Urteil des BSG vom 08.09.2010

BSG: umkehr der beweislast, verteilung der beweislast, autonome satzung, grobe fahrlässigkeit, anschrift, arbeitsamt, verwaltungsakt, meldung, beweismittel, wohnsitzwechsel

Bundessozialgericht
Urteil vom 08.09.2010
Sozialgericht Frankfurt S 15 AL 688/01
Hessisches Landessozialgericht L 7 AL 265/05
Bundessozialgericht B 11 AL 4/09 R
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des hessischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 2008
aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen.
Gründe:
I
1
Die Beteiligten streiten über die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) und die Erstattung
der überzahlten Leistungen (einschließlich Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen) im Zeitraum vom 1.3.1998 bis
17.1.1999 in Höhe von insgesamt 23 446,35 DM = 11 987,93 Euro.
2
Die 1941 geborene Klägerin stand bei der Beklagten seit 4.8.1997 im Alg-Bezug (Bescheid vom 1.10.1997). In ihrem
Antrag auf Alg vom 4.8.1997 hatte sie als Wohnanschrift die Adresse "H. -Straße " in O. angegeben.
3
Ein Änderungsbescheid und ein Leistungsnachweis vom 8.1.1999 gelangten bei der Beklagten am 18.1.1999 mit dem
Postvermerk "unbekannt verzogen" in den Postrücklauf. Die Beklagte stellte daraufhin die Zahlung von Alg ein. Der
Bescheid vom 22.1.1999 über die Aufhebung der Bewilligung ab 18.1.1999 sowie ein weiterer Leistungsnachweis vom
26.1.1999 kamen ebenfalls mit dem Postvermerk "unbekannt verzogen" in den Postrücklauf (Retourpost vom
26.1.1999 und vom 5.2.1999).
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Am 2.2.1999 meldete sich die Klägerin unter der Wohnanschrift "W. straße " in O. erneut arbeitslos und beantragte die
Fortzahlung von Alg, welches die Beklagte ab diesem Tag wiederbewilligte (Bescheid vom 16.2.1999). An diese
Anschrift versandte die Beklagte erneut den Aufhebungsbescheid vom 22.1.1999 und den Leistungsnachweis vom
26.1.1999. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie sei bereits zum 1.3.1998 von der H. -Straße in die
W. straße umgezogen und habe dies dem zuständigen Sachbearbeiter L. mitgeteilt. Nachdem dieser die Angaben der
Klägerin auf telefonische Nachfrage der Beklagten nicht bestätigte, hob die Beklagte die Bewilligung von Alg ab
1.3.1998 mit der Begründung auf, die Klägerin sei postalisch nicht erreichbar gewesen, und verfügte die Erstattung der
überzahlten Leistungen in Höhe von 23 446,35 DM (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 31.1.2000,
Widerspruchsbescheid vom 8.5.2000).
5
Die Klage mit der Begründung, die neue Anschrift sei dem Sachbearbeiter L. bei der Meldung am 9.4.1998 mitgeteilt
worden, blieb erfolglos (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts (SG) vom 26.9.2005). Die Berufung der Klägerin hat das
Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Auf der Grundlage des § 48
Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) habe die Beklagte die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Alg zu
Recht verfügt, da die Klägerin unter der von ihr benannten Anschrift "H. -Straße " in O. ab dem 1.3.1998 nicht mehr
erreichbar gewesen sei. Die Klägerin sei daher ab 1.3.1998 nicht verfügbar gewesen. Unerheblich sei, ob die Klägerin,
wie sie behauptet habe, einen Postnachsendeauftrag gestellt habe. Dass sie ihren Umzug der Beklagten rechtzeitig
persönlich mitgeteilt habe, lasse sich nicht feststellen. Die Zeugin P., die tatsächlich den Beratungstermin am
9.4.1998 betreut habe, habe keine Erinnerung an die Klägerin. Der von der Klägerin als Zeuge benannte
Arbeitsvermittler L. habe mangels Verhandlungsfähigkeit nicht befragt werden können. Seine Vernehmung sei darüber
hinaus auch entbehrlich gewesen, weil er sich, wie die Klägerin im Verhandlungstermin am 8.8.2008 angegeben habe,
nach seiner Erklärung ihr gegenüber im Sommer 2007 an die damaligen Vorgänge nicht mehr habe erinnern können.
Da die Pflicht zur Unterrichtung über einen Umzug allein in die Sphäre des Arbeitslosen falle, komme eine Umkehr der
Beweislast in Betracht, sodass dieser eine nicht aktenkundige Unterrichtung nachweisen müsse. Dies gelte jedenfalls
in den Fällen, in denen sich - wie vorliegend - über die reine Behauptung des Arbeitslosen, eine mündliche Mitteilung
gemacht zu haben hinaus, keinerlei weitere Anhaltspunkte aus den Akten ergeben würden (Urteil vom 19.12.2008).
6
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes und von
Beweislastregeln. Das LSG habe nicht auf die Vernehmung des benannten Zeugen L. verzichten dürfen. Es sei
vorgetragen und unter Beweis gestellt worden, dass sie - die Klägerin - anlässlich ihrer Vorsprache am 9.4.1998 auf
dem undatierten Meldeaufforderungsschreiben der Beklagten im Adressfeld handschriftlich die neue Adresse vermerkt
und dieses Schreiben mit diesem Vermerk dem zuständigen Sachbearbeiter vorgelegt habe. Sie sei ihrer
Verpflichtung zur Angabe vollständiger Angaben und Mitteilung ihrer Wohnsitzänderung nachgekommen. In welcher
Form die Beklagte die Wohnanschriftenänderung zur Kenntnis nehme und in ihren Unterlagen vermerke, sei deren
alleinige Angelegenheit und liege daher auch allein in deren Sphäre.
7
Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG vom 19. Dezember 2008 und den Gerichtsbescheid des SG vom 26.
September 2005 sowie die Bescheide der Beklagten vom 22. Januar 1999 und 31. Januar 2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 2000 aufzuheben.
8
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
9
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
10
Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
11
Ob die Beklagte zu Recht die Bewilligung des Alg wegen fehlender Erreichbarkeit (hierzu unter 2) aufgehoben und die
überzahlten Leistungen zurückgefordert hat, lässt sich nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht
abschließend beantworten. Insoweit hat die Klägerin in einer den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG noch
entsprechenden Weise zutreffend gerügt, dass das LSG die zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten nicht
ausgeschöpft und zuungunsten der Klägerin eine Beweislastumkehr angenommen hat (hierzu unter 3).
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1. Gegenstand des Verfahrens sind der Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 22.1.1999, der Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid vom 31.1.2000 sowie der Widerspruchsbescheid vom 8.5.2000. Bei verständiger Würdigung
ihres Begehrens (vgl § 123 SGG) richtete sich der Widerspruch der Klägerin gegen den Leistungsnachweis vom
26.1.1999 unmissverständlich gegen die Leistungseinstellung, die die Beklagte mit dem Aufhebungsbescheid vom
22.1.1999 verfügt hatte. Demgemäß hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Termin vom 8.9.2010 seinen
Sachantrag präzisiert. Das LSG wird nach der Zurückverweisung der Sache folglich zu beachten haben, dass der
Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 31.1.2000 über § 86 SGG idF bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vom
17.8.2001 (BGBl I 2144) in das Vorverfahren gegen den Bescheid vom 22.1.1999 einbezogen ist (zur weiten
Auslegung und entsprechenden Anwendung der korrespondierenden Vorschrift des § 96 SGG idF bis zum
Inkrafttreten des Gesetzes vom 26.3.2008, BGBl I 444, auf weitere Aufhebungsbescheide, in denen "im Kern über
dieselben Rechtsfragen" entschieden wurde vgl BSGE 77, 175 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2). Die Klägerin wendet sich
also mit ihrer Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) sowohl gegen die von der Beklagten verfügte Aufhebung der
Bewilligung ab dem 18.1.1999 als auch gegen die spätere Aufhebung ab dem 1.3.1998 (bis einschließlich 1.2.1999),
die von der Beklagten geltend gemachte Erstattung betreffend den Zeitraum vom 1.3.1998 bis einschließlich
17.1.1999 und zudem die Nichtzahlung von Alg im Zeitraum vom 18.1.1999 bis 1.2.1999 (zur Möglichkeit der
Beschränkung des Streitgegenstands vgl BSG, Urteil vom 17.11.2005 - B 11a/11 AL 55/04 R).
13
2. Dem LSG ist darin zu folgen, dass Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Alg-Bewilligung § 330 Abs 3
Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) iVm § 48 Abs 1 SGB X ist. Da der angefochtene Bescheid vom 31.1.2000
lediglich weitere Leistungszeiträume betrifft und nicht etwa während des Widerspruchsverfahrens den
Ausgangsbescheid zu Ungunsten der Klägerin abgeändert hat, kann offen bleiben, ob insoweit § 45 SGB X
anzuwenden wäre (vgl BSGE 71, 274 = SozR 3-1500 § 85 Nr 1). Nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Mit Wirkung
vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse ist der Verwaltungsakt nach § 330 Abs 3 Satz 1 SGB III iVm § 48 Abs
1 Satz 2 Nr 2 SGB X aufzuheben, wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur
Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht
nachgekommen ist. Maßgebend für die Dauerwirkung eines Verwaltungsaktes sind seine rechtlichen Wirkungen über
den Zeitpunkt der Bekanntgabe bzw Bindungswirkung hinaus. Die Bewilligung von Alg enthält einen solchen
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (BSGE 78, 109, 111 = SozR 3-1300 § 48 Nr 48 mwN). Wesentlich iS des § 48 Abs
1 Satz 1 SGB X ist jede für die bewilligte Leistung rechtserhebliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnisse, die dazu führt, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den
Verwaltungsakt nicht mehr erlassen dürfte (BSGE 59, 111, 112 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSGE 78, 109, 111 = SozR
3-1300 § 48 Nr 48). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen richtet sich damit nach dem
für die Leistung maßgeblichen materiellen Recht.
14
a) Der Klägerin stand deshalb für die Zeit ab 1.3.1998 ein Anspruch auf Alg nicht mehr zu, wenn sie die
Anspruchsvoraussetzung "arbeitslos" nach § 117 Abs 1 Nr 1 SGB III idF des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes
(AFRG) vom 24.3.1997, BGBl I 594, nicht mehr erfüllte. Was unter "arbeitslos" im Sinne des Gesetzes zu verstehen
ist, hat der Gesetzgeber in der "Begriffspyramide" der §§ 118, 119 SGB III idF des Ersten SGB III-
Änderungsgesetzes vom 16.12.1997, BGBl I 2970, geregelt (BSGE 88, 172, 175 = SozR 3-4300 § 119 Nr 3).
Arbeitslosigkeit setzt danach neben Beschäftigungslosigkeit auch eine Beschäftigungssuche des Arbeitslosen voraus
(§ 118 Abs 1 SGB III). Eine Beschäftigung sucht nach § 119 Abs 1 SGB III, wer alle Möglichkeiten nutzt und nutzen
will, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden, und den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur
Verfügung steht (Verfügbarkeit). Merkmal der Verfügbarkeit ist ua die Arbeitsfähigkeit des Arbeitslosen (§ 119 Abs 2
SGB III), die ua nur dann gegeben ist, wenn der Arbeitslose den Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen
Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf (§ 119 Abs 3 Nr 3 SGB III). Diese
Anspruchsvoraussetzung hat der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit (jetzt Bundesagentur für Arbeit, (BA))
durch autonome Satzung aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung der §§ 152 Nr 2, 376 Abs 1 Satz 1 SGB III idF des
AFRG näher geregelt.
15
b) Nach § 1 Abs 1 Satz 1 Erreichbarkeitsanordnung vom 23.10.1997 ((EAO), ANBA 1997 S 1685) muss der
Arbeitslose in der Lage sein, unverzüglich Mitteilungen des Arbeitsamtes persönlich zur Kenntnis zu nehmen, das
Arbeitsamt aufzusuchen, mit möglichen Arbeitgebern oder Trägern einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme in
Verbindung zu treten und eine vorgeschlagene Arbeit anzunehmen oder an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme
teilzunehmen. Dazu hat der Arbeitslose nach § 1 Abs 1 Satz 2 EAO sicherzustellen, dass das Arbeitsamt ihn
persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der ihm benannten Anschrift
(Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Das ist nicht gewährleistet, wenn der Arbeitslose seinen Wohnsitz verlegt,
ohne dem Arbeitsamt den Wohnsitzwechsel mitzuteilen. Die Obliegenheit eines Arbeitslosen, den Wechsel des
Wohnsitzes dem Arbeitsamt mitzuteilen, ergibt sich hiernach aus § 60 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch Erstes
Buch (SGB I), wonach Leistungsbezieher für die Leistung erhebliche Änderungen in den Verhältnissen dem
zuständigen Leistungsträger unverzüglich mitzuteilen haben.
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c) Ob die Klägerin dieser Obliegenheit genügt hat, lässt sich nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht
hinreichend sicher beurteilen. Das LSG hat ausgeführt, dass die Klägerin unter der von ihr im Leistungsantrag
angegebenen Anschrift "Hermann-Steinhäuser-Straße 6" in O. ab 1.3.1998 nicht mehr erreichbar war. Zutreffend hat
es dabei zunächst klargestellt, dass ein bei der Post gestellter Nachsendeauftrag nicht ausreicht, weil arbeitslose
Leistungsbezieher die Obliegenheit trifft, dem zuständigen Arbeitsamt einen Wohnsitzwechsel (auch innerhalb
desselben Wohnortes) persönlich und unverzüglich anzuzeigen (vgl BSGE 88, 172, 178 = SozR 3-4300 § 119 Nr 3;
BSG SozR 3-4300 § 119 Nr 4) und die Klägerin im Zeitpunkt ihres Umzuges nicht zum Personenkreis der älteren
Arbeitslosen zählte, die Alg unter den erleichterten Bedingungen des § 428 SGB III beziehen (vgl zu den
diesbezüglich abgesenkten Anforderungen an die Verfügbarkeit BSGE 95, 43, 45 ff = SozR 4-4300 § 428 Nr 2). In
tatsächlicher Hinsicht durfte sich das LSG indessen nicht davon überzeugen (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), dass die
Klägerin ihren Umzug der Beklagten nicht rechtzeitig mitgeteilt hatte. Die vom LSG zugrunde gelegten Umstände, in
der Leistungsakte und in den Datenbeständen der Beklagten sei die neue Anschrift erst nach der persönlichen
Vorsprache am 2.2.1999 dokumentiert worden, die von der Beklagten versandten Bescheide und Leistungsnachweise
seien mit dem Vermerk "unbekannt verzogen" in den Postrücklauf gelangt, das von der Klägerin vorgelegte
Meldeaufforderungsschreiben sei von ihr selbst im Adressfeld abgeändert worden, die am 9.4.1998 zuständige
Beraterin G. (nach Namensänderung P.) habe den Arbeitsablauf einer Beratungssituation nachvollziehbar geschildert,
sich aber nicht an die Vorsprache der Klägerin erinnern können und der von der Klägerin benannte Zeuge L. sei nicht
verhandlungsfähig, seine Vernehmung aber auch entbehrlich gewesen, weil er eine mündlich mitgeteilte
Anschriftenänderung am 9.4.1998 nicht entgegen genommen haben könne und sich nach seinen Angaben der
Klägerin gegenüber an die damaligen Vorgänge ohnehin nicht erinnern könne, tragen diese Überzeugung nicht. Das
LSG hat nicht sämtliche Ermittlungsmöglichkeiten zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen
ausgeschöpft, insbesondere den von der Klägerin benannten Zeugen L. nicht schriftlich vernommen.
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3. Der in § 103 SGG festgelegte Untersuchungsgrundsatz verpflichtet die Tatsachengerichte, die
entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, weil das sozialgerichtliche Verfahren weder eine
subjektive Beweisführungslast, noch eine objektive Beibringungsfrist für Beweismittel kennt (vgl Krasney/Udsching,
Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl. 2008, III. Kapitel, RdNr 26). Im Rahmen der Amtsermittlung
sind alle verfügbaren Erkenntnisquellen auszuschöpfen, um tatsächliche Feststellungen zu dem nach den
anzuwendenden Rechtsgrundlagen relevanten Tatsachenstoff treffen zu können. Im Rahmen der Pflicht zur
eingehenden Erforschung des Sachverhalts und nach dem Grundsatz der freien, aus dem Gesamtergebnis des
Verfahrens zu gewinnenden Überzeugung (§§ 103, 128 Abs 1 SGG) obliegt es den Tatsachengerichten, alle
Besonderheiten des konkreten Falles in tatsächlicher Hinsicht zu erfassen und zu würdigen. Erst wenn sich nach
Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten entscheidungserhebliche Tatsachen nicht mehr feststellen lassen, stellt
sich die Frage der objektiven Beweis- bzw Feststellungslast (vgl BSGE 71, 256, 258 f = SozR 3-4100 § 119 Nr 7, S
28, S 31 mwN; BSGE 96, 238, 245 = SozR 4-4220 § 6 Nr 4; BSG, Urteil vom 21.3.2007 - B 11a AL 21/06 R).
Beweisanträge binden das Gericht zwar nicht (§ 103 Satz 2 SGG), können die Amtsermittlung jedoch lenken und
steuern. Erhebliche Beweisanträge dürfen deshalb nur unberücksichtigt bleiben, wenn die in Frage stehende Tatsache
zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit
überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon
erwiesen ist, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich
ist (vgl BSG, Beschluss vom 16.3.2007 - B 11b AS 37/06 B; auch BFH, Urteil vom 27.7.2000 - V R 38/99; BFH, Urteil
vom 4.4.2001 - VI R 209/98; BFH, Beschluss vom 19.8.2003 - IX B 36/03; BFH, Beschluss vom 4.4.2006 - VII B
196/05).
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a) Hiernach hätte das LSG dem Beweisantrag der Klägerin nachkommen und den benannten Zeugen L. schriftlich
vernehmen müssen (§ 118 SGG iVm § 373 Abs 3 Zivilprozessordnung (ZPO)). Denn der Zeuge war zum anberaumten
mündlichen Verhandlungstermin am 19.12.2008 ausweislich des vorgelegten nervenärztliches Attests seiner ihn
behandelnden Psychiaterin vom 17.11.2008 zwar bis auf weiteres verhandlungsunfähig. Es bestand aber wegen der
attestierten Verhandlungsunfähigkeit keine Vernehmungsunfähigkeit im Übrigen. Zu Unrecht hat das LSG den Zeugen
deshalb im Ergebnis als unerreichbares Beweismittel bewertet unabhängig davon, ob und mit welcher zeitlichen
Prognose die Verhandlungsunfähigkeit durch amtsärztliches Attest hätte belegt werden müssen (vgl hierzu BGH NStZ
2003, 562) und die attestierte Dauer der Verhandlungsunfähigkeit von der Revision insoweit substanziiert angegriffen
worden ist.
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b) Das LSG durfte von der Vernehmung des Zeugen L. zu dem Beweisthema auch nicht deshalb Abstand nehmen,
weil es sich um eine Ermittlung auf unzureichender Tatsachenbasis gehandelt hätte, zu der die Gerichte nicht
verpflichtet sind. Die Ablehnung des Beweises für beweiserhebliche Tatsachen ist insoweit nur zulässig, wenn die
Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann oder wenn die
Bezeichnung der Tatsachen zwar in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet, gleichwohl aber
nur auf s Geratewohl gemacht sind. Bei solchen gleichsam "ins Blaue" aufgestellten Behauptungen ist ein
Beweisantrag rechtsmissbräuchlich (vgl dazu BSGE 77, 140, 144 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 12; BSGE 87, 132, 138 =
SozR 3-4100 § 128 Nr 10). Nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen der Vorinstanz (§ 163 SGG) waren die
näheren Angaben der Klägerin zum Beweisthema allerdings nicht frei von Widersprüchen im Detail. Im Kern blieb
jedoch das Beweisthema erkennbar ausreichend bezeichnet, nämlich die Angabe der Wohnsitzänderung gegenüber
dem Sachbearbeiter L. bei einem der wiederholten Besuche der Klägerin im Arbeitsamt während des laufenden Alg-
Bezugs. Unabhängig davon, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf gerichtliche Anfrage mehrfach
schriftsätzlich an der Vernehmung des Zeugen L. festgehalten hatte, konnte das LSG hiernach umso weniger von
einer weiteren Beweiserhebung absehen, als die Sitzungsprotokolle nicht ausweisen, dass es, die im Termin
anwesende Klägerin im Rahmen der Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts zu den näheren Einzelheiten
persönlich befragt hätte.
20
c) Wegen des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG, hierzu zuletzt BSG SozR 4-1500 §
128 Nr 7) durfte das LSG die Vernehmung des Zeugen L. auch nicht durch die protokollierte Angabe der Klägerin
ersetzen, im Sommer 2007 habe ihr der Sachbearbeiter L. mitgeteilt, sich an die Ereignisse in den Jahren 1998 und
1999 nicht mehr erinnern zu können. Ebenso verhält es sich mit der Verwertung der im Verwaltungsverfahren von der
Beklagten beim Sachbearbeiter L. telefonisch eingeholten Auskunft. Gegen die Verwertung mittelbar erlangter
Beweistatsachen bestehen in der Regel keine rechtlichen Bedenken, wenn nicht ein Beteiligter die unmittelbare
Vernehmung des Zeugen beantragt (vgl zum Urkundenbeweis BSG, Urteil vom 17.2.1981 - 7 RAr 90/79 - nur gekürzt
abgedruckt in SozR 4100 § 119 Nr 14). Das war hier indessen der Fall. Anhaltspunkte dafür, dass eine richterliche
Vernehmung des Zeugen mit Hinweis auf die Wahrheitspflicht von vornherein völlig wertlos ist, bestehen nicht (vgl
BSG, Urteil vom 19.11.1965 - 1 RA 101/63, nur gekürzt abgedruckt in SozR Nr 74 zu § 128 SGG). Dies gilt vor allem,
weil ausweislich der vom LSG Bezug genommenen Verwaltungsakten der Beklagten zwar nicht unter dem 9.4.1998
(wie von der Klägerin angegeben), wohl aber am 12.1.1998 ein Beratungsgespräch mit L. stattgefunden hat.
21
d) Erst und nur dann, wenn sich das Tatsachengericht nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des
Sachverhalts vom Vorliegen einer entscheidungserheblichen Tatsache nicht zu überzeugen vermag, stellt sich die
Frage der Beweislastverteilung (vgl BSGE 71, 256, 258 f = SozR 3-4100 § 119 Nr 7, S 28, S 31 mwN; BSGE 96, 238,
245 = SozR 4-4220 § 6 Nr 4 RdNr 33 mwN; BSG, Urteil vom 21.3.2007 - B 11a AL 21/06 R). Für den Fall der
Nichterweislichkeit einer rechtzeitigen Umzugsmeldung der Klägerin weist der Senat vorsorglich daraufhin, dass
entgegen der Rechtsansicht des LSG keine Umkehr der Beweislast unter Berücksichtigung der sog Sphärentheorie in
Betracht zu ziehen ist.
22
Die Unerweislichkeit einer Tatsache geht grundsätzlich zu Lasten des Beteiligten, der aus ihr eine ihm günstige
Rechtsfolge herleiten will. Während denjenigen, der sich auf einen Anspruch beruft, die Beweislast für die
rechtsbegründenden Tatsachen trifft, ist derjenige, der das geltend gemachte Recht bestreitet, für die
rechtsvernichtenden, rechtshindernden oder rechtshemmenden Tatsachen beweispflichtig. Die Verteilung der
Beweislast bestimmt sich nach der für den Rechtsstreit maßgeblichen materiell-rechtlichen Norm (BSGE 6, 70, 72 f;
BSGE 71, 256, 260 = SozR 3-4100 § 119 Nr 7, S 28, S 32 mwN).
23
Bezogen auf die hier streitentscheidende Norm des § 48 Abs 1 SGB X bedeutet dies, dass die Beweis- bzw
Feststellungslast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse
gegenüber denjenigen Verhältnissen, die den ursprünglichen begünstigenden Verwaltungsakt rechtfertigten,
grundsätzlich die Behörde trägt (vgl BSGE 95, 57, 64 = SozR 4-1300 § 48 Nr 6; BSG SozR 4-1500 § 103 Nr 5; BSG,
Urteil vom 24.5.2006 - B 11a AL 49/05 R; Steinwedel in Kasseler Komm, SGB X, § 48 RdNr 22, Stand: Mai 2006;
Schütze in v Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 48 RdNr 9), weil sie den Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung
geltend macht. Zu beachten ist aber, dass die Beklagte nach diesen Grundsätzen die Beweislast allein für die
(negative) Tatsache der unterbliebenen Meldung zu tragen hätte.
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Eine Beweislastumkehr ist für bestimmte Fallgestaltungen anerkannt, in denen etwa der Gegner der beweisbelasteten
Partei den Beweis vereitelt oder erschwert oder die Beweisführung unmöglich ist, weil die zu beweisenden Tatsachen
sich im Bereich des Gegners abgespielt haben und dieser an der ihm möglichen Sachverhaltsaufklärung nicht oder
nicht rechtzeitig mitgewirkt hat (vgl insgesamt BSGE 95, 57, 64 = SozR 4-1300 § 48 Nr 6; auch BSG SozR 4-1500 §
128 Nr 5), also etwa in Konstellationen, in denen in der persönlichen Sphäre oder in der Verantwortungssphäre des
Arbeitslosen wurzelnde Vorgänge nicht mehr aufklärbar sind, dh wenn eine besondere Beweisnähe des Betroffenen
vorliegt. Die in arbeitsförderungsrechtlichen Angelegenheiten zuständigen Senate haben dies vor allem bei
unterlassenen Angaben zu Vermögenswerten bei der Antragstellung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) angenommen (BSGE
96, 238, 245f = SozR 4-4220 § 6 Nr 4; BSG, Urteil vom 24.5.2006 - B 11a AL 49/05 R; BSG, Urteile vom 13.9.2006 -
B 11a AL 13/06 R - und - B 11a AL 19/06 R; BSG, Urteil vom 21.3.2007 - B 11a AL 21/06 R; BSG, Urteil vom
28.8.2007 - B 7/7a AL 10/06 R). Diese Erwägungen sind auf die vorliegende Fallgestaltung indessen nicht übertragbar.
Denn die Frage der (unterbliebenen) Meldung einer für den Alg-Anspruch wesentlichen Änderung des Wohnsitzes
berührt die Verantwortungssphäre des Arbeitslosen wie die der BA gleichermaßen. Die Beklagte ist - wie der
vorliegende Fall zeigt - durchaus in der Lage, die Behauptung des Arbeitslosen, er habe seinen Wohnsitzwechsel
rechtzeitig angezeigt, zu überprüfen. Die Beklagte kann ihre Akten und Datenbestände auf die Stichhaltigkeit dieser
Behauptung sichten und Nachfragen an die zuständig gewesenen Abteilungen oder Sachbearbeiter richten. Dagegen
besteht darüber hinaus weder Anlass noch Grund, der Beklagten in diesem Zusammenhang eine lückenlose
Dokumentation aller Gespräche und Erklärungen mit den Leistungsempfängern bindend abzuverlangen.
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Hiervon ausgehend steht es dem LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) frei, ohne
Umkehr der Beweislast eine Meldepflichtverletzung durch die Klägerin zu bejahen, wenn es sich nach Ausschöpfung
aller Ermittlungsmöglichkeiten von einer rechtzeitigen Meldung nicht zu überzeugen vermag.
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4. Für den Fall der Meldepflichtverletzung wird das LSG die weiteren Voraussetzungen einer Aufhebung wegen einer
wesentlichen Änderung der Verhältnisse mit Wirkung für die Vergangenheit erneut zu prüfen haben, nämlich die
mindestens grobe Fahrlässigkeit und die Einhaltung der Jahresfrist nach §§ 48 Abs 4 Satz 1, 45 Abs 4 Satz 2 SGB
X.
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5. Das LSG wird außerdem abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.