer der Leistung zur Teilhabe vom 19.10.2005 bis 9.11.2005 gemäß § 45 Abs 1 Nr 3 SGB
IX iVm § 20 SGB VI gegen die Beklagte ein Anspruch auf Übergangsgeld zu. Gemäß § 45 Abs 8 Halbs 1 SGB IX
iVm § 21 Abs 1 SGB VI hat die Beklagte das Übergangsgeld für jeden Kalendertag der Teilhabeleistung im Oktober
2005 und damit für insgesamt 13 und nicht nur für 12 Kalendertage zu zahlen. Die Regelung des § 45 Abs 8 Halbs 2
SGB IX iVm § 21 Abs 1 SGB VI ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar.
11
Nach § 45 Abs 8 SGB IX werden das Krankengeld, das Versorgungskrankengeld, das Verletztengeld und das
Übergangsgeld für Kalendertage gezahlt (Halbs 1), wobei der Kalendermonat mit 30 Tagen angesetzt wird, wenn die
Leistung für einen ganzen Kalendermonat gezahlt wird (Halbs 2). Die genannten Leistungen zum Lebensunterhalt
werden nur dann von § 45 Abs 8 SGB IX erfasst, wenn sie im Zusammenhang mit einer Teilhabeleistung oder einer
dieser gleichgestellten Leistung erbracht werden. Dies ergibt sich sowohl unter Berücksichtigung des
Anwendungsbereichs des SGB IX als auch aus systematischen Erwägungen.
12
Die Vorschriften des SGB IX gelten nur für Leistungen zur Teilhabe (vgl § 7 Satz 1 SGB IX). Dementsprechend
bestimmt § 45 Abs 1 SGB IX, dass im Zusammenhang mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation die
gesetzlichen Krankenkassen Krankengeld (Nr 1), die Träger der Unfallversicherung Verletztengeld (Nr 2), die Träger
der Rentenversicherung Übergangsgeld (Nr 3) und die Träger der Kriegsopferversorgung Versorgungskrankengeld (Nr
4) leisten. Gemäß § 45 Abs 2 SGB IX leisten die Träger der Unfallversicherung (Nr 1), die Träger der
Rentenversicherung (Nr 2), die Bundesagentur für Arbeit (Nr 3) und die Träger der Kriegsopferfürsorge (Nr 4) im
Zusammenhang mit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Übergangsgeld. § 45 Abs 3 SGB IX begründet für
Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen einen Anspruch auf Übergangsgeld "wie" bei Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben für den Zeitraum, in dem die berufliche Eignung abgeklärt oder eine Arbeitserprobung
durchgeführt wird (§ 33 Abs 4 Satz 2 SGB IX), falls sie wegen der Teilnahme kein oder ein geringeres Arbeitsentgelt
oder Arbeitseinkommen erzielen. § 45 Abs 8 SGB IX ist eine Berechnungsvorschrift für die in den Abs 1 bis 3
genannten Leistungen. Hierfür spricht, dass die Regelung Teil des § 45 SGB IX ist.
13
Dass der Kläger in der Zeit vom 1.10. bis 18.10.2005 von der Gmünder Ersatzkasse Krankengeld im Zusammenhang
mit einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation erhalten hat, ist vom LSG nicht festgestellt worden und auch
sonst nicht ersichtlich. Das vom Kläger im Oktober 2005 bezogene Krankengeld fällt damit nicht in den
Anwendungsbereich des § 45 Abs 8 SGB IX, sodass ihm schon aus diesem Grund keine Leistung im Sinne des
Halbs 2 für einen ganzen Kalendermonat gezahlt worden ist. Mangels Anwendbarkeit des § 45 Abs 8 Halbs 2 SGB IX
verbleibt es bei der Berechnungsvorschrift des § 45 Abs 8 Halbs 1 SGB IX, wonach das Übergangsgeld, das dem
Kläger im Zusammenhang mit einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation gezahlt worden ist, für jeden
Kalendertag der Maßnahme zu leisten ist. Angesichts dieser Rechtslage kommt es auf die zwischen den Beteiligten
streitige Frage, ob § 45 Abs 8 Halbs 2 SGB IX auf das Zusammentreffen mehrerer der dort genannten Leistungen
anwendbar ist, nicht an.
14
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG; sie enthält auch die Kostenentscheidung für das
Beschwerdeverfahren vor dem LSG, das zur Zulassung der Berufung geführt hat (vgl BSG SozR 1500 § 193 Nr 7).