Urteil des BSG vom 01.01.2004

BSG (wiedereinsetzung in den vorigen stand, eigenes verschulden, sgg, wahrung der frist, nichteinhaltung der frist, zustellung, zpo, wiedereinsetzung, klagefrist, briefkasten)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 27.5.2008, B 2 U 5/07 R
Sozialgerichtliches Verfahren - Versäumen der Klagefrist - Wiedereinsetzung -
Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten - Fristenberechnung - falscher
Eingangsstempel - Fiktion der Zustellung - Ersatzzustellung am Samstag
Leitsätze
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand scheidet aus, wenn der Prozessbevollmächtigte
durch seine Büroorganisation nicht sichergestellt hat, dass eine an einem Samstag eingehende
Sendung auch den Eingangsstempel dieses Samstags und nicht den des darauf folgenden
Werktags erhält.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem die Beklagte die
Klägerin für rückständige Unfallversicherungsbeiträge eines von ihr beauftragten
Unternehmens in die Haftung nimmt.
2 Die klagende Aktiengesellschaft ist im Baugewerbe tätig. Sie beauftragte die W. P.GmbH &
Co KG (W-KG) als Nachunternehmer mit der Erbringung von Bauleistungen. Über das
Vermögen der W-KG wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 1. Januar
2004 das Insolvenzverfahren eröffnet.
3 Nach Anhörung nahm die beklagte Berufsgenossenschaft die Klägerin mit Haftungsbescheid
vom 14. Februar 2005 wegen eines Teils der rückständigen Beiträge der W-KG in Höhe von
33.982,22 Euro in Anspruch. Den Widerspruch gegen diesen Bescheid wies sie zurück. Der
Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2005 wurde laut Postzustellungsurkunde am
Samstag, dem 24. Dezember 2005 (Heiligabend), in den Briefkasten der Kanzlei des von der
Klägerin bevollmächtigten Rechtsanwaltes eingelegt, in der sich zu diesem Zeitpunkt
niemand aufhielt.
4 Die hiergegen von dem Bevollmächtigten der Klägerin erhobene Klage ist am 27. Januar
2006 beim Sozialgericht (SG) eingegangen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom
12. Juli 2006) , das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen
(Urteil vom 26. Januar 2007) . Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist der streitige
Haftungsbescheid rechtmäßig ergangen. Die Beklagte habe einen entsprechenden Anspruch
auf der Grundlage des § 150 Abs 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) iVm § 28e Abs
3a Viertes Buch Sozialgesetzbuch.
5 Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin die Verletzung materiellen
Rechts, insbesondere von Art 3 und Art 12 des Grundgesetzes, Art 49 des Vertrags zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft sowie der §§ 168, 150 SGB VII geltend. Zweifel an
der Einhaltung der Klagefrist, mit denen sie erstmals im Revisionsverfahren konfrontiert
worden sei, seien nicht begründet. Beim Einwurf des Widerspruchsbescheides in den
Briefkasten am 24. Dezember 2005 sei die Kanzlei nicht besetzt gewesen, sodass nicht mehr
mit einem Zugang an diesem Tag habe gerechnet werden können. Sollte die Klagefrist
gleichwohl versäumt sein, müsse ihr jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gewährt werden. Der Widerspruchsbescheid sei von einer der beiden wechselseitig mit der
Postbehandlung und Fristenbearbeitung betrauten Angestellten, die in diesen Fragen
geschult, überwacht, erfahren und zuverlässig seien, erst am nächsten Werktag, dem 27.
Dezember 2005, aus dem Briefkasten genommen und mit dem aktuellen Eingangsstempel
versehen worden. Entsprechend den Weisungen der Kanzlei sei der Briefumschlag hinter den
Bescheid geheftet worden. Weiterhin sei als Fristablauf der 27. Januar 2006 sowie eine
Vorfrist für den 21. Januar 2006 und eine zweite Vorfrist für den 25. Januar 2006 eingetragen
worden. Dabei sei versehentlich der Fristberechnung nicht das Zustelldatum, sondern das
Datum des Eingangsstempels zugrunde gelegt worden. Aufgrund der bisherigen sorgfältigen
und fehlerlosen Arbeit der Angestellten habe für den bearbeitenden Rechtsanwalt bei Vorlage
der Sache keine Veranlassung bestanden, die Richtigkeit der eingetragenen Frist zu
überprüfen. Daher sei erst am 27. Januar 2006 Klage erhoben worden. Da auch das SG und
das LSG die Verfristung nicht bemerkt hätten, sei die Einhaltung der Jahresfrist des § 67 Abs
3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgrund höherer Gewalt nicht möglich gewesen.
6 Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 2007 und des
Sozialgerichts Detmold vom 12. Juli 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar
2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2005 aufzuheben.
7 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
8 Die zulässige Revision ist unbegründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht die Berufung
gegen das Urteil des SG zurückgewiesen (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG) . Allerdings war bereits
die Klage unzulässig, sodass das SG keine Sachentscheidung hätte treffen dürfen. Die
Zulässigkeit der Klage ist eine von Amts wegen auch im Revisionsverfahren zu beachtende
Prozessvoraussetzung (BSGE 10, 218, 219; 42, 212, 215; Meyer-Ladewig in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 160 RdNr 28d) .
9 Die Klage ist unzulässig, weil die Klagefrist nicht eingehalten wurde (dazu unter 1) und die
Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorliegen
(dazu unter 2).
10 1. Die Klagefrist bestimmt sich nach § 87 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGG. Sie beträgt einen Monat
nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides.
11 Der Widerspruchsbescheid wurde dem Bevollmächtigten der Klägerin am 24. Dezember
2005 durch Zustellung per Postzustellungsurkunde bekannt gegeben. Zwar muss ein
Widerspruchsbescheid nicht grundsätzlich zugestellt werden (vgl § 85 Abs 3 Satz 1 SGG) .
Wählt die Behörde jedoch den Bekanntgabeweg der Zustellung, so gelten gemäß § 85 Abs
3 Satz 2 SGG die §§ 2 bis 15 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG). Für die
Zustellung mittels Postzustellungsurkunde verweist § 3 Abs 3 VwZG (in der bis zum 31.
Januar 2006 in Kraft gewesenen, hier noch maßgebenden Fassung) auf die §§ 177 bis 181
der Zivilprozessordnung (ZPO). Danach kann, wenn in der Kanzlei (dem "Geschäftsraum")
des bevollmächtigten Rechtsanwalts niemand angetroffen wird, die Zustellung durch
Einlegen in den Briefkasten bewirkt werden (§ 180 Abs 1 ZPO) . Dass die Voraussetzungen
für eine solche Ersatzzustellung vorgelegen haben, ist durch die Zustellungsurkunde gemäß
§ 182 Abs 1 Satz 2, § 418 Abs 1 ZPO bewiesen. Ein Gegenbeweis iS des § 418 Abs 2 ZPO
wurde nicht geführt. Nach § 180 Satz 2 ZPO wird mit der Einlegung des Schriftstücks in den
Briefkasten die Zustellung fingiert. Das bedeutet, dass es für die Wirksamkeit der Zustellung
nicht darauf ankommt, ob und wann der Betroffene von dem zugestellten Schriftstück
tatsächlich Kenntnis erlangt (vgl BVerwG NJW 2007, 3222; BGH NJW 2007, 2186;
Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl 2006, § 180 RdNr 7) . Daher ist es
entgegen der Ansicht der Klägerin unerheblich, ob zum Zeitpunkt der Zustellung am 24.
Dezember 2005 noch am selben Tag mit einer Leerung des Briefkastens der Kanzlei des
Prozessbevollmächtigten gerechnet werden konnte. Die in diesem Zusammenhang von der
Klägerin in Bezug genommene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu der
Bekanntgabe einer Willenserklärung nach § 130 Bürgerliches Gesetzbuch (vgl Urteil
vom 5. Dezember 2007 - XII ZR 148/05 - NJW 2008, 843) kann nicht auf die vorliegende
Konstellation übertragen werden, da im Falle des § 130 BGB gerade keine Fiktion der
Bekanntgabe geregelt ist.
12 Gilt der Widerspruchsbescheid damit als am 24. Dezember 2005 bekannt gegeben, so
endete die Klagefrist nach § 87 Abs 1 Satz 1, § 64 Abs 2 Satz 1 SGG am Dienstag, dem 24.
Januar 2006. Fristverlängernde Tatbestände iS des § 64 Abs 3 SGG sind nicht ersichtlich.
Auch war die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides ordnungsgemäß,
sodass nicht etwa die Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG zum Tragen kommt. Der Eingang der
Klage beim SG am 27. Januar 2006 war damit verfristet.
13 2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG kommt nicht in Betracht.
Zwar kann grundsätzlich auch in der Revisionsinstanz hinsichtlich der Klagefrist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden und es können insoweit vom
Revisionsgericht auch Feststellungen getroffen werden (vgl BSG Urteil vom 12. November
1981 - 7 RAr 86/80 - Juris RdNr 18 mwN; BGHZ 7, 280, 284; BFHE 124, 487, 492 f) . Die
Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung liegen jedoch im vorliegenden Fall nicht vor.
Denn die Klägerin war nicht iS des § 67 Abs 1 SGG "ohne Verschulden“ verhindert, die
Klage fristgerecht zu erheben.
14 Ein Verschulden liegt vor, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige
Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten
sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist
und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Dabei ist das
Verschulden eines Bevollmächtigten - hier der prozessbevollmächtigten Rechtsanwälte -
dem vertretenen Beteiligten gemäß § 73 Abs 4 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO stets wie eigenes
Verschulden zuzurechnen (BSG SozR 3-1500 § 67 SGG Nr 21 S 60 mwN) . Für ein
Verschulden von Hilfspersonen gilt dasselbe dann, wenn dieses vom Bevollmächtigten
selbst zu vertreten, also als dessen eigenes Verschulden anzusehen ist. Das ist ua der Fall,
wenn die Nichteinhaltung der Frist darauf beruht, dass der Rechtsanwalt es versäumt hat,
durch eine zweckmäßige Büroorganisation, insbesondere hinsichtlich der Fristen- und
Terminüberwachung und der Ausgangskontrolle, ausreichende Vorkehrungen zur
Vermeidung von Fristversäumnissen zu treffen (BSGE 61, 213, 215 = SozR 1500 § 67 Nr 18
S 43; Curkovic in Hennig, SGG, Stand: August 2007, § 67 RdNr 21) .
15 Den Prozessbevollmächtigten trifft vorliegend ein der Klägerin zuzurechnendes
Organisationsverschulden. Grundsätzlich kann ein Rechtsanwalt die Berechnung üblicher
und in seiner Praxis häufig vorkommender Fristen sowie die Führung eines Fristkalenders
seinem gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büropersonal überlassen (BSG SozR
3-1500 § 67 Nr 10 S 27 ; BVerwG Buchholz 310 § 60 VwGO Nr 194 S 7 ; Keller in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 67 RdNr 9) . Überlässt der Anwalt die
Berechnung einer solchen Frist seinem Personal, muss er jedoch durch entsprechende
Weisungen sicherstellen, dass Fehlerquellen bei der Berechnung soweit wie möglich
ausgeschlossen sind. Diesen Anforderungen hat die Büroorganisation in der Praxis des
Bevollmächtigten der Klägerin nicht entsprochen.
16 Nach dem Revisionsvorbringen erhielt der erkennbar am 24. Dezember 2005 in den
Briefkasten der Kanzlei eingelegte Widerspruchsbescheid den Eingangsstempel vom 27.
Dezember 2005. Es ist nicht vorgetragen, dass dies entgegen einer bestehenden Weisung
des Inhalts erfolgte, dass der Eingangsstempel immer das Datum des Zugangs auszuweisen
hat. Als Fehler der Angestellten wird nicht die Abstempelung mit einem vom tatsächlichen
Zugang abweichenden Datum, sondern die Zugrundelegung dieses Datums bei der
Fristberechnung angesehen. Wenn jedoch durch die Büroorganisation nicht sichergestellt
ist, dass eine am Samstag eingegangene Sendung auch den Eingangsstempel dieses
Samstags und nicht den des darauffolgenden Werktages erhält, ist durch diesen
Organisationsmangel ein Potential für Fehler bei der Fristberechnung geschaffen worden
(BFH Beschluss vom 27. September 2005 - XI B 123/04 - Juris RdNr 10; Beschluss vom 8.
November 2006 - VII R 20/06 - Juris RdNr 9) , welches sich auch gerade hier realisiert hat.
Der Fehler der Angestellten bei der Fristberechnung stellt sich aus dieser Sicht als ein
Versehen dar, welches seine Wurzel in der fehlerhaften Büroorganisation der Kanzlei des
Prozessbevollmächtigten der Klägerin hat. Wäre der Widerspruchsbescheid mit dem
Eingangsstempel des Tages des Zugangs versehen worden, so wie es sich dem Vermerk
auf dem Briefumschlag entnehmen ließ, wäre es zu dem Fehler bei der Fristberechnung
nicht gekommen.
17 Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Halbs 2 SGG iVm § 154 Abs 2
Verwaltungsgerichtsordnung.
18 Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs 1, 63 Abs 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz
(GKG) in der ab 1. Juli 2004 geltenden Fassung, die hier gemäß § 72 Nr 1 GKG
anzuwenden ist.