Urteil des BSG vom 14.03.2017

BSG (existenzminimum, kläger, höhe, gkv, belastungsgrenze, körperliche unversehrtheit, menschenwürde, verhältnis zu, numerus clausus, öffentliches recht)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 22.4.2008, B 1 KR 10/07 R
Krankenversicherung - Belastungsgrenze - Arbeitslosengeld-II-Bezieher -
Zuzahlungspflicht und Hinnahme von Leistungskürzungen - Existenzminimum -
Hinfälligkeit von Befreiungsbescheiden ab 1.1.2004
Leitsätze
1. Das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum ist nicht unterschritten, wenn
krankenversicherte Bezieher von Arbeitslosengeld II monatlich Zuzahlungen von 3,45 Euro
leisten und Leistungskürzungen des GMG hinnehmen müssen.
2. Befreiungsbescheide nach §§ 61, 62 SGB 5 aF wurden ab 1.1.2004 gegenstandslos, ohne
dass es ihrer Aufhebung bedurfte.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Befreiung von der Zuzahlungspflicht in der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für die Zeit ab dem 1.1.2004 und die Erstattung der
vom Kläger bis 2006 geleisteten 150,38 Euro Zuzahlungen.
2 Der 1955 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse krankenversichert. Die
Beklagte befreite ihn gemäß § 61 SGB V aF ( Fassung vom 22.12.1999, BGBl I 2626 ) wegen
Vorliegens eines Härtefalles bis auf Weiteres von der Zuzahlungspflicht (Befreiungsbescheid
vom 28.9.2000). Er bezog seit Juli 2003 Arbeitslosenhilfe (Alhi) in Höhe von wöchentlich
148,19 Euro.Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-
Modernisierungs-gesetz - GMG - vom 14.11.2003, BGBl I 2190) begründete zum 1.1.2004
auch Zuzahlungspflichten ua für Alhi-Bezieher. Deshalb hob die Beklagte den
Befreiungsbescheid mit Wirkung zum 1.1.2004 auf: Die Voraussetzungen für die Befreiung
seien entfallen. Nach den ab dem 1.1.2004 geltenden Vorschriften seien an gesetzlichen
Zuzahlungen maximal 2 vH der Gesamtbruttoeinnahmen des Familienhaushaltes jährlich zu
entrichten. Bei schwerwiegenden chronischen Erkrankungen verringere sich die individuelle
Belastungsgrenze auf 1 vH der Bruttoeinnahmen. Sobald mit den gesetzlichen Zuzahlungen
im Jahre 2004 die Belastungsgrenze erreicht werde, werde eine Befreiung für den Rest des
Jahres geprüft (Bescheid vom 16.12.2003; Widerspruchsbescheid vom 18.2.2004). Die
Beklagte berechnete für den Kläger tatsächliche Jahresbruttoeinkünfte von 6.757,66 Euro und
befreite ihn als chronisch Kranken von über 67,58 Euro hinausgehenden weiteren
Zuzahlungen für den Rest des Jahres 2004 (Bescheid vom 28.10.2004). Sie erstattete ihm
eine Überzahlung von 2,42 Euro. Entsprechend verfuhr die Beklagte in den Jahren 2005 und
2006, jeweils ausgehend von Jahresbruttoeinkünften von 4.140 Euro und einer
Jahresbelastungsgrenze von 41,40 Euro (Befreiungsbescheide vom 11.6.2005 und
20.2.2006). Der Kläger erhält seit dem 1.1.2005 Leistungen nach dem SGB II (monatliche
Regelleistung 345 Euro zuzüglich Leistungen für Unterkunft und Heizung).
3 Der Kläger hat sich mit seiner Klage beim Sozialgericht (SG) und seiner Berufung beim
Landessozialgericht (LSG) erfolglos darauf berufen, er werde durch die Zuzahlungen
unzumutbar und verfassungswidrig belastet, weil sein Existenzminimum nicht mehr
gewährleistet sei (SG-Urteil vom 24.11.2005; LSG-Urteil vom 22.6.2006). Das LSG hat zur
Begründung ua ausgeführt, er sei bei der Beklagten krankenversichert und habe deshalb
Anspruch auf die Gewährung notwendiger und ausreichender Leistungen zum Schutz seiner
Gesundheit. Die Bemessung der Regelleistungen nach § 20 Abs 2 SGB II solle nicht allein
der Deckung eines Primärbedarfs (Nahrung und Bekleidung) dienen, sondern enthalte auch
Anteile für Gesundheitspflege, Kultur etc. Bei Bedarfsunterdeckung bestehe die Möglichkeit
einer Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs 1 SGB II.
4 Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung seiner Menschenwürde (Art 1 Abs 1 GG
iVm Art 20 Abs 1 GG), seines Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art 2 Abs 2
GG), des Gleichheitssatzes (Art 3 Abs 1 GG) und der §§ 1 und 27 SGB V. Auch eine
einprozentige Zuzahlung sei ihm nicht zumutbar. Das GMG habe in die Regelsätze nach § 1
Abs 1 Satz 2 Regelsatzverordnung (RSV) auch Leistungen für Kosten bei Krankheit
einbezogen, ohne die Regelsätze zu erhöhen. Es habe ausgeschlossen, einen bisher noch
unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) möglichen ergänzenden
Krankheitsbedarf zu erlangen. Die Verringerung des ohnehin geringen Einkommens
reduziere gleichheitswidrig die Lebenserwartung. Auch die ab 1.1.2005 bezogene
Regelleistung nach § 20 Abs 2 SGB II, die § 28 SGB XII entspreche, sei systemwidrig zu
gering. Der Gesetzgeber habe nicht den durchschnittlichen Monatsaufwand aller Haushalte
mit einem Nettomonatseinkommen unter 1.800 DM nach der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe (EVS) 1998 für Gesundheitspflege (36 DM) vollständig zugrunde
gelegt, sondern lediglich teilweise, in Höhe von 24,10 DM. Hierfür fehle es an einer
tragfähigen Grundlage.
5 Der Kläger beantragt sinngemäß ,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Juni 2006 und des
Sozialgerichts Mainz vom 24. November 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16.
Dezember 2003 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 18. Februar 2004, ferner die
Bescheide zur Belastungsgrenze vom 28. Oktober 2004, 11. Juni 2005 und 20. Februar 2006
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die seit 2004 bis 2006 geleisteten
Zuzahlungen in Höhe von 150,38 Euro zu erstatten.
6 Die Beklagte beantragt ,
die Revision zurückzuweisen.
7 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8 Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung
des Klägers gegen das klageabweisende SG-Urteil zurückgewiesen, denn der Kläger hat
keinen Anspruch auf Fortdauer der Befreiung von der Zuzahlungspflicht über den
31.12.2003 hinaus. Deshalb kann er auch nicht Erstattung der von 2004 bis 2006 gemäß §
62 SGB V geleisteten Zuzahlungen in Höhe von 150,38 Euro verlangen.
9 1. Die Beklagte war allerdings nicht verpflichtet, den gemäß § 61 SGB V aF ergangenen
Befreiungsbescheid vom 28.9.2000 über die Befreiung von der Verpflichtung, Zuzahlungen
zu leisten, mit Wirkung zum 1.1.2004 nach § 48 Abs 1 SGB X aufzuheben.
Befreiungsbescheide nach § 61 SGB V aF gehen ab 1.1.2004 ins Leere, denn sie wurden
mit diesem Zeitpunkt gegenstandslos. Art 1 Nr 39 und 40 GMG hat mit Wirkung vom 1.1.2004
die bis zum Ablauf des 31.12.2003 geltende Regelung in § 61 und § 62 SGB V aF ersatzlos
beseitigt. Das GMG hat mit Wirkung vom 1.1.2004 (vgl Art 37 Abs 1 iVm Abs 2 bis 10 GMG)
die genannten Bestimmungen neu "gefasst" (vgl zur Bedeutung BSG SozR 4-2500 § 58 Nr 1
RdNr 10 mwN). Ab diesem Zeitpunkt bedarf es völlig anders gearteter, auf die neue
Rechtslage bezogener Bescheide nach der abweichend gefassten neuen Regelung in § 62
SGB V. Das folgt nicht nur aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik, sondern
vor allem aus dem Ziel der Regelung, ab 1.1.2004 die Belastungsgerechtigkeit dadurch zu
verbessern, dass grundsätzlich alle Beteiligten in die Zuzahlungsregelungen einbezogen
werden sollten (vgl GMG-Entwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, BT-Drucks 15/1525, S 71) . Auch die Betrachtung der Rechtsfolgen spricht dafür,
dass mit Inkrafttreten des neuen Regelungskonzepts am 1.1.2004 die Befreiungsbescheide
nach § 61 SGB V aF gegenstandslos wurden (vgl entsprechend zum Wegfall des
Regelungsobjekts des Verwaltungsakts BSG SozR 3-1300 § 39 Nr 7 S 7, 13 ff). Andernfalls
hätten Betroffene die Möglichkeit gehabt, sich unter Hinweis auf die fehlende Bekanntgabe
von Aufhebungsbescheiden oder die aufschiebende Wirkung eingelegter Rechtsmittel - für
den Fall unterlassener Anordnung der sofortigen Vollziehung - der Geltung der Neuregelung
ab 1.1.2004 zu entziehen. Eine solche - ungerechtfertigte Ungleichheit erzeugende -
Regelung hat der Gesetzgeber indes ersichtlich nicht gewollt. Vielmehr hat er vollständig
neue Befreiungsregelungen geschaffen. In einem solchen Fall wirken sich die Grundsätze
über den Selbstvollzug von Gesetzen nicht aus, die die Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) entwickelt hat (vgl zB BSG, Urteil vom 30.08.2007 - B 10 LW
4/06 R - RdNr 13, zur Veröffentlichung vorgesehen; BSGE 77, 253, 258 f = SozR 3-8570 §
13 Nr 1 S 6 f; BSGE 65, 185, 188 f = SozR 1300 § 48 Nr 57 S 174).
10 Obwohl Befreiungsbescheide nach §§ 61 und 62 SGB V aF zum 1.1.2004 nicht durch
Bescheid aufgehoben werden mussten, beschweren dennoch erlassene
Aufhebungsbescheide ihre Adressaten regelmäßig nicht rechtswidrig. Sie verweisen
vielmehr zutreffend auf die neue Rechtslage. So liegt es hier. Mit dem 1.1.2004 haben sich
die Zuzahlungspflichten - auch für den Kläger - wesentlich geändert. Während nach der bis
zum 31.12.2003 geltenden Rechtslage (§ 61 Abs 2 Nr 2 SGB V aF) ua Bezieher von Alhi von
Zuzahlungen zu befreien waren (§ 61 Abs 1 und Abs 2 Nr 2 SGB V aF), unterliegen sie ab
1.1.2004 grundsätzlich der Zuzahlungspflicht. Dies ergibt sich aus § 62 SGB V in seiner ab
1.1.2004 gültig gewesenen Neufassung durch Art 1 Nr 40 GMG (geändert mit Wirkung vom
6.8.2004 durch Art 4 Nr 1 des Kommunalen Optionsgesetzes vom 30.7.2004, BGBl I 2014).
Danach haben Versicherte während jedes Kalenderjahres nur Zuzahlungen bis zur
Belastungsgrenze zu leisten. Wird die Belastungsgrenze bereits innerhalb eines
Kalenderjahres erreicht, hat die Krankenkasse eine Bescheinigung darüber zu erteilen, dass
für den Rest des Kalenderjahres keine Zuzahlungen mehr zu leisten sind. Die
Belastungsgrenze beträgt 2 vH der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt; für
chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung
sind, beträgt sie 1 vH der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt (vgl § 62 Abs 1
Satz 1 und 2 SGB V).
11 Das Gesetz geht davon aus, dass der Versicherte eine Zuzahlung über die
Belastungsgrenze hinaus durch eine zeitgerecht erteilte Bescheinigung vermeiden und
diese Bescheinigung ggf im Wege einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage
gerichtlich erwirken kann. Hat er Zuzahlungen bereits über die maßgebliche
Belastungsgrenze hinaus geleistet, weil die Krankenkasse die Grenze nicht rechtzeitig oder
in einer zu großen Höhe bescheinigt hat, sind Zuzahlungen über die Belastungsgrenze
hinaus aufgrund des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs zu erstatten.
Bei Berechnung der Belastungsgrenze für Zuzahlungen sind die Bruttoeinnahmen zum
Lebensunterhalt des laufenden Kalenderjahres zugrunde zu legen (vgl BSG SozR 4-2500 §
62 Nr 1 Leitsatz und RdNr 10) . Der hierauf gerichtete Anspruch ist grundsätzlich im Wege
einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage durchzusetzen (vgl BSG SozR 3-2500
§ 61 Nr 7 S 32; BSG SozR 4-2500 § 62 Nr 2 RdNr 8).
12 Nach diesen gesetzlichen Vorgaben ist die Beklagte auch vorgegangen. Sie hat jeweils
jährlich nach § 62 Abs 2 SGB V ausgehend von den Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt
die Belastungsgrenze berechnet, ab deren Erreichen sie den Kläger von weiteren
Zuzahlungen befreit und Überzahlungen erstattet. Die rechnerische Richtigkeit dieses
Vorgehens zieht der Kläger nicht in Zweifel. Er beruft sich jedoch darauf, die ab 1.1.2004
geltende gesetzliche Regelung sei verfassungswidrig, weil sie zu einer Versorgung
unterhalb des Existenzminimums führe. Der erkennende Senat hat dieses Vorbringen
umfassend zu prüfen (dazu 2.). Er kann sich indes von der Verfassungswidrigkeit der
gesetzlichen Regelung nicht überzeugen, und zwar weder für das Jahr 2004 (dazu 3.) noch
für die betroffene folgende Zeit vom 1.1.2005 bis zum 22.6.2006 (dazu 4. bis 7.).
13 2. Der erkennende Senat hat nach Art 100 Abs 1 GG umfassend zu prüfen, ob die
gesetzliche Gesamtregelung wegen Unterschreitung des Existenzminimums die Verfassung
verletzt. Hält ein Gericht nämlich ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung
ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die
Verletzung des GG handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen
(Art 100 Abs 1 Satz 1 GG).
14 a) Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung ist die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit von
Zuzahlungsregelungen in der GKV.Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG und
des erkennenden Senats sind die gesetzlichen Krankenkassen weder nach dem SGB V
noch von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder
Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist ( vgl BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 §
27 Nr 5 RdNr 27; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1997, 3085;
BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, jeweils RdNr 28 f mwN; zuletzt BSG, Urteil vom
28.2.2008 - B 1 KR 16/07 R - RdNr 46 - Lorenzos Öl, zur Veröffentlichung vorgesehen). Der
Leistungskatalog der GKV darf vielmehr auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen
mitbestimmt sein (vgl BVerfGE 68, 193, 218 = SozR 5495 Art 5 Nr 1; 70, 1, 26, 30 = SozR
2200 § 376d Nr 1). Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für
gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl BVerfGE 103, 172, 184 = SozR
3-5520 § 25 Nr 4). Dem Gesetzgeber ist es im Rahmen seines Gestaltungsspielraums
grundsätzlich erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der
Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu
bestimmten Leistungen zu beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell
zugemutet werden kann (vgl BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 27;
BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7.3.1994 - 1 BvR 2158/93 -NJW
1994, 3007; BVerfGE 70, 1, 26, 30 = SozR 2200 § 376d Nr 1).
15 Entsprechende Rechtsänderungen sind verfassungsrechtlich mit Wirkung für die Zukunft
zulässig, sofern sie nicht verfassungsrechtlich geschütztes Vertrauen in die
Aufrechterhaltung des zuvor geltenden Rechts verletzen, insbesondere nicht den
Krankenversicherungsschutz insgesamt entwerten (vgl zB BVerfGE 69, 272, 309 f = SozR
2200 § 165 Nr 81 S 132; BSG SozR 4-2500 § 58 Nr 1 RdNr 20 f mwN) . Davon kann aber bei
einer Änderung der Zuzahlungsregelungen - wie hier - keine Rede sein, die den eigentlichen
Kern der GKV-Leistungen nicht berührt (vgl dazu auch BSG, Urteil vom 22.4.2008 - B 1 KR
18/07 R -).
16 b) Dem Einzelnen ist eine Zuzahlung allerdings nicht mehr zumutbar, wenn damit in sein
verfassungsrechtlich gesichertes Existenzminimum eingegriffen wird. Ob die gesetzliche
Regelung in dieses Existenzminimum eingreift, lässt sich nur unter Würdigung der gesamten
gesetzlichen Regelungskonzeption beurteilen. Andernfalls könnte der mit der Verfassung
verbürgte Rechtsschutz nach Art 100 Abs 1 Satz 1 GG unterlaufen werden. Der isolierte
Blick auf einzelne Regelungsteile vermag nicht Defizite aufzudecken, die sich erst aus dem
Zusammenspiel aller Regelungen ergeben (vgl dazu BVerfGE 102, 127, 140 = SozR 3-2400
§ 23a Nr 1, dort insoweit nicht abgedruckt; BVerfGE 85, 337, 340; BVerfGE 82, 60, 84 =
SozR 3-5870 § 10 Nr 1; ebenso bereits BSGE 92, 46 RdNr 28 ff = SozR 4-2500 § 61 Nr 1
RdNr 29 ff) . Art 100 Abs 1 Satz 1 GG gebietet den Gerichten vielmehr, beim untrennbaren
Zusammenwirken gesetzlicher Einzelregelungen in einem Normengeflecht den gesamten
einschlägigen Normenkomplex verfassungsrechtlich zu prüfen.
17 c) Die Notwendigkeit, alle einschlägigen Gesetzesregelungen einzubeziehen, wird
vorliegend besonders daran deutlich, dass der Gesetzgeber des GMG nicht nur das Recht
der Zuzahlungen in §§ 61 und 62 SGB V grundlegend änderte und GKV-Leistungen
einschränkte (vgl BT-Drucks 15/1525 S 76 f) , sondern zugleich § 38 Abs 2 BSHG aF strich
und § 1 Abs 1 Satz 2 der RSV änderte (Art 28 Nr 4 Buchst c; Art 29 GMG). Damit sollten
Sozialhilfeempfänger bei den Zuzahlungen den Versicherten in der GKV gleichgestellt
werden (vgl BT-Drucks 15/1525 S 167 zu Art 28 Nr 4 Buchst c). Die Zuzahlungen sollten aus
dem Regelsatz zu decken sein (vgl BT-Drucks 15/1525 S 167 zu Art 29). Sofern die
Belastungsgrenze nach § 62 SGB V in Einzelfällen innerhalb eines kurzen Zeitraumes
erreicht würde, sollten Sozialhilfeträger Kosten darlehensweise übernehmen können (vgl
BT-Drucks 15/1525 S 167 zu Art 28 Nr 4 Buchst c). Diese Konzeption wirkte bei der
Koordinierung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch das SGB II fort (vgl dazu unten, 7a ff).
Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Gesamtregelung könnte ein Gericht nicht
beurteilen, wäre es auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit allein des § 62 SGB V
beschränkt.
18 3. Für den ersten Zeitabschnitt, das Jahr 2004, bezog der Kläger nach den Feststellungen
des LSG Alhi. Sie belief sich nach dem Inhalt des in den Akten befindlichen
Bewilligungsbescheides grundsätzlich auf wöchentlich 148,19 Euro, kalendertäglich 21,17
Euro und mithin für 30 Tage auf jeweils 635,10 Euro, 53 % des Leistungsentgelts (§ 195 Satz
1 Nr 2 SGB III aF). Nach der Berechnung der Belastungsgrenze durch die Beklagte erhielt
der Kläger an einzelnen Tagen des Jahres 2004 jedoch lediglich 9,90 Euro, insgesamt
6.757,66 Euro. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass der Kläger in vollem Umfang zu
Leistungen der GKV berechtigt war, ohne mit Beiträgen belastet zu sein. Er war bis zum
31.12.2004 wegen des Bezugs von Alhi in der GKV versicherungspflichtig (§ 5 Abs 1 Nr 2
SGB V aF). Der Bund hatte für ihn die Beiträge zu tragen (§ 251 Abs 4 SGB V aF).
19 Es ist in keiner Weise ersichtlich, dass Alhi-Zahlungen in dieser Höhe, die nahezu das
Doppelte des Regelsatzes für einen Haushaltsvorstand in Rheinland-Pfalz betrugen,
zusammen mit für den Kläger kostenfreiem Krankenversicherungsvollschutz sein
Existenzminimum unterschritten. Die sich aus Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip
ergebende Pflicht des Staates zur Fürsorge für Hilfsbedürftige erfordert von Verfassungs
wegen zwingend nur eine Hilfe, die die Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen
Daseins sicherstellt (vgl BVerfGE 40, 121, 133 = SozR 2400 § 44 Nr 1; 43, 13, 19 = SozR
2200 § 1280 Nr 1; 45, 187, 228; 82, 60, 80 = SozR 3-5870 § 10 Nr 1; BVerfG, Beschluss vom
12.6.1991 - 1 BvR 540/91 - juris RdNr 4; näher dazu unten, 7.). Das wirtschaftliche
Existenzminimum des Klägers hätte im Jahr 2004 notfalls durch laufende Hilfe zum
Lebensunterhalt in Form des Regelsatzes nach § 22 BSHG gesichert werden können (zu
dieser Sicherungsform vgl BVerfG, Beschluss vom 12.6.1991, ebenda) , welche sich auf
weniger als die Hälfte der dem Kläger regelmäßig gezahlten Alhi belief. Für eine
Unterschreitung des Existenzminimums im Jahr 2004 ist danach nichts ersichtlich.
20 4. Auch für die folgende Zeit vom 1.1.2005 bis zum 22.6.2006 bewirkte die
Zuzahlungsregelung nicht, dass das Existenzminimum des nunmehr SGB II-Leistungen
beziehenden Klägers unterschritten wurde.
21 a) Die Gesetzeslage änderte sich mit dem 1.1.2005 allerdings wie folgt: Durch das Vierte
Gesetz für moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I 2954) traten die
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende an die Stelle der Alhi. Die Regelleistung
nach § 20 SGB II ist Bestandteil des Arbeitslosengeldes II (Alg II), das nach § 19 Satz 1 SGB
II daneben auch Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) sowie weitere
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst. Die Regelleistung umfasst nach §
20 Abs 1 Satz 1 SGB II (in der bis zum 30.6.2006 geltenden Fassung) insbesondere
Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Bedarfe des täglichen Lebens sowie in
vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen
Leben. Ihre Höhe richtete sich bis zum 30.6.2006 für Alleinstehende nach § 20 Abs 2 SGB II
und betrug 345 Euro monatlich.
22 § 20 Abs 4 Satz 1 SGB II schreibt vor, dass die Regelleistung jeweils zum 1.7. eines Jahres
um den Prozentsatz angepasst wird, um den sich der aktuelle Rentenwert in der
gesetzlichen Rentenversicherung verändert. Die Regelleistung wird überprüft und ggf
weiterentwickelt, sobald die Ergebnisse einer neuen EVS vorliegen (§ 20 Abs 4 Satz 2 SGB
II iVm § 28 Abs 3 Satz 5 SGB XII). Neben die Regelleistung und die Leistung für Unterkunft
und Heizung (§ 22 SGB II) treten nach der Gesetzeskonzeption zunächst Leistungen wegen
unterschiedlichen Mehrbedarfs nach Maßgabe von § 21 SGB II, Leistungen für verschiedene
Erstausstattungen (§ 23 Abs 3 SGB II), ein befristeter Zuschlag nach Maßgabe von § 24 SGB
II und ein Zuschuss zu Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen nach Maßgabe
von § 26 SGB II. Weiterhin sind zB in atypischen Bedarfslagen, die eine gewisse Nähe zu
den in den §§ 47 bis 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweisen, auch Hilfen in
sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII möglich (BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1,
jeweils RdNr 22; vgl im Übrigen etwa zur Hilfe zur Pflege BSG, Urteile vom 11.12.2007 - B
8/9b SO 13/06 R - RdNr 19; - B 8/9b SO 12/06 R - RdNr 16, zur Veröffentlichung
vorgesehen) . Hinzu kommen schließlich verschiedene Leistungen zur Eingliederung nach
Maßgabe der §§ 16 und 29 SGB II sowie als Darlehen zu gewährende Leistungen nach § 23
Abs 1 SGB II.
23 b) Der Kläger hat nicht im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen speziell bei ihm sein
wirtschaftliches Existenzminimum durch die ihm nach dem SGB II zur Verfügung gestellten
Leistungen unterschritten sei. Er hat weder seine persönliche wirtschaftliche Situation,
insbesondere seine Vermögensverhältnisse und Belastungen beschrieben noch seinen
individuellen Lebensbedarf erläutert. Er beschränkt sich vielmehr auf die allgemein
gehaltene, mit Rechtsgründen untermauerte Kritik, der Gesetzgeber habe zunächst in § 20
Abs 2 SGB II die Höhe der Regelleistung festgelegt und erst später die Neubemessung der
Regelsätze vorgenommen. Dieses Verfahren sei zur verlässlichen Bedarfsmessung
ungeeignet. Die Bemessung der Regelleistung sei nicht hinreichend realitätsbezogen,
transparent und nachprüfbar. Der Gesetzgeber habe zudem dadurch in das
Existenzminimum eingegriffen, dass er die Leistungskürzungen des GMG mit der neuen
Zuzahlungsregelung nach § 62 SGB V gekoppelt habe, ohne die Regelsätze entsprechend
dem gestiegenen Bedarf zu erhöhen.
24 5. Die verfassungsrechtlichen Einwendungen des Klägers greifen nicht durch, weder unter
Berücksichtigung allgemeiner Grundsätze (dazu 5.a) noch der speziellen Beanstandungen
des Klägers (dazu 5. b, 6. und 7.).
25 a) Das BSG hat bereits entschieden, dass das SGB II als Gesetz formell verfassungsgemäß
zustande gekommen ist und die Überführung von Alhi nach dem SGB III in Leistungen der
Grundsicherung nach dem SGB II auch materiell verfassungsgemäß ist. Insbesondere liegt
kein Verstoß gegen Art 14 GG, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das
Rückwirkungsverbot und den Schutz des Vertrauens vor (vgl BSG, Urteile vom 23.11.2006,
SozR 4-4200 § 20 Nr 3 , SozR 4-4200 § 11 Nr 2 , SozR 4-4300 § 428 Nr 3 sowie - B 11b AS
17/06 R und - B 11b AS 25/06 R -; vgl hierzu auch BVerfG, 1. Senat 3. Kammer, Beschluss
vom 7.11.2007 - 1 BvR 1840/07 - sowie Wenner, SozSich 2008, 36 ff ) . Die Einführung einer
Mischverwaltung durch § 44b SGB II ist nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl BVerfG,
Urteil vom 20.12.2007 - 2 BvR 2433/04, 2 BvR 2434/04 - NZS 2008, 198 = NVwZ 2008, 183
= BayVBl 2008, 201 ) für einen Übergangszeitraum bis längstens zum 31.12.2010
hinzunehmen, wenn der Gesetzgeber nicht zuvor eine andere Regelung trifft. Der
erkennende Senat verweist insoweit auf diese Rechtsprechung und schließt sich ihr an.
26 b) Der erkennende Senat kann sich auch nicht von der verfassungswidrigen Vorenthaltung
des Existenzminimums überzeugen, soweit der Kläger spezifische Belastungen durch die
begrenzte Höhe der Regelsätze nach § 20 Abs 2 SGB II in Kombination mit den
Leistungsbeschränkungen des GMG und der hierbei vorgesehenen Ausdehnung der
Zuzahlungsregelungen auf Bezieher von (Sozialhilfe oder) Alg II nach § 62 SGB V geltend
macht. Der Gesetzgeber hat aus Sachgründen die Zuzahlungsregelung auch für Bezieher
von SGB II-Leistungen eingeführt (dazu 6.), ohne gegen den verfassungsrechtlichen Schutz
des Existenzminimums zu verstoßen (dazu 7.).
27 6. Die gesetzliche Einbeziehung der Empfänger von SGB II-Leistungen in die
Zuzahlungsregelungen beruht auf sachlichen Gründen, ohne dem allgemeinen
Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG zu widersprechen (zu dessen Anforderungen vgl
allgemein BVerfGE 112, 50, 67 = SozR 4-3800 § 1 Nr 7 RdNr 55 mwN; BVerfGE 117, 316,
325 = SozR 4-2500 § 27a Nr 3 RdNr 31; BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 4 RdNr 9 mwN; vgl
auch BSG, Urteil vom 28.2.2008 - B 1 KR 16/07 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Mit
der Änderung der Zuzahlungsregelungen zielte der Gesetzgeber nämlich - wie dargelegt -
darauf ab, die Belastungsgerechtigkeit dadurch zu verbessern, dass grundsätzlich alle
Beteiligten in die Zuzahlungsregelungen einbezogen werden sollten (vgl BT-Drucks
15/1525, S 71) . Die Versicherten sollten künftig eine angemessene Beteiligung an ihren
Krankheitskosten tragen. Die Überforderungsregelungen sollten vor unzumutbaren
finanziellen Belastungen schützen. Zugleich wurden Bonusregelungen für Versicherte neu
eingeführt, die an präventiven Maßnahmen oder an besonderen Versorgungsformen
teilnehmen (§ 65a SGB V). Für die bislang nach § 61 SGB V aF vollständig befreiten
Empfänger von Fürsorgeleistungen nach dem BSHG, der Kriegsopferfürsorge oder dem
Grundsicherungsgesetz sollten als Bruttoeinnahmen für die Bedarfsgemeinschaft der
Regelsatz des Haushaltsvorstands nach der RSV zu berücksichtigen sein (BT-Drucks
15/1525, S 95) . Mit dieser Regelungskonzeption wollte der Gesetzgeber nicht allein eine
spürbare Entlastung der GKV (BT-Drucks 15/1525, S 71) , sondern eine Steuerungswirkung
erreichen, um strukturellen Mängeln entgegenzuwirken, die zunehmend zu einer Fehlleitung
von Mitteln führten. Der Gesetzgeber war der Überzeugung, die durch den bisherigen
Ausgabenanstieg entstandene Finanzierungslücke könne nicht einfach nur durch eine
weitere Steigerung der Beitragssätze finanziert werden, die zwangsläufig zu höheren
Arbeitskosten und zu einer steigenden Arbeitslosigkeit führe. Zentrale medizinische
Leistungen zu rationieren, lehnte er strikt ab. Er zog es vor, durch strukturelle Reformen
Effektivität und Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern und gleichzeitig alle
Beteiligten maßvoll in Sparmaßnahmen einzubeziehen. Dabei wollte der Gesetzgeber eine
angemessene Beteiligung der Versicherten an ihren Krankheitskosten, bei der auf soziale
Belange Rücksicht genommen wird, um durch Effizienzsteigerung Beitragssatzsenkungen
zu ermöglichen und zu gewährleisten, dass auch weiterhin eine qualitativ hochwertige
medizinische Versorgung für alle Versicherten der GKV erbracht wird (vgl BT-Drucks
15/1525, S 71) . Die Steuerungswirkung von Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen hat die
Rechtsprechung bereits in der Vergangenheit als verfassungsgemäß angesehen (vgl
BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 27; BSGE 92, 46 RdNr 33 = SozR 4-2500 §
61 Nr 1 RdNr 32 mwN; zur Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil vgl
BVerfG 1. Senat 3. Kammer, Beschluss vom 12.9.2007 - 1 BvR 1098/04; BSGE 75, 171, 174
= SozR 3-2500 § 61 Nr 6 S 29; siehe auch Schlegel in jurisPK-SGB V § 1 RdNr 79).
28 7. Mit dem vom Kläger angegriffenen Maßnahmenbündel hat der Gesetzgeber keine
Regelungen erlassen, die das verfassungsrechtlich gewährleistete Existenzminimum
unterschreiten. Das GG garantiert mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot (Art 1
Abs 1 und Art 20 Abs 1), dass dem Einzelnen das Existenzminimum gewährleistet wird.
Zwar sind die Grundrechte in erster Linie als Abwehrrechte konzipiert (vgl zB BVerfGE 7,
198, 204; 20, 150, 154 ff; 21, 362, 369; 50, 290, 336 f; 61, 82, 101; 68, 193, 205 = SozR 5495
Art 5 Nr 1). In einer mit der Entscheidung zum "numerus clausus" (BVerfGE 33, 303, 333)
einsetzenden Rechtsentwicklung hat das BVerfG indes auch einen leistungsrechtlichen
Charakter der Grundrechte ausgeformt (unterstützend die Literatur, vgl zB Geddert-
Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S 103 f; Häberle, Rechtstheorie
11 <1980> 389, 397; Hofmann, AöR 118 <1993>, 353, 363; Kirchhof, EuGRZ 1994, 16, 21;
Starck, JZ 1981, 457, 459; Wallerath, JZ 2008, 157, 158 ff, alle mwN) . Ähnlich enthält der in
Art 20 Abs 1 GG verankerte Sozialstaatsgrundsatz vor allem einen Gestaltungsauftrag an
den Gesetzgeber (vgl schon BVerfGE 1, 97, 105 = SozR Nr 1 zu Art 1 GG S Ab 2R f).
Angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit lässt sich daraus regelmäßig kein Gebot
entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend ist
lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein
seiner Bürger schafft (BVerfGE 82, 60, 80 = SozR 3-5870 § 10 Nr 1) . Dementsprechend
garantiert das Zusammenspiel der Unantastbarkeit der Menschenwürde und des
Sozialstaatsgebots verfassungsrechtlich die Gewährleistung eines Existenzminimums. Der
Staat ist nach diesen Verfassungsnormen verpflichtet, dem mittellosen Bürger die Existenz
sozialrechtlich durch staatliche Fürsorge zu sichern ( vgl BVerfGE 40, 121, 133 = SozR 2400
§ 44 Nr 1; 43, 13, 19 = SozR 2200 § 1280 Nr 1; 45, 187, 228; 82, 60, 80 = SozR 3-5870 § 10
Nr 1 ).
29 a) Zu Recht zieht der Kläger im Grundsatz nicht in Zweifel, dass der Gesetzgeber mit den
Regelungen - früher des BSHG und nunmehr - des SGB XII und II dieser Aufgabe
nachgekommen ist. Insbesondere hat er im Rahmen des hier allein - im Zusammenhang mit
der Zuzahlungsregelung - zur Prüfung gestellten SGB II mit den oben dargelegten
Möglichkeiten, der individuellen Situation des Bedürftigen Rechnung zu tragen, unter
gleichzeitiger Erhöhung des pauschalen Regelsatzes als Geldleistung eine
verfassungskonforme, die Menschenwürde achtende Gestaltungsform gewählt. Sie soll dem
Einzelnen erlauben, nach seinen eigenen Bedürfnissen in einem allerdings bescheidenen
Rahmen Auswahlentscheidungen zu treffen. Dem liegen die Erfahrungen des Gesetzgebers
damit zugrunde, den früher durch Einmalleistungen abgedeckten Individualbedarf zu
pauschalieren (vgl dazu näher Entwurf eines Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts
in das Sozialgesetzbuch der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks
15/1514 S 59, zu § 29). Ziel der Erfahrungssammlung auf der Grundlage der
Experimentierklausel des § 101a BSHG (idF vom 25.6.1999, BGBl I 1442) war es, durch
Einführung weiterer Pauschalen neben einer Verwaltungsvereinfachung die
Dispositionsfreiheit und Selbstständigkeit bei den Hilfeempfängern zu stärken. An den
hierbei gewonnenen Ergebnissen ist nicht nur die weitgehende Einbeziehung ehemaliger
Einmalleistungen in die Regelsätze des SGB XII orientiert (vgl BT-Drucks 15/1514 S 59, zu §
29). Vielmehr entspricht dem auch im Wesentlichen die Regelung im SGB II, die im SGB XII
das maßgebliche Referenzsystem für alle bedarfsorientierten und bedürftigkeitsabhängigen
staatlichen Fürsorgeleistungen sieht (vgl Entwurf eines Vierten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-
Drucks 15/1516 S 56 f, zu § 20 und zu § 21).
30 b) In Fällen eines unabweisbaren, nicht anders abdeckbaren Bedarfs an Leistungen der
GKV, die von Zuzahlungen abhängen, kann sich aus § 23 Abs 1 Satz 1 SGB II für SGB II-
Leistungsbezieher ein Anspruch darauf ergeben, dass sie den für Zuzahlungen nach § 62
SGB V erforderlichen Betrag darlehensweise erhalten. Das Darlehen ist unverzinslich und in
monatlichen Raten zu tilgen. Das bewirkt, dass bei kostenaufwändigeren GKV-Leistungen,
bei denen ggf bereits bei der ersten Inanspruchnahme die gesamte zumutbare Zuzahlung zu
leisten ist, die Zuzahlungslast durch das Darlehen auf zwölf Monate verteilt werden kann.
Dies entspricht sowohl der gesetzlichen Vorstellung des SGB II, Monatsleistungen zu
erbringen, als auch derjenigen des § 62 SGB V, für die Belastungsgrenze von der jeweils
zumutbaren Jahresbelastung auszugehen (vgl bereits oben, 2 c) . Würde dem Betroffenen
das Darlehen vorenthalten, könnte der Berechtigte innerhalb kürzester Zeit dessen
Gewährung kostenfrei im Wege einstweiligen Rechtsschutzes durchsetzen. Das bedeutet im
Ergebnis, dass der Kläger mit Hilfe der Inanspruchnahme des Darlehens erreichen kann,
dass er den Zuzahlungsbetrag von 41,40 Euro nicht vollständig auf einmal im Jahr entrichten
muss, sondern nur in monatlichen Raten zu jeweils 3,45 Euro.
31 c) In welcher Mindesthöhe das sozialrechtlich zu gewährende Existenzminimum
verfassungsrechtlich gesichert ist, hat das BVerfG bisher nicht ausdrücklich festgelegt, denn
es ist nach der Konzeption des Art 1 Abs 1 GG und Art 20 Abs 1 GG in erster Linie Sache
des Gesetzgebers, die Höhe des verfassungsrechtlich gesicherten Existenzminimums
auszugestalten. Ebenso, wie die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums
von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft
anerkannten Mindestbedarf abhängt (BVerfGE 87, 153, 169) , liegt es bei dem
verfassungsrechtlich durch Sozialleistungen zu sichernden Existenzminimum. Dieses
einzuschätzen ist Aufgabe des Gesetzgebers (vgl auch BVerfGE 99, 246, 259). Dabei hat
der Gesetzgeber nicht nur die Werteordnung des GG, sondern auch die jeweiligen
gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die von vornherein starre
Grenzziehungen verbieten. Der Gesetzgeber verfügt zudem über durchaus unterschiedliche
Spielräume, je nachdem, welche Sicherungszwecke er verfolgt, wenn er dem Einzelnen
Sozialleistungen zur Führung seines Lebens einräumt. Je näher sich der Gesetzgeber den
denkbar untersten verfassungsrechtlichen Grenzen nähert, desto geringer wird sein
Spielraum.Das bedeutet, dass der Gesetzgeber bei wirtschaftlichem Wohlstand in
Deutschland, bei einer von Überfluss an materiellen Gütern geprägten Gesellschaft,
verfassungsrechtlich verpflichtet ist, in Würdigung der Menschenwürde (Art 1 Abs 1 GG) und
des Schutzgebotes aus Art 2 Abs 2 GG im Inland lebenden Bedürftigen jedenfalls das zur
physischen Existenz Unerlässliche - neben immaterieller Achtung - zu gewähren. Zu diesem
das "nackte Überleben" sichernden "physischen Existenzminimum" gehören jedenfalls
ausreichende Nahrung, Kleidung und Obdach sowie auch ausreichende medizinische
Versorgung. Die unabänderliche Bestimmung absoluter Geldbeträge oder die Aufzählung
und Beschreibung einzelner konkreter Leistungen ist jedoch selbst beim "physischen
Existenzminimum" nicht möglich, da auch dessen Realisierung von den wirtschaftlichen
Möglichkeiten und dem Machbaren abhängt. In umfassenden Notsituationen, die alle Bürger
betreffen, ist auch das GG nicht in der Lage, eine - wünschenswerte, aber unfinanzierbare -
Mindestsicherung in konkreter Höhe zu garantieren, ohne dass der Rückgriff auf das
Existenzminimum der dann noch verbliebenen Steuerzahler drohte (zur Unzulässigkeit vgl
zB zuletzt BVerfG, Beschluss vom 13.2.2008 - 2 BvL 1/06 - RdNr 104, anknüpfend an
BVerfGE 82, 60, 85 f, 94; 87, 153, 169 f; 99, 246, 259; 107, 27, 48; 112, 268, 281). Das GG
schützt nicht vor einem solchen Politikversagen.
32 d) Demgegenüber sind die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers größer, soweit es
nicht um die denkbar untersten verfassungsrechtlichen Mindestvoraussetzungen geht,
sondern darum, dem Einzelnen darüber hinaus ein am "allgemeinen Wohlstand" und seiner
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben orientiertes Mindestauskommen zu ermöglichen.
Jenseits der Bestimmung des "physischen Existenzminimums" steht es im
Gestaltungsermessen des Gesetzgebers, in welchem Umfang soziale Hilfe unter
Berücksichtigung der vorhandenen Mittel und anderer gleichrangiger Staatsaufgaben
gewährt werden kann und soll (vgl BVerfGE 40, 121, 133 = SozR 2400 § 44 Nr 1). Dabei
steht ihm, zumal es um die fürsorgerische Verteilung von Steuermitteln geht, ein weiter
Gestaltungsraum zu (vgl BVerfGE 59, 231, 263 mwN) .
33 e) Abgesehen von dieser Abstufung in der Weite der gesetzgeberischen
Gestaltungsspielräume besteht bisher in der Rechtsprechung keine Klarheit darüber, in
welcher Höhe die Verfassung Mindestsicherungen gebietet. Das Bundesverwaltungsgericht
(BVerwG) hat in seiner bisherigen Rechtsprechung - ausgehend von der gesetzlichen
Regelung in BSHG und SGB I - zwar ausgeführt, nach der Aufgabe der Sozialhilfe, dem
Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des
Menschen entspricht (§ 1 Abs 2 Satz 1 BSHG; vgl auch § 9 SGB I), umfasse der notwendige
Lebensunterhalt nach § 12 BSHG nicht nur das physiologisch Notwendige (vgl BVerwGE
35, 178, 180; 80, 349, 353), sondern den gesamten zu einem menschenwürdigen Leben
erforderlichen Bedarf (vgl BVerwGE 87, 212, 214 = Buchholz 436.0 § 22 BSHG Nr 8). Für die
verfassungsrechtlichen Untergrenzen hat es sich dagegen darauf beschränkt, darauf
hinzuweisen, die Pflicht des Staates zur Fürsorge für Hilfebedürftige erfordere von
Verfassungs wegen nur die Sicherstellung der Mindestvoraussetzungen eines
menschenwürdigen Lebens. Diesem Erfordernis genüge aber die (um das Kindergeld
gekürzte) Hilfe zum Lebensunterhalt in Verbindung mit dem Bezug des Kindergeldes (vgl
BVerwGE 94, 326, 328 ff = Buchholz 436.0 § 22 BSHG Nr 19). Das BVerfG hat es bisher
ebenfalls vermieden, unter den derzeitigen Bedingungen zwar ungleicher Güterverteilung
aber relativ günstiger gesamtwirtschaftlicher Verhältnisse Deutschlands überhaupt eine
verfassungsrechtlich begründete Untergrenze für die gesetzlich bestimmte
Mindestexistenzsicherung festzulegen.
34 f) In der Literatur werden hierzu sehr unterschiedliche Standpunkte eingenommen. Trotz
einiger Unsicherheiten über die Reichweite der verfassungsrechtlichen Grundlagen (vgl
generell: Zacher, in: Fiat iustitia, Recht als Aufgabe der Vernunft, Festschrift für Peter Krause,
2006, S 3, 10) , besteht zunächst Einigkeit nur darüber, dass das Existenzminimum als
subjektiv-öffentliches Recht vom Gesetzgeber auszugestalten ist. Einige Stimmen
beschränken sich allein auf diese Gewährleistung gesetzgeberischer Gestaltung, ohne
irgendeine weitere Untergrenze zu fixieren: Nur soweit das Gesetz dem Träger der Fürsorge
zugunsten des Bedürftigen Pflichten auferlegt, hat der Bedürftige nach dieser Ansicht
entsprechende Rechte (so im Anschluss an BVerwGE 1, 159, 162 und LS zurückhaltend
etwa Butzer, Die Sozialstaatsentwicklung unter dem Grundgesetz, 2006, S 58 bei Fn 149;
eine materielle Untergrenze ablehnend Heinig, in: Menschenwürde in der säkularen
Verfassungsordnung, 2006, S 251, 271; Enders, VVDStRL 64 <2005>, 7, 40; vgl auch Stern,
in: Der Staat des Grundgesetzes - Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura,
2004, S 571, 577; einen Anspruch auf ein bezifferbares Niveau aus Art 1 Abs 1 GG
ablehnend auch Spellbrink, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2008, 4) .
Soweit sich die Literatur nicht auf weitergehende Maßnahmen zur Sicherung eines
qualifizierten Verfahrens zur Festlegung der Untergrenzen beschränkt (vgl etwa Bieritz-
Harder, Menschenwürdig leben, 2001, S 277 Fn 686, unter Rückgriff auf Neumann, NVwZ
1995, 426, 429; Horrer, Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das
Existenzminimum, 2001, S 155 f), vertritt sie zum Sicherungsniveau - grob skizziert -
folgende Standpunkte:
35 Sicherung nur vor evidenter Unterschreitung des verfassungsrechtlich Gebotenen (
Könemann, Der verfassungsunmittelbare Anspruch auf das Existenzminimum, 2005, S 108 -
wobei die Evidenz wohl aus Konsens erwachsen soll, in Anlehnung an Alexy, Theorie der
Grundrechte, 2. Aufl 1994, S 322 ff, 382; vgl dazu kritisch Geddert-Steinacher,
Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S 128 f),
36 Sicherungbloß der physischen Existenz (vgl zB Isensee, AöR 131 <2006>, S 173, 213, Fn
183 mit Hinweis auf Friedrich Schiller, Würde des Menschen, 1797; Martínez Soria, JZ 2005,
644, 647 ff mwN; Spranger, Verwaltungsrundschau 1999, 242 ff),
37 Schutz eines nicht näher bestimmten materiellen Existenzminimums (vgl zB Höfling in:
Sachs, GG, 4. Aufl 2007, Art 1 RdNr 31 f Fn 120 mwN; Zippelius in: Bonner Kommentar zum
GG, Stand April 2008, Art 1 Abs 1 und 2 RdNr 102; Hofmann, AöR 118 <1993>, 353, 363;
ähnlich Hofmann in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl 2008, Art 1 RdNr 9,
40: "wirtschaftliches Existenzminimum"),
38 Schutz eines materiellen Existenzminimums in Abhängigkeit vom Lebensstandard der
Gesamtgesellschaft (Podlech in: Alternativkommentar zum GG, 2. Aufl 2001, Art 1 Abs 1
RdNr 25, 27),
39 Schutz eines menschenwürdigen Existenzminimums unterhalb der Sicherungen des BSHG
(Starck in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd 1, 5. Aufl 2005, Art 1 Abs 1 RdNr 41, bei Fn
146 f mit Hinweis auf Häberle in: Handbuch des Staatsrechts, Bd I, § 20 RdNr 77),
40 Schutz der Hilfe zur Selbsthilfe und vor Abgleiten in Depressionen einer Hoffnungslosigkeit
(Leisner, Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, S 235),
41 Schutz vor sozialen Defizitlagen (vgl zB Luthe/Dittmar, SGb 2004, 272, 275 f) im Sinne
optimierender Sozialgestaltung (vgl Luthe, Optimierende Sozialgestaltung, 2001, S 25 f, 425
ff) ,
42 Schutz eines sozialen Existenzminimums (vgl etwa Bieback/Stahlmann, Sozialer Fortschritt
1987, 1, 12; Riehle, ZFSH/SGB 2006, 643 ff mwN) und
43 Schutz eines soziokulturellen Minimums (vgl etwa Däubler, NZS 2005, 225, 226 ff;
Rothkegel, ZFSH/SGB 2005, 391, 396; Sartorius, Das Existenzminimum im Recht, 2000, S
70),
44 wobei diese Grundpositionen noch teilweise in der Ausgestaltung ihrer inneren Reichweite
auseinanderfallen.
45 g) Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, welcher dieser Ansichten zu folgen ist. Denn
der Gesetzgeber hat mit der Ausgestaltung der Zuzahlungsregelungen für Bezieher von SGB
II-Leistungen im hier betroffenen Zeitraum keine verfassungsrechtlichen Vorgaben verletzt.
Die unterschiedlichen Spielräume für den Gesetzgeber, das sozialrechtlich gesicherte
Existenzminimum verfassungskonform auszugestalten, bedingen auch unterschiedliche
verfassungsrechtliche Anforderungen an die gerichtliche Prüftiefe, soweit es um die
tatsächlichen Ermittlungen des Gesetzgebers im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
geht: Je stärker der Gesetzgeber mit einer Regelung darauf abzielt, sich der
verfassungsrechtlichen Untergrenze des sozialrechtlich gesicherten Existenzminimums zu
nähern, desto zuverlässiger müssen seine Ermittlungsergebnisse sein, um ein
Unterschreiten dieser Grenze zu vermeiden. Sie müssen dann auf sorgfältigen
Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen (vgl entsprechend zum
Untermaßverbot BVerfGE 88, 203, LS 6 und 262). Stellt der Gesetzgeber dagegen zur
Sicherung des Existenzminimums Sozialleistungen zur Verfügung, die die
verfassungsrechtlich gezogene unterste Grenze des physischen Existenzminimums eher
überschreiten sollen, sind die Anforderungen an die verfassungsrechtlich gebotene
Überprüfung der Tatsachengrundlagen der Entscheidung des Gesetzgebers wesentlich
geringer: Wie auch in anderen Fällen, in denen die Erfüllung grundrechtlicher Pflichten des
Gesetzgebers von der Beurteilung tatsächlicher Verhältnisse abhängt (vgl etwa BVerfGE 44,
249, 267; 77, 170, 214 f; 77, 381, 405) , ist die gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich
nur zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber die maßgeblichen Pflichten entweder überhaupt
außer Acht gelassen oder ihnen offensichtlich nicht genügt hat (vgl entsprechend etwa
BVerfGE 82, 60, 98 = SozR 3-5870 § 10 Nr 1) . Die Zuzahlungspflicht für Leistungsbezieher
nach dem SGB II bei Abdeckung nicht von der GKV zu erbringender Leistungen für die
Gesundheit durch die Regelleistung nach § 20 Abs 2 SGB II unterfällt diesem großzügigeren
Prüfprogramm.
46 h) § 20 Abs 2 SGB II betreffend die Höhe der Regelleistung, aus der auch Zuzahlungen für
die GKV abzudecken sind, ist keine Gesetzesbestimmung, die darauf angelegt ist, die
verfassungsrechtlichen Untergrenzen des sozialrechtlich zu sichernden Existenzminimums
auszuloten. Vielmehr knüpft die Vorschrift an die frühere Bemessung der Regelsätze nach
dem BSHG als eine einheitlich als verfassungsrechtlich gesichert angesehene Grundlage an
(vgl dazu unten, l) und bezieht auch die Gewährung eines soziokulturellen Leistungsanteils
mit ein. Denn nach § 20 Abs 1 SGB II umfasst die Regelleistung zur Sicherung des
Lebensunterhalts insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Bedarfe des
täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine
Teilnahme am kulturellen Leben. Nicht umfasst sind die in § 5 Abs 2 Satz 2 SGB II
genannten Leistungen nach dem Zwölften Buch des SGB. Die Regelleistung bildet damit im
Rahmen des Alg II den "soziokulturellen" Leistungsstandard der insoweit als
Referenzsystem für alle bedarfsorientierten und bedürftigkeitsabhängigen staatlichen
Fürsorgeleistungen fungierenden Sozialhilfe ab (vgl BT-Drucks 15/1516 S 56 zu § 20 Abs 1
SGB II; Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 20 RdNr 21). Diesen
Leistungsstandard regelt namentlich § 27 Abs 1 SGB XII - inhaltsgleich mit dem zuvor
geltenden § 11 BSHG (vgl Entwurf eines Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in
das Sozialgesetzbuch der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks
15/1514 S 59 zu § 28) und an dessen Vorgaben anknüpfend -sowie die Bestimmung der
Höhe der Regelsätze. Diese erfolgt durch Rechtsverordnung der Landesregierungen
aufgrund des § 28 SGB XII unter Beachtung der RSV, der Rechtsverordnung nach § 40 SGB
XII . In der Begründung geht die RSV - anknüpfend an die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe 1998 - bei der Fortschreibung auf den 1.1.2005 von einem
Eckregelsatz von 345 Euro aus (vgl BR-Drucks 206/04 S 12 f).
47 i) Es unterliegt keinen verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken, dass § 20 SGB II
mittelbar durch seine Orientierung am SGB XII für die Bedarfsbemessung vom sog
Statistikmodell ausgeht, das bereits zur Festlegung der Regelsatzhöhe für das BSHG durch
Rechtsverordnung der Länder gedient hat. Das Statistikmodell orientiert sich an den
durchschnittlichen Ausgaben und dem Verbrauchsverhalten von Haushalten in unteren
Einkommensgruppen. Die erforderlichen Daten werden anhand einer Bundesstatistik
ermittelt, der sogenannten EVS. Sie wurde erstmals im Jahr 1983 und wird seitdem alle fünf
Jahre neu erhoben. Dieses Bedarfsbemessungssystem beschlossen die Länder auf der
Ministerpräsidentenkonferenz vom 25. bis 27.10.1989 in Düsseldorf auf der Grundlage des
von ihnen in Auftrag gegebenen Gutachtens des Deutschen Vereins für öffentliche und
private Fürsorge "Neues Bedarfsbemessungssystem für die Regelsätze in der Sozialhilfe:
Ableitung der Regelsätze für sonstige Haushaltsangehörige" (Frankfurt am Main, 1989).
Diese Methode, den Bedarf zur Festsetzung der Höhe der Regelsätze zu ermitteln, hat
bereits das BVerwG als mit Bundesrecht vereinbar angesehen. Es hat unter Achtung der
Einschätzungsprärogative des Normgebers die gerichtliche Überprüfung auf die Kontrolle
beschränkt, ob der gesetzliche Rahmen eingehalten wurde. In tatsächlicher Hinsicht hat es
überprüft, ob sich die Regelsatzfestsetzung auf ausreichende Erfahrungswerte stützen kann,
und in Bezug auf die der Festsetzung zugrunde liegenden Wertungen darauf, ob diese im
Rahmen der gesetzlichen Vorgaben vertretbar sind. Im Ergebnis hat es all dies bejaht (vgl
BVerwGE 102, 366 ff = Buchholz 436.0 § 22 BSHG Nr 27). Seine Ergebnisse hat das
BVerfG indirekt - mit der Höhe der Regelsätze (vgl dazu unten, l) - gebilligt .
48 j) Ebenso widerspricht es nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, dass die
Bemessung der Höhe der monatlichen Regelleistung iS von § 20 Abs 2 SGB II nach näherer
Maßgabe des § 20 Abs 4 SGB II jeweils zum 1. Juli eines Jahres um den Vom-Hundert-Satz
angepasst wird, um den sich der aktuelle Rentenwert in der gesetzlichen
Rentenversicherung verändert. Die Verweisung auf § 28 Abs 3 Satz 5 SGB XII stellt sicher,
dass die Bemessung überprüft und ggf weiterentwickelt wird, sobald die Ergebnisse einer
neuen EVS vorliegen. Das entspricht der früheren Regelung in § 22 Abs 3 Satz 5 BSHG (vgl
BT-Drucks 15/1514 S 59) und schreibt gesetzlich eine Beobachtungspflicht des Normgebers
fest. Dem kommt der Normgeber offensichtlich nach.
49 k) Die Festsetzung der Regelleistung mit 345 Euro in § 20 Abs 2 Satz 1 SGB II will sich nicht
darauf beschränken, lediglich das zur Existenz Unerlässliche zu gewähren. Das ergibt sich
aus der gesetzlichen Systemkonzeption, insbesondere aus dem Verhältnis zu den ebenfalls
der Existenzsicherung dienenden Leistungen nach § 26 SGB XII und dem
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). § 26 SGB XII lässt es zu, die Leistung bis auf das
zum Lebensunterhalt Unerlässliche einzuschränken. Es besteht nach § 1a AsylbLG ein
Leistungsanspruch nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten
ist. § 1a AsylbLG ermöglicht damit - nach der Rechtsprechung des BVerwG
verfassungskonform - die weitere Absenkung des gegenüber dem SGB XII niedrigeren
Standards des AsylbLG (vgl dazu BVerwG Buchholz 436.02 § 2 AsylbLG Nr 1 = DVBl 2004,
56).
50 l) Nach alledem knüpft § 20 Abs 2 Satz 1 SGB II für die Höhe der Regelleistung insgesamt
an das - systematisch fortentwickelte - Regelungskonzept des BSHG an, welches auch das
BVerfG in der Vergangenheit als verfassungskonform angesehen hat. So hat das BVerfG die
Rechtsprechung des BVerwG nicht beanstandet, die Gewährung einmaliger Leistungen
nach dem BSHG auf die Bedarfsgruppen zu beschränken, die nicht bereits bei der
Bemessung des Regelsatzes für die laufenden Leistungen berücksichtigt werden. Das
BVerwG (BVerwGE 87, 212 ff = Buchholz 436.0 § 22 BSHG Nr 8) hatte deshalb einen
Anspruch auf eine einmalige Leistung für die Anschaffung größeren Spielzeugs (hier:
Dreirad und Puppenhaus) ausgeschlossen. Das hat das BVerfG mit der Begründung
gebilligt, das wirtschaftliche Existenzminimum werde durch die laufende Hilfe zum
Lebensunterhalt in Form des Regelsatzes nach § 22 BSHG gesichert. Eine Verletzung von
Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip liege fern. Die sich aus diesen Bestimmungen
ergebende Pflicht des Staates zur Fürsorge für Hilfsbedürftige erfordere von Verfassungs
wegen zwingend nur eine Hilfe, die die Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen
Daseins sicherstellt ( vgl BVerfGE 40, 121, 133 = SozR 2400 § 44 Nr 1; 43, 13, 19 = SozR
2200 § 1280 Nr 1; 45, 187, 228; 82, 60, 80 = SozR 3-5870 § 10 Nr 1 ). Aus den gleichen
Gründen sei auch eine Verletzung von Art 2 Abs 1 GG nicht erkennbar (vgl BVerfG,
Beschluss vom 12.6.1991 - 1 BvR 540/91 - info also 1991, 154) .
51 Zudem ist das BVerfG in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, dass im
Zusammenhang mit dem Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums für die
Bemessung des existenznotwendigen Aufwands auf das sozialhilferechtlich gewährleistete
Leistungsniveau als eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene
abzustellen ist (BVerfGE 82, 60, 85 f, 94 = SozR 3-5870 § 10 Nr 1; 87, 153, 169 f; 99, 246,
259; 107, 27, 48; 112, 268, 281; zuletzt BVerfG, Beschluss vom 13.2.2008 - 2 BvL 1/06 -
RdNr 104) . Hätte es diese Vergleichsebene als verfassungswidrig zu niedrig angesehen,
hätte es für die verfassungskonforme Anwendung des Prinzips der Steuerfreiheit des
Existenzminimums einen höheren als den sozialhilferechtlich bestimmten Betrag für das
Existenzminimum wählen müssen.
52 m) Für den entscheidungserheblichen Zeitraum vom 1.1.2005 bis zum 22.6.2006 sind
zusätzlich weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Mit der Koordinierung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch das SGB II wurde Neuland betreten. Dazu waren
umfangreiche Regelungen und Erhebungen erforderlich. Der Gesetzgeber war hierbei
darauf angewiesen, auf die bisherigen Erfahrungen mit dem BSHG zurückzugreifen, bis ihm
neue Erkenntnisse vorlagen. Bei komplexen Sachverhalten benötigt der Gesetzgeber häufig
eine gewisse Zeit, um Erkenntnisse und Erfahrungen zu sammeln (vgl zB BVerfGE 97, 186,
196). In dieser Zeit darf er sich mit gröberen Typisierungen und Generalisierungen
begnügen. Damit einhergehende Härten und Ungerechtigkeiten geben erst dann Anlass zur
verfassungsrechtlichen Beanstandung, wenn der Gesetzgeber seine Regelungen nicht
anhand inzwischen möglicher Erkenntnisse und Erfahrungen überprüft und auf den Versuch
einer sachgerechteren Lösung verzichtet (siehe BVerfGE 100, 59, 101 = SozR 3-8570 § 6 Nr
3 S 36; vgl auch BSGE 90, 231, 254 = SozR 4-2500 § 266 Nr 1 mwN). Dementsprechend hat
das BVerfG bei Schaffung des Risikostrukturausgleichs vom Gesetzgeber lediglich gefordert,
dass er aufmerksam beobachtet, ob das von ihm geschaffene Datenerhebungsverfahren
Eignungsmängel zeigt, und dass er eventuell zu Tage tretenden Schwächen mit geeigneten
Maßnahmen begegnet (BVerfGE 113, 167, 264 f = SozR 4-2500 § 266 Nr 8 RdNr 221).
53 n) Schließlich fällt ins Gewicht, dass nach der gesetzlichen Konzeption Bezieher von Alg II
als Pflichtversicherte in der GKV in vollem Umfang Anspruch auf die Leistungen des SGB V
haben, ohne selbst mit Beiträgen belastet zu werden. Denn sie sind versicherungspflichtig (§
5 Abs 1 Nr 2a SGB V). Der Bund hat für sie jeweils die Beiträge zu tragen (§ 251 Abs 4 SGB
V). Bezieher von Alg II haben damit in gleichem Umfang wie zB Beschäftigte Anspruch auf
GKV-Leistungen. Der Gesetzgeber hat nicht etwa versucht, den Leistungsumfang der GKV
für Bezieher von Alg II einzuschränken. Auch insoweit hat der Gesetzgeber nicht versucht,
die verfassungsrechtliche Untergrenze des Existenzminimums zu erreichen (zur Diskussion
über die Grenzen vgl Neumann, NZS 2006, 393 mwN). Vielmehr erkennt das SGB V den
Beziehern von Alg II Vollversicherungsschutz wie allen anderen Versicherten zu. Der Kläger
war dementsprechend in der gesamten Zeit in vollem Umfang zu Leistungen der GKV
berechtigt, ohne mit Beiträgen belastet zu sein.
54 o) Die Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers zur Höhe der Regelleistung nach § 20
SGB II genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Zu beanstanden wäre es - wie
dargelegt - nur, wenn der Gesetzgeber seine maßgeblichen Pflichten entweder überhaupt
außer Acht gelassen oder ihnen offensichtlich nicht genügt hätte. Denn die
Zuzahlungspflicht in der GKV soll für Leistungsbezieher nach dem SGB II - wie dargelegt -
nicht das Leistungsniveau auf das unterste, gerade noch verfassungsrechtlich zulässige
Maß hinunterdrücken, sondern ein höheres, angemessenes Existenzminimum nicht infrage
stellen.
55 Der Gesetzgeber hat seine maßgeblichen Pflichten hinsichtlich der Tatsachenermittlungen
weder überhaupt außer Acht gelassen noch sie offensichtlich verletzt. Vielmehr hat er die
Höhe der monatlichen Regelleistung in der Sache an den Ergebnissen der letzten seinerzeit
vorliegenden EVS von 1998 orientiert und die Werte entsprechend hochgerechnet (vgl BT-
Drucks 15/1516 S 56 zu § 20 Abs 2; vgl auch Behrend in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl 2007, § 20
RdNr 33 ff). Ebenso ist er auch bei Schaffung der RSV vorgegangen (vgl BR-Drucks 206/04
S 4 ff). Das beachtet die dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die in der
Literatur hieran geübte Sachkritik beruft sich im Kern auf Zweifel an der Validität der im
Tatsächlichen ermittelten Grundlagen, auf die der Gesetzgeber sich gestützt hat (vgl zB
Rothkegel/Sartorius in: Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, S 244 ff, RdNr 55 f mwN; Däubler,
NZS 2005, 225, 229 f) . Das reicht aber nicht aus, um annehmen zu können, dass der
Gesetzgeber offensichtlich unzureichende Tatsachen zugrunde gelegt habe. Denn er hat an
fundierte, methodisch durch die Rechtsprechung abgesicherte Werte angeknüpft, um den
verfassungsrechtlichen Anforderungen mit Sicherheit zu genügen. Mehr war ihm von
Verfassungs wegen nach den dargelegten Maßstäben nicht abzuverlangen. Das gilt auch
vor dem Hintergrund einer nur geringen Zunahme der Verbraucherpreise (Index 2005 = 100;
1998: 90,9; 2003: 96,9) und der Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (Index 1991 = 100;
1998: 114,8; 2003 = 125,6) im Referenzzeitraum (Quelle: Statistisches Bundesamt
Deutschland, im Internet recherchiert am 8.4.2008 unter Verbraucherpreise;
Wirtschaftswachstum und Arbeitnehmereinkommen, http://www.destatis.de).
56 8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.