Urteil des BSG vom 19.10.2010

BSG: soziale sicherheit, leistungsausschluss, freizügigkeit der arbeitnehmer, vertrag von lissabon, ausländer, sozialhilfe, völkerrechtlicher vertrag, konstitutive wirkung, wirtschaftliche tätigkeit

Bundessozialgericht
Urteil vom 19.10.2010
Sozialgericht Berlin S 121 AS 16414/09
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 10 AS 1801/09
Bundessozialgericht B 14 AS 23/10 R
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2009
wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Revisionsverfahren.
Gründe:
I
1
Der Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB
II) für die Zeit vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009. Zwischen den Beteiligten ist insbesondere streitig, ob der Kläger als
französischer Staatsangehöriger von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weil sich sein
Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.
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Der 1971 geborene Kläger reiste am 18.12.2007 in die Bundesrepublik ein. Der französische Träger der
Arbeitslosenversicherung hatte ihm zuvor auf dem Vordruck E 303 bescheinigt, dass er unter bestimmten
Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit habe. Seit diesem Tag wohnt er in Berlin. Der Kläger
meldete sich am 28.1.2008 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) arbeitslos und bezog zunächst bis zum 17.3.2008
Arbeitslosengeld. In der Folgezeit erhielt er ab dem 28.4.2008 und - bis auf wenige Tage Unterbrechung - bis zum
28.2.2009 Arbeitslosengeld II (Alg II). Seit dem 2.6.2008 ist er im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 des Gesetzes
über die Allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU)).
3
Vom 1.2.2008 bis zum 23.6.2008 übte der Kläger eine Tätigkeit als Handwerkshelfer mit einer wöchentlichen
Arbeitszeit von 7,5 Stunden und einem monatlichen Entgelt von 100 Euro aus. Das Arbeitsverhältnis endete nach
einer Kündigung durch den Arbeitgeber. Zum 1.1.2009 meldete der Kläger ein Gewerbe "An- u. Verkauf, Trödel-Kafé,
Kaffeeausschank" an. Da jedoch kein Vertrag über die Anmietung der Geschäftsräume zustande kam, zerschlug sich
das Geschäftsgründungsvorhaben am 5.1.2009. Die Abmeldung des Gewerbes erfolgte erst im April 2009
"rückwirkend" zum 1.1.2009.
4
Am 9.2.2009 stellte der Kläger bei dem Beklagten einen Fortzahlungsantrag für den Zeitraum ab dem 1.3.2009.
Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.3.2009 und Widerspruchsbescheid vom 27.7.2009 mit der
Begründung ab, der Kläger sei nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II inzwischen von Grundsicherungsleistungen
ausgeschlossen, weil er alleine wegen seiner Eigenschaft als Arbeitsuchender freizügigkeitsberechtigt sei. Nach dem
Ende seiner Beschäftigung sei er gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU nur für die Dauer von weiteren sechs
Monaten leistungsberechtigt nach dem SGB II gewesen.
5
Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 20.10.2009). Auf die Berufung des Klägers haben sich
die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) am 11.11.2009 hinsichtlich der
Kosten der Unterkunft verglichen. Im Übrigen hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten unter
Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, dem Kläger Alg II in Form der Regelleistung für die Zeit vom
1.3.2009 bis zum 11.11.2009 dem Grunde nach zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei
leistungsberechtigt nach dem SGB II. Dem stehe der Leistungsausschluss in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht
entgegen. Zwar ergebe sich das Aufenthaltsrecht des Klägers im streitigen Zeitraum alleine aus dem Zweck der
Arbeitsuche (§ 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU). Ein Wegfall dieses Aufenthaltsrechts komme nur dann in Betracht,
wenn aufgrund objektiver Umstände davon auszugehen sei, dass der Unionsbürger keinerlei ernsthafte Absichten
verfolge, eine Beschäftigung aufzunehmen. Davon könne im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Auch
könne letztlich dahinstehen, ob der Leistungsausschluss wegen Verstoßes gegen europäisches Gemeinschaftsrecht
unanwendbar sei. Dies hänge maßgeblich davon ab, ob Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem
SGB II als "Sozialhilfe" im Sinne von Art 24 Abs 2 der so genannten Unionsbürgerrichtlinie ((UBRL) Richtlinie
2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004, ABl 2004 L Nr 158, 77) anzusehen seien.
Diese Frage bedürfe hier aber keiner abschließenden Entscheidung, weil der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1
Satz 2 Nr 2 SGB II für solche Hilfebedürftigen einschränkend auszulegen sei, die durch das Europäische
Fürsorgeabkommen ((EFA) vom 11.12.1953 BGBl II 1956, 564) begünstigt würden. Nach Art 1 EFA habe der Kläger
danach Anspruch auf "Fürsorge" wie ein deutscher Staatsangehöriger, der sich im Inland gewöhnlich aufhalte. Als
Leistungen der Fürsorge seien nach dem Außerkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) am 31.12.2004
nicht nur die im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), sondern auch die im SGB II für Hilfebedürftige geregelten
Leistungen anzusehen. Unerheblich sei, dass die Bundesrepublik Deutschland entgegen der sich aus Art 16 Abs a)
und b) des EFA ergebenden Verpflichtung dem Generalsekretär des Europarates das Außerkrafttreten des BSHG
bislang nicht mitgeteilt habe, weil die im Anhang I des Abkommens genannte Aufzählung der entsprechenden
Fürsorgegesetze lediglich eine klarstellende Bedeutung zukomme. Auch sei nicht entscheidungserheblich, ob das
EFA zur Vermeidung von Wanderungsbewegungen aus einem Sozialleistungssystem in ein anderes nur auf diejenigen
Ausländer Anwendung finde, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe
angegangenen Staat erlaubt aufhielten, weil der Kläger zum Zeitpunkt der Einreise noch über ausreichende Mittel zur
Existenzsicherung verfügte habe.
6
Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des § 7 Abs
1 Satz 2 Nr 2 SGB II und weist darauf hin, dass der Leistungsausschluss der Umsetzung des in Art 24 Abs 2 UBRL
geregelten Vorbehalts diene. Diese Regelungen seien neuer und damit vorrangig vor dem EFA aus dem Jahr 1953.
Zwar handele es sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II um "Sozialhilfe" iS
des Art 24 Abs 2 UBRL. Das SGB II könne aber neben dem SGB XII gleichwohl nicht als "weiteres" Nachfolgegesetz
zum BSHG angesehen werden. Denn im Wesentlichen habe das SGB II die Nachfolge der zuvor im Dritten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB III) geregelten Arbeitslosenhilfe (Alhi) angetreten. Die Alhi aber sei dem EFA nicht unterfallen.
Im Übrigen finde das EFA nur auf die im Anhang von den Vertragsstaaten gemeldeten nationalen Fürsorgegesetze
Anwendung.
7
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2009 aufzuheben
und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Oktober 2009 zurückzuweisen.
8
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
9
Er hält das mit der Revision angegriffene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, dass ein Anspruch auch
dann bestünde, wenn er nicht durch das EFA begünstigt würde. Denn der Leistungsausschluss verstoße auch gegen
europäisches Primärrecht. Bei den Leistungen nach dem SGB II handele es sich um finanzielle Leistungen, die den
Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs (EuGH) sei insoweit das Gleichbehandlungsgebot zu beachten.
II
10
Die zulässige Revision ist unbegründet.
11
Das LSG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum vom 1.3.2009 bis zum 11.11.2009 ein
Anspruch auf Gewährung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zusteht. Der
Kläger erfüllt die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II (dazu unter 2). Seinem Anspruch steht der
Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht entgegen (dazu unter 3).
12
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 31.3.2009 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.7.2009, mit dem der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab dem 1.3.2009 abgelehnt hat. Der streitige Zeitraum erstreckt sich in
Fällen ablehnender Verwaltungsentscheidungen bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht
(vgl nur Urteil des Senats vom 7.5.2009 - B 14 AS 41/07 R - juris mwN), hier also bis zum 11.11.2009. Die Beteiligten
haben darüber hinaus den Streitgegenstand im Berufungsverfahren zulässigerweise beschränkt, indem sie über die
Kosten der Unterkunft einen Teilvergleich abgeschlossen haben (vgl zur Zulässigkeit einer solchen Begrenzung des
Streitgegenstandes nur BSGE 97, 217, 223 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 19 sowie zuletzt Urteil des Senats
vom 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen).
13
2. Der Kläger erfüllt nach den Feststellungen des LSG die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II.
Er ist gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 iVm § 8 SGB II erwerbsfähig und - nach den den Senat bindenden Feststellungen
des LSG (§ 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) - auch hilfebedürftig gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3 iVm § 9 SGB II. Der
Kläger verfügt gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 Abs 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)
auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist bereits Ende 2007 in die
Bundesrepublik eingereist. Seitdem hält er sich hier unter Umständen auf, die erkennen lassen, dass er nicht nur
vorübergehend verweilt. Offen bleiben kann hier, ob der an tatsächlichen Umständen zu messende Begriff des
gewöhnlichen Aufenthaltes bei Ausländern durch zusätzliche rechtliche Voraussetzungen eingeschränkt wird (BSG
SozR 3-2600 § 56 Nr 7 S 34). Zur alten Rechtslage bis zum 1.4.2006 hat das Bundessozialgericht (BSG)
entschieden, dass Ausländer, die tatsächlich dauerhaft im Inland verweilen, nur dann einen gewöhnlichen Aufenthalt
haben, wenn sie sich berechtigterweise hier aufhalten (BSG aaO; BSGE 65, 261, 263 f = SozR 7833 § 1 Nr 7; vgl -
speziell zu § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II - auch BSGE 98, 243, 246 f = SozR 4-4200 § 12 Nr 4, jeweils RdNr 19;
Valgolio in Hauck/Noftz, Stand Juni 2010, § 7 SGB II RdNr 95; kritisch zu der Verrechtlichung des rein tatsächlichen
Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 7 RdNr 11).
14
Dass der Kläger sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits daraus, dass er über eine
Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt (aA Hessisches LSG, FEVS 59, 110, 115 f). Gegen eine
Rechtmäßigkeit des Aufenthalts spricht auch nicht, dass dieser Bescheinigung nach dem Wortlaut der Vorschrift ("
über das Aufenthaltsrecht ausgestellt") nur deklaratorischer Charakter im Hinblick auf das sich unmittelbar aus
Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zukommt (vgl nur statt aller Geyer in HK-AuslR, 2008, § 5
FreizügG/EU RdNr 1) und es sich um keinen Aufenthaltstitel handelt (vgl § 2 Abs 4 Satz 1 FreizügG/EU). Denn es
entspricht der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts
auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das
Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU festzustellen und die Bescheinigung über das
gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen (so auch die gesetzliche Begründung zum
Zuwanderungsgesetz, vgl BT-Drucks 15/420, 106; vgl auch die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II
in der Fassung vom 20.1.2010, Ziffer 7.2d, sowie Ziffer 5.5.1.3. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum
Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26.10.2009, GMBl 2009, 1270). Die Ausreisepflicht nach § 7 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU
wird erst mit dieser Verlustfeststellung begründet.
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3. Der Kläger ist auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II zunächst Ausländer,
die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs 3 des
FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
des Weiteren Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre
Familienangehörigen sowie zuletzt Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).
16
Der Kläger ist als französischer Staatsangehöriger Ausländer im Sinne dieser Vorschrift. Er ist aber nicht
leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG und hält sich nach den Feststellungen des LSG bereits seit Ende des Jahres
2007 in der Bundesrepublik auf. Er ist auch nicht deswegen nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen
ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (dazu unter a). Denn
dieser Leistungsausschluss ist auf den Kläger als Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des EFA vom 11.12.1953
(BGBl II 1956, 564) nicht anwendbar (dazu unter b).
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a) Das Aufenthaltsrecht des Klägers ergibt sich gemäß § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU alleine aus dem Zweck der
Arbeitsuche. Denn auf ein anderes Aufenthaltsrecht, das - wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt
("Aufenthaltsrecht [ ] allein aus dem Zweck der Arbeitsuche"; vgl auch BT-Drucks 16/688, 13) - den
Leistungsausschluss von vornherein entfallen lassen würde, kann sich der Kläger nicht berufen.
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Der Kläger ist insbesondere nicht als Arbeitnehmer, Selbstständiger oder Nicht-Erwerbstätiger freizügigkeitsberechtigt.
Auch steht ihm (noch) kein Daueraufenthaltsrecht zu. Als "Arbeitnehmer" im Sinne von § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 1
FreizügG/EU ist der Kläger nicht (mehr) aufenthaltsberechtigt. Während seiner Tätigkeit als Handwerkshelfer war er
es, weil auch derjenige Arbeitnehmer im Sinne des Freizügigkeitsrechts ist, der nur über ein geringfügiges, das
Existenzminimum nicht deckendes, Einkommen verfügt. Nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art 39 EG (hier
anwendbar in der Fassung des Vertrages von Nizza, BGBl II 2001, 1666 - der Vertrag von Lissabon ist erst zum
1.12.2009 in Kraft getreten, BGBl II 2009, 1223) fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit
ausübt - mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als
völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt - unter die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl ua
EuGH, Rs 139/85 [Kempf], Slg 1986, 1741 [Rz 9 ff]; Rs 53/81 [Levin], Slg 1982, 1035 [Rz 17]; C-213/05 [Geven], Slg
2007, I-6347 [Rz 16]; so nun auch Ziffer 2.2.1.1. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des BMI zum FreizügG/EU;
vgl zum gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff ausführlich Epe in GK-AufenthG, § 2 FreizügG/EU RdNr 31 ff
mwN). Zwar blieb dem Kläger gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU seine Erwerbstätigeneigenschaft und damit sein
Freizügigkeitsrecht "als Arbeitnehmer" für die Dauer von sechs Monaten nach der arbeitgeberseitigen Kündigung
erhalten. Dieser Zeitraum war aber bereits abgelaufen, als er für den hier streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhaltes beantragte.
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Dem Kläger stand auch zu keinem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht als selbstständig Tätiger nach § 2 Abs 1 Nr 2
FreizügG/EU zu. Dies setzt voraus, dass eine Tätigkeit als Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich
ausgeübt wird (vgl Art 7 Abs 1 Buchst a Alt 2 UBRL). Zwar ist auch insoweit nicht erforderlich, dass der Gewinn aus
der selbstständigen Tätigkeit das notwendige Existenzminimum deckt (vgl zuletzt zB OVG Bremen Beschluss vom
21.6.2010 - 1 B 137/10 - juris). Voraussetzung ist aber nach Art 43 EGV, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit auf
unbestimmte Zeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (EuGH, C-
221/89 [Factortame], Slg 1991, I-3905 [Rz 20]), sodass alleine ein formaler Akt (EuGH, aaO, Rz 21; Bröhmer in
Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl 2007, Art 43 EG RdNr 12), wie die Registrierung eines Gewerbes nicht
ausreichend ist. Ein weitergehendes Stadium aber hat die selbstständige Tätigkeit des Klägers nicht erreicht.
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Der Kläger ist darüber hinaus nicht als Nicht-Erwerbstätiger, zu denen freizügigkeitsberechtigte Arbeitsuchende nicht
zählen, nach § 2 Abs 2 Nr 5 iVm § 4 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil es ihm insoweit an
ausreichenden Existenzmitteln fehlt. Schließlich hat der Kläger auch noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2
Nr 7 iVm § 4a FreizügG/EU erworben.
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b) Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ist allerdings hier deswegen nicht anwendbar, weil der
Kläger sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA berufen kann (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369, 373 ff; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom
14.1.2010 - L 14 AS 1565/09 B ER - juris; SG Berlin Urteil vom 25.3.2010 - S 26 AS 8114/08 - juris; Brühl/Schoch in
LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 7 RdNr 35; Valgolio in Hauck/Noftz, § 7 SGB II RdNr 128, Stand Juni 2010; aA
Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom
23.12.2009 - L 34 AS 1350/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25.11.2008 - L 5 B 801/08 AS ER
- juris; SG Reutlingen Urteil vom 29.4.2008 - S 2 AS 2952/07 - juris; Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII,
Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a; offen gelassen von LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 26.2.2010 -
L 6 B 154/09 AS ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 16.7.2008 - L 19 B 111/08 AS ER - juris; LSG
Berlin-Brandenburg Beschluss vom 11.1.2010 - L 25 AS 1831/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss
vom 30.5.2008 - L 14 B 282/08 AS ER - juris).
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Nach Art 1 des Abkommens, das unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich (und daneben
Belgien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen,
Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien) unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden
verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf
das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher
Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und
Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen
sind.
23
Bei dieser Vorschrift handelt es sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht (dazu unter aa), dessen Anwendbarkeit
im konkreten Fall insbesondere kein jüngeres und deshalb vorrangig anzuwendendes Recht entgegensteht (dazu unter
bb). Darüber hinaus steht seiner Anwendung nicht entgegen, dass inzwischen an die Stelle des Abkommens
europäisches Koordinationsrecht getreten wäre (dazu unter cc). Auch liegen im Einzelnen die Voraussetzungen des
Gleichbehandlungsgebots nach Art 1 EFA vor. Denn bei der beanspruchten Regelleistung nach § 20 SGB II handelt
es sich um Fürsorge im Sinne des EFA (dd). Die Vorschrift des § 20 SGB II findet in Ermangelung eines von der
Bundesrepublik abgegebenen Vorbebehalts auch auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten Anwendung
(ee). Der Kläger hält sich in der Bundesrepublik zudem erlaubt im Sinne von Art 1 EFA auf (ff). Das
Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA findet schließlich auch nicht alleine auf solche Staatsangehörige anderer
Vertragsstaaten Anwendung, die sich bereits vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit im Aufenthaltsstaat aufgehalten haben
(gg).
24
aa) Der Kläger kann sich auf Art 1 EFA als unmittelbar geltendes Bundesrecht berufen. Der Bundestag hat mit dem
mit Zustimmung des Bundesrats beschlossenen Gesetz vom 15.5.1956 (BGBl II 563) dem Europäischen
Fürsorgeabkommen zugestimmt (vgl Art 59 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz (GG)) und dadurch dessen Inhalt insoweit in
innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten des Einzelnen begründendes (revisibles) Bundesrecht transformiert,
als die Vertragsbestimmungen nach Wortlaut, Zweck und Inhalt wie innerstaatliche Gesetzesvorschriften rechtliche
Wirkungen auszulösen geeignet sind (vgl BVerfGE 29, 348, 360; BVerwGE 44, 156, 160). Dies trifft auf den
Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 1 des EFA zu (so auch Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) Urteil vom
18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, 200, 201; Urteil vom 14.3.1985 - 5 C 145/83 - BVerwGE 71, 139, 142; LSG
Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369; OVG Nordrhein-Westfalen
Urteil vom 13.12.1999 - 16 A 5587/97 - juris; vgl auch Bayerischer VGH, FEVS 48, 74 ff; OVG Lüneburg, FEVS 49,
118, 119; Hessischer VGH, FEVS 51, 190 ff; Schraml, Das Sozialhilferecht der Ausländerinnen und Ausländer, 1992,
S 75; Schuler, Der Einfluss des Europäischen Fürsorgeabkommens auf den sozialhilfe- und aufenthaltsrechtlichen
Status der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer in Barwig/Lörcher/Schumacher (Hrsg),
Familiennachzug von Ausländern auf dem Hintergrund völkerrechtlicher Verträge, S 67, 69; aA Kokott, Die
Staatsangehörigkeit als Unterschiedsmerkmal für soziale Rechte von Ausländern in Hailbronner (Hrsg), Die
allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts, S 25, 33).
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bb) Entgegen der Ansicht der Revision ist das EFA auch nicht in dem Sinne "überholt", dass seiner Anwendung
neuere, denselben Sachverhalt regelnde gesetzliche Vorschriften entgegenstehen. Das Völkervertragsrecht wird
gemäß Art 59 Abs 2 GG im Range von Bundesgesetzen umgesetzt. Aus dieser Rangzuweisung folgt, dass deutsche
Gerichte das EFA wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu
beachten und anzuwenden haben (so BVerfGE 111, 307 ff zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)).
Innerstaatliches Recht ist grundsätzlich so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der
Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht. Dies entspricht dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des
Grundgesetzes (vgl BVerfG aaO sowie BVerfGE 58, 1, 34; 59, 63, 89). Das einfache (Sozial-)Recht bietet darüber
hinaus mit § 30 Abs 2 SGB I eine Vorschrift zur Lösung von möglichen Konflikten zwischen nationalem Recht und
(transformiertem) Völkerrecht. § 30 Abs 2 SGB I beschränkt sich nicht auf die Regelung des gewöhnlichen
Aufenthalts, sondern beinhaltet einen allgemeinen Rechtsgrundsatz (BSG, InfAuslR 2001, 181, 182; BSGE 52, 210,
213 = SozR 6180 Art 13 Nr 3 S 10). Bereits aus diesem Grund steht der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2
Nr 2 SGB II entgegen der Ansicht der Revision der Verpflichtung zur Gleichbehandlung nach dem EFA nicht
entgegen.
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Im Übrigen hat das LSG zu Recht darauf hingewiesen, dass Art 1 EFA im Hinblick auf den persönlichen
Anwendungsbereich spezieller ist. Die Vorschrift richtet sich gerade nicht an alle Ausländer (deren Aufenthaltsrecht
sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt), sondern nur an Staatsangehörige der Vertragsstaaten. Darüber hinaus
sind Gesetze auch dann im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland
auszulegen und anzuwenden, wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher
Vertrag. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen
will (vgl BVerfGE 74, 358, 370 sowie - speziell zum EFA - BVerwGE 111, 200, 211). Ein solcher gesetzgeberischer
Wille des späteren Gesetzgebers zur Abweichung vom EFA ist hier nicht erkennbar. Des Weiteren überzeugt auch
das Argument der Revision nicht, § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II sei deshalb vorrangig vor dem EFA, weil § 7 Abs 1
Satz 2 Nr 2 SGB II der Umsetzung des Art 24 Abs 2 UBRL diene (BT-Drucks 16/688 S 13), einer Vorschrift, an der
sowohl Frankreich als auch die Bundesrepublik beteiligt waren (so aber auch LSG Baden-Württemberg Beschluss
vom 15.4.2010 - L 13 AS 1124/10 ER-B - juris). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diejenigen Mitglieder des Rats der
Europäischen Union, die zugleich Vertragsstaaten des EFA sind, mit der in Art 24 Abs 2 UBRL eingeräumten
Möglichkeit der nur beschränkten Leistung von Sozialhilfe an Freizügigkeitsberechtigte zugleich für ihren
Zuständigkeitsbereich ein Abkommen des Europarats außer Kraft setzen wollten.
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Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das EFA selbst den Konfliktfall bereits regelt: Nach Art 18 EFA stehen
die Bestimmungen des Abkommens solchen nationalen Vorschriften nicht entgegen, die für die Beteiligten günstiger
sind. Dass eine Abweichung vom EFA zu Lasten des durch das EFA geschützten Personenkreises damit nicht
zulässig ist, liegt dabei auf der Hand. Wenn die Bundesrepublik die sich aus dem EFA ergebenden Verpflichtungen
nicht mehr tragen will, steht ihr nach Art 24 EFA die Möglichkeit offen, das Abkommen innerhalb der dort genannten
Frist zu kündigen. Hiervon hat sie bislang keinen Gebrauch gemacht.
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cc) Der Anwendbarkeit des EFA steht das koordinierende Sekundärrecht der Europäischen Union nicht entgegen (so
aber Bayerisches LSG Beschluss vom 12.3.2008 - L 7 B 1104/07 AS ER - FEVS 60, 178).Gemeinschaftsrechtlicher
Maßstab für den hier streitgegenständlichen Zeitraum (1.3.2009 bis 11.11.2009) ist die Kollisionsregel des Art 6 der
"alten" Wanderarbeitnehmerverordnung EWG Nr 1408/71, weil die Nachfolgeverordnung (EG) Nr 883/2004 vom
29.4.2004 (ABl 2004 Nr L 166, 1 ff) gemäß deren Art 91 Satz 2 erst ab dem Inkrafttreten einer
Durchführungsverordnung galt. Die Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die
Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist aber erst am 1.5.2010 in Kraft (Art 97 der VO (EG) Nr
987/2009) getreten. Nach der Kollisionsregel in Art 6 EWGV 1408/71 tritt die Verordnung im Rahmen ihres
persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle bestimmter (völkerrechtlicher) Abkommen über die
soziale Sicherheit.
29
Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unterfallen entweder gemäß Art 4 Abs 2a
EWGV 1408/71 iVm dem Anhang IIA, Buchst E - entgegen dem Anwendungsausschluss für die Sozialhilfe nach Art 4
Abs 4 EWGV 1408/71 und mit konstitutiver Wirkung (vgl EuGH, Rs C-20/96 [Snares], Slg 1997, I-6082 [Rz 30];
differenzierend Rs C-215/99 [Jauch], Slg 2001, I-1901 [Rz 21] = SozR 3-6050 Art 10a Nr 1 S 5 f) - als so genannte
besondere beitragsunabhängige Geldleistungen (so genannte "Mischleistungen", dazu ausführlich Beschorner,
ZESAR 2009, 320 ff) bzw - soweit dem Grunde nach die Voraussetzungen nach § 24 Abs 1 SGB II vorliegen - als
Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art 4 Abs 1 Buchst g EWGV 1408/71 dem sachlichen Anwendungsbereich
dieser Verordnung.
30
Ob auch der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist, bedarf dagegen keiner Entscheidung. Denn
die Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71 greift hier ohnehin nicht ein. Die Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71
ist nämlich nur anwendbar auf "Abkommen über die soziale Sicherheit", worunter nach der Begriffsbestimmung des
Art 1 Buchst k) EWGV 1408/71 nur Vereinbarungen für die in Art 4 Abs 1 und 2 der Verordnung bezeichneten Zweige
und Systeme zu verstehen sind. Art 4 Abs 2a VO 1408/71 ist dort gerade nicht genannt.
31
Darüber hinaus gilt die Kollisionsregel des Art 6 EWGV ohnehin nicht schrankenlos. Vielmehr kann es
gemeinschaftsrechtlich geboten sein, eine Günstigkeitsprüfung vorzunehmen (EuGH, Rs C-227/89 [Rönfeldt], Slg
1991, I-323 [Rz 29] = SozR 3-6030 Art 48 Nr 3 S 8; ausführlich Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4.
Aufl 2005, Art 6 VO 1408/71 RdNr 10 ff). Weiterhin erscheint es zweifelhaft, ob Abkommen des Europarats überhaupt
unter die Kollisionsregel fallen (vgl insoweit Steinmeyer, aaO, Art 7 VO 1408/71 RdNr 1; allerdings zu der ausdrücklich
in die Verordnung aufgenommenen Ausnahmeregelung des Art 7 Abs 1 Buchst b im Hinblick auf das sog Vorläufige
Europäische Abkommen vom 11.12.1953 über die soziale Sicherheit). Hinzu kommt, dass nichts dafür spricht, dass
die EWGV 1408/71, für die sich vor allem die Notwendigkeit der Klärung des Verhältnisses zwischen
Koordinationsrecht und Sozialversicherungsabkommen ergab, ein internationales Fürsorgeabkommen außer Kraft
setzen wollte. Hier greift vielmehr der Anwendungsausschluss auf die Sozialhilfe nach Art 4 Abs 4 VO 1408/71.
32
dd) Bei der hier noch streitgegenständlichen (siehe oben 1.) Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um
"Fürsorge" im Sinne von Art 1 EFA. Ausweislich der Begriffsbestimmung in Art 2 Abs a Nr i EFA meint "Fürsorge" im
Sinne des Abkommens jede Fürsorge, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teile seines
Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren
Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert. Ausgenommen sind beitragsfreie Renten und
Leistungen zugunsten der Kriegsopfer und der Besatzungsgeschädigten. Nach Art 2 Abs b EFA sind die
Rechtsvorschriften, die in den Gebieten der Vertragschließenden, auf die dieses Abkommen Anwendung findet, in
Kraft sind, sowie die von den Vertragschließenden formulierten Vorbehalte in den Anhängen I und II zum Abkommen
aufgeführt.
33
Die Regelleistung nach § 20 SGB II als Bestandteil der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach diesem
Gesetz stellt ein solches, im Falle der Bedürftigkeit gewährtes "Mittel für den Lebensbedarf" dar (vgl auch Urteil des
Senats vom 31.10.2007 - B 14/11b AS 5/07 R - BSGE 99, 170 = SozR 4-4200 § 24 Nr 1, wo im Hinblick auf das SGB
II von einer "steuerfinanzierten Fürsorgeleistung" die Rede ist; vgl auch BT-Drucks 15/1516 S 56: "nachrangige
Fürsorgeleistung"). Denn das SGB II ist - anders als bis zum 1.1.2005 die Alhi als Lohnersatzleistung (vgl zuletzt §
195 SGB III) - ein bedarfsabhängiges Leistungssystem (vgl Urteil des Senats vom 31.10.2007 - B 14 AS 30/07 R -
SozR 4-4200 § 24 Nr 2). Darüber hinaus ist die Fürsorgegesetzgebung in der Bundesrepublik nach dem
Außerkrafttreten des BSHG zum 1.1.2005 auch nicht auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des
SGB XII (idR iVm § 42 Satz 1 SGB XII) beschränkt. Sozialhilfe und Grundsicherung für Arbeitsuchende
unterscheiden sich zwar nach ihrem Adressatenkreis. Das SGB II verliert dadurch aber nicht seinen Charakter als
Fürsorgegesetz.
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Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass im Anhang I zum EFA in der Fassung der Erklärung des
ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland an den Generalsekretär des Europarats vom 26.10.2001 als
anzuwendende Fürsorgegesetze noch immer (und entgegen der Verpflichtung der Bundesrepublik zur Mitteilung
geänderter bzw neuer Rechtsvorschriften gemäß Art 16 Abs a und b EFA) das BSHG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 23.3.1994 (BGBl I 646, 2975), "zuletzt" geändert durch Art 12 des Gesetzes vom 13.9.2001
(BGBl I 2376, 2398), und die §§ 27, 32 bis 35 und 41 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), jeweils iVm § 39
SGB VIII, sowie die §§ 3, 19 und 69 des Infektionsschutzgesetzes genannt werden. Denn die Aufzählung der
Fürsorgegesetze in der Anlage I ist nicht konstitutiv (so auch BVerwG Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE
111, 200, 206; LSG Niedersachsen-Bremen, FEVS 59, 369, 374; Mangold/Pattar, VSSR 2008, 243, 261; aA
Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris, sowie Schumacher in Oestreicher, SGB
II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a). Dies entspricht auch der Rechtsansicht der Bundesregierung
bei Ratifizierung des Abkommens (vgl die Denkschrift des BMI und des Bundesministers des Auswärtigen zum
Europäischen Fürsorgeabkommen und dem Zusatzprotokoll, BT-Drucks 2/1882, 23: "Die Aufführung der
Fürsorgegesetze im Anhang I dient der Klarstellung, damit sich die übrigen Vertragschließenden den notwendigen
Überblick verschaffen können." Vgl darüber hinaus den am 21.11.2001 vom Ministerkomitee des Europarats
verabschiedeten "Explanatory Report" zum EFA, Rz 49). Dafür spricht zuletzt Art 2 Abs a Nr ii EFA. Hiernach haben
die Begriffe "Staatsangehörige" und "Gebiet" die Bedeutung, die ihnen von den Vertragschließenden in gesonderten
Erklärungen zugewiesen werden. Demgegenüber definiert Art 2 Abs a Nr i EFA den Begriff der Fürsorge eigenständig
(Mangold/Pattar, aaO, 260).
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ee) Die Bundesrepublik Deutschland hat bis jetzt keinen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die
Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten abgegeben (vgl Art 16 Abs b Satz 2 EFA). Nach dem bislang
abgegebenen Vorbehalt übernimmt die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtung, die im BSHG "in der jeweils
geltenden Fassung" vorgesehene Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage (vgl § 30 BSHG) und die
dort vorgesehene Hilfe zur Überwindung besonderer sozialen Schwierigkeiten (vgl § 72 BSHG) an Staatsangehörige
der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen
Staatsangehörigen zu gewähren, ohne gleichwohl auszuschließen, dass diese Hilfen in geeigneten Fällen gewährt
werden können (vgl Neubekanntmachung des Anhangs II zum EFA, BGBl II 2001, 1098). Es bedarf an dieser Stelle
keiner Entscheidung, ob dieser Vorbehalt nach dem Außerkrafttreten des BSHG durch Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl
I 3022) mit Wirkung vom 1.1.2005 "dynamisch" im Sinne einer Anwendung auf die Nachfolgegesetzgebung
anzuwenden ist. Denn bereits im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG hatte
sich die Bundesrepublik gerade nicht die Möglichkeit der Ungleichbehandlung der Staatsangehörigen der
Vertragsstaaten vorbehalten. Mit der Regelleistung nach § 20 SGB II beansprucht der Kläger aber alleine eine solche,
den Lebensunterhalt sichernde, Hilfe.
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ff) Der Kläger hält sich auch "erlaubt" im Sinne des Art 1 EFA in der Bundesrepublik auf. Dabei kann an dieser Stelle
dahinstehen, ob - wie es der Rechtsprechung des BVerwG zum BSHG entsprach (vgl nur BVerwGE 71, 139, 143 ff) -
sich das Merkmal des erlaubten Aufenthalts nach Art 11 Abs a Satz 1 EFA bestimmt und dem Anhang insoweit
konstitutive Wirkung zukommt. Bedenken könnten sich unter anderem deshalb ergeben, weil die - nach der
Schlussformel des Abkommens im Gegensatz zur deutschen Fassung - verbindliche englische Fassung des EFA
zwischen "lawfully present" nach Art 1 EFA und - enger - "lawfully resident" im Sinne der Rückschaffungsvorschriften
nach Art 6 EFA unterscheidet. Art 11 definiert aber nur den Begriff "residence". Beides wird im Deutschen mit
Aufenthalt übersetzt (wobei dann bei Art 6 EFA auf einen "gewöhnlichen" Aufenthalt abgestellt wird). Nach dem
Abkommenstext spricht also einiges dafür, dass zwischen dem sozialrechtlichen Gleichbehandlungsgebot und dem
Ausweisungsschutz im Hinblick auf die Qualität "des Aufenthalts" differenziert werden sollte.
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Diese Frage bedarf aber deshalb keiner Entscheidung, weil sich der Kläger auch bei Zugrundelegung der
Rechtsprechung des BVerwG "erlaubt" in der Bundesrepublik aufhielt. Nach Art 11 Abs a Satz 1 EFA gilt der
Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der Vertragschließenden solange als erlaubt im Sinne des Abkommens,
als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den Rechtsvorschriften des
betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, auf Grund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist.
Dabei kam dem im Anhang III zum EFA angeführten Verzeichnis der Urkunden, die als Nachweis des Aufenthalts im
Sinne des Art 11 EFA anerkannt werden, nach der Rechtsprechung des BVerwG ein rechtsbegründender
(konstitutiver) Charakter in der Weise zu, dass mit den dort aufgeführten Urkunden die Erlaubnistatbestände
abschließend genannt seien, aufgrund derer der Aufenthalt des ausländischen Staatsangehörigen im Sinne des
Abkommens als erlaubt gelte (BVerwGE 71, 139, 144). Auch nach der Rechtsprechung des BVerwG war es aber als
unerheblich anzusehen, wenn die Bezeichnung eines Aufenthaltstitels lediglich redaktionell angepasst wurde
(BVerwG, aaO). Indiz für eine lediglich andere Bezeichnung kann dabei auch das völkervertragliche Verhalten der
Bundesrepublik Deutschland sein. Denn wenn sie den Generalsekretär des Europarates von einer Änderung ihrer
Gesetzgebung nicht unterrichtet hat, obwohl sie nach Art 16 Abs a EFA hierzu verpflichtet gewesen wäre, ist sie
augenscheinlich davon ausgegangen, die gesetzliche Änderung berühre nicht den Inhalt des Anhangs III (BVerwGE
111, 200, 204).
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Der Kläger verfügt über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU. Im Anhang III des EFA ist
demgegenüber noch von einer "Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaats der EWG" die Rede (BGBl II
2001, 1100). Dies entspricht der Rechtslage nach § 1 Abs 4 des Gesetzes über Einreise und Aufenthalt von
Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthG/EWG) in der Fassung
des Gesetzes vom 9.7.1990 (BGBl I 1354), aufgehoben mit Wirkung vom 1.1.2005 durch das Zuwanderungsgesetz
2004 vom 30.7.2004 (BGBl I 1950). Nach dieser Vorschrift erhielten freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines
Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften eine so genannte Aufenthaltserlaubnis-EG. Eines Aufenthaltstitels
bedarf es nach § 2 Abs 4 Satz 1 FreizügG/EU, Art 8 UBRL nicht mehr. An die Stelle der Aufenthaltserlaubnis-EG ist
insoweit die Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU getreten. Der Aufenthalt des Klägers "gilt" aus
diesem Grund als erlaubt im Sinne des Art 11 EFA. Dies entspricht auch der Praxis der Ausländerbehörden, wonach
von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist, bis eine Verlustfeststellung mit entsprechender Einziehung
der Aufenthaltsbescheinigung nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU erfolgt (vgl bereits oben 2.).
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gg) Der Senat vermag schließlich auch keinen rechtlichen Ansatzpunkt dafür zu erkennen, das EFA nur auf diejenigen
Ausländer anzuwenden, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangenen
Staat erlaubt aufhielten und mithin nicht auf diejenigen, die als bereits bedürftige Personen in einen Vertragsstaat
einreisten (so aber LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8.1.2010 - L 34 AS 2082/09 B ER, L 34 AS 2086/09 B
PKH -, unter Verweis auf OVG Berlin Beschluss vom 22.4.2003 - 6 S 9.03 - FEVS 55, 186, 190). Mithin kommt es
nicht darauf an, ob dem Kläger ein irgendwie geartetes "missbräuchliches Verhalten" vorgeworfen werden kann, als er
etwas mehr als vier Monate nach seiner Einreise (nämlich nach Auslaufen seines Anspruchs auf Gewährung von
Arbeitslosengeld nach dem SGB III) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II beantragt hat.
Der gesetzliche Rahmen des BSHG (und nunmehr des SGB XII) war ein gänzlich anderer. Nach § 120 Abs 1 Satz 1
BSHG war Ausländern, die sich in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich aufhielten, Hilfe zum Lebensunterhalt
zu gewähren. Nach § 120 Abs 3 Satz 1 BSHG (jetzt § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII in der Fassung des Gesetzes
vom 2.12.2006, BGBl I 2670) hatten Ausländer, die sich in die Bundesrepublik Deutschland begeben haben, um
Sozialhilfe zu erlangen, keinen Anspruch. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung entsprach es offenbar
allgemeiner Ansicht, § 120 Abs 3 Satz 1 BSHG auch auf vom EFA geschützte Personen anzuwenden (so OVG Berlin
aaO unter Verweis auf die Denkschrift zum EFA, BT-Drucks 2/1882, 23; vgl auch Hamburgisches OVG Beschluss
vom 8.2.1989 - Bs IV 8/89 -, NVwZ-RR 1990, 141 ff; OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 25.4.1985 - 8 A 266/84 -,
NDV 1985, 367 ff; aA VG Würzburg Urteil vom 21.2.1990 - W 3 K 88.1363 -, NDV 1990, 187 ff).
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Es überzeugt nicht, eine - etwa § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII vergleichbare - Regelung in das SGB II
"hineinzulesen", wobei eine auf diese Weise vorgenommene Geltungserweiterung (Analogie) insbesondere auch vor
dem Hintergrund des § 31 SGB I bedenklich erscheint. Im Übrigen dürfte die praktische Bedeutung eines solchen
Anspruchsverlustes gering sein, weil das BVerwG jedenfalls im Rahmen der Vorgängernorm (§ 120 Abs 1 Satz 1
Halbs 1 BSHG in der Fassung vom 24.5.1983, BGBl I 613) einen finalen Zusammenhang im Sinne einer "prägenden
Bedeutung" zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe (BVerwG Urteil vom 4.6.1992
- 5 C 22/87 - FEVS 43, 113 ff) verlangt hat. Schließlich hat auch die zu Art 1 EFA teilweise vertretene Ansicht, einen
Aufenthalt zeitlich vor dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit zu fordern (siehe oben), in dem Abkommen selbst keinen
Ausdruck gefunden. Denn Art 1 EFA stellt allein auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ab, nicht aber auf eine
bestimmte zeitliche Abfolge.
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Da der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II auf den Kläger mithin bereits aufgrund der vorrangigen
Geltung des Gleichbehandlungsgebotes nach Art 1 EFA keine Anwendung findet, bedarf es an dieser Stelle keiner
Entscheidung, ob der Leistungsausschluss zudem wegen Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtliche Vorgaben
unanwendbar ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.