Urteil des BSG vom 28.10.2008

BSG: beiladung, rechtliches gehör, örtliche zuständigkeit, sachliche zuständigkeit, perpetuatio fori, sozialhilfe, niedersachsen, klinikum, vergütung, schuldbeitritt

Bundessozialgericht
Urteil vom 28.10.2008
Sozialgericht Hannover S 51 SO 74/06
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 8 SO 119/06
Bundessozialgericht B 8 SO 27/07 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 24. Mai 2007
aufgehoben, soweit es die Zeit vom 25. November 2005 bis 23. Januar 2006 betrifft. Insoweit wird die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
1
Im Streit sind die Übernahme und Zahlung weiterer Heimkosten für die Zeit vom 25. November 2005 bis 23. Januar
2006 in Höhe der Differenz (27,60 Euro kalendertäglich) zwischen der von dem Kläger mit der "Klinikum W " GmbH
(im Weiteren: Einrichtung) vereinbarten (134,86 Euro) und der von der Beklagten an die Einrichtung gezahlten (107,26
Euro) geringeren Vergütung.
2
Der 1970 geborene Kläger leidet an einer schweren Persönlichkeitsstörung und chronischen Polytoxikomanie mit
Methadon-Substitution (Abhängigkeit von verschiedenen Suchtstoffen). Er wurde deshalb am 25. November 2005 im
Heimbereich der Einrichtung stationär aufgenommen.
3
Zwischen dem Kläger und der Einrichtung ist vertraglich ein Heimentgelt in Höhe von kalendertäglich 134,86 Euro
vereinbart (Vertrag vom 23. November 2005). Auf der Basis einer vorläufigen Vergütungsvereinbarung zwischen der
Einrichtung und dem Niedersächsischen Landesamt für zentrale soziale Aufgaben, dem überörtlichen
Sozialhilfeträger, für das Jahr 2003, die auf Grund einstweiliger Anordnung zustande gekommen war, hat die Beklagte
Kosten nur in geringerer Höhe durch Zahlung an das Heim übernommen, im streitigen Zeitraum in Höhe von
kalendertäglich 107,26 Euro (Bescheid vom 29. November 2005; Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2006); dies
hat sie der Einrichtung mitgeteilt. Höhere Heimentgelte hat auch der Kläger selbst nicht an die Einrichtung gezahlt.
4
Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts (SG) Hannover vom 28. Juli 2006; Urteil des
Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 24. Mai 2007). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das
LSG ausgeführt, bei der dem Kläger gewährten Eingliederungshilfe handele es sich zwar nicht um eine Sach-, sondern
um eine Geldleistung, sodass dem Anspruch nicht schon der Gesichtspunkt der Bedarfsdeckung entgegengehalten
werden könne. Eine Vergütungspflicht des zuständigen Sozialhilfeträgers bestehe bei Erbringung der Leistung in
stationären Einrichtungen jedoch grundsätzlich nur, soweit mit der Einrichtung die in § 75 Abs 3 Sozialgesetzbuch
Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) genannten Vereinbarungen (Leistungs-, Vergütungs- und
Prüfungsvereinbarung) abgeschlossen seien. Wenn diese Vereinbarungen fehlten, komme eine Verpflichtung des
Trägers der Sozialhilfe zur Übernahme der heimvertraglich vereinbarten Vergütung nicht in Betracht, solange die
Beteiligten noch über entsprechende Vereinbarungen verhandelten und die Vereinbarungen über den betreffenden
Zeitraum noch wirksam getroffen werden könnten, wie dies hier der Fall sei (so genannte Sperrwirkung). Einem
späteren rückwirkenden Abschluss von Vereinbarungen stehe nicht der Grundsatz der Prospektivität entgegen, weil
dieser lediglich den Abschluss von Vereinbarungen für zukünftige Wirtschaftsperioden gebiete, nicht aber das
rückwirkende Inkrafttreten später geschlossener, zunächst nicht zustande gekommener Vereinbarungen untersage.
Ein Anspruch auf Übernahme eines höheren Entgelts könne auch nicht auf die Vereinbarung des Klägers mit der
Einrichtung im Heimvertrag gestützt werden, weil die jeweiligen Entgelte nach dem Heimgesetz (HeimG) den auf
Grund des SGB XII getroffenen (vorläufigen) Vereinbarungen zu entsprechen hätten. Die bislang nur vorläufige
Vergütungsvereinbarung gelte in entsprechender Anwendung des § 77 Abs 2 Satz 4 SGB XII bis zum Inkrafttreten
einer neuen Vergütungsvereinbarung weiter.
5
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 77 Abs 1 Satz 1 SGB XII. Endgültige Leistungs- und
Prüfungsvereinbarungen könnten danach für zurückliegende Zeiträume nicht mehr wirksam geschlossen werden. Es
bestehe insoweit ein endgültiger vertragsloser Zustand, der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(BVerwG) zu § 93b Bundessozialhilfegesetz (BSHG) einen so genannten "anderen Fall" begründe. Danach sei die
Beklagte nach Maßgabe des Bedarfsdeckungsgrundsatzes zur Tragung des heimvertraglich vereinbarten
Pflegesatzes so lange verpflichtet, wie es ihr nicht möglich sei, dem Kläger eine zumutbare Alternativeinrichtung
nachzuweisen.
6
Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG sowie des SG aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des
Bescheides vom 29. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2006 zu verurteilen,
für die Zeit vom 25. November 2005 bis 23. Januar 2006 weitere 27,60 Euro täglich zu übernehmen und an die
"Klinikum W " GmbH zu zahlen.
7
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
8
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
II
9
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Das Berufungsurteil leidet an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden
wesentlichen Verfahrensmangel; das LSG hätte die Einrichtung nach § 75 Abs 2 1. Alt SGG notwendig beiladen
müssen (echte notwendige Beiladung), weil das angestrebte Urteil schon wegen der beantragten Zahlung an die
Einrichtung unmittelbar die Rechtsbeziehungen im Dreiecksverhältnis zwischen dem Kläger, der Beklagten und der
Einrichtung betrifft.
10
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 29. November 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2006 (§ 95 SGG), soweit die Beklagte für die Zeit vom 25. November 2005
bis 23. Januar 2006 die Übernahme höherer Kosten der Eingliederungshilfe für den Aufenthalt in der Einrichtung
abgelehnt hat. Insoweit ergibt sich eine zeitliche Beschränkung des Streitgegenstandes auf Grund des zwischen den
Beteiligten geschlossenen Teilvergleichs. Die richtige Klageart ist die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und
Leistungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, 56 SGG. Die zusätzliche Verpflichtungsklage war notwendig, weil
der Kläger nicht nur die Änderung des Bewilligungsbescheides und Zahlung weiterer Heimkosten an die Einrichtung,
sondern ausdrücklich die Übernahme dieser Kosten durch Verwaltungsakt begehrt, durch den eine Mitschuld der
Beklagten gegenüber der Einrichtung begründet werden soll.
11
Die Landeshauptstadt Hannover ist die richtige Beklagte. Nach § 97 Abs 2 SGB XII iVm §§ 2, 6 Abs 2 Nr 1 Buchst a
des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (Nds AG SGB XII) vom 16.
Dezember 2004 (Nds Gesetz- und Verordnungsblatt (GVBl) 644) ist das Land als überörtlicher Träger sachlich
zuständig für die Gewährung von stationären und teilstationären Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte
Menschen. § 8 Abs 2 Satz 1 Nds AG SGB XII ermächtigt jedoch das zuständige Fachministerium dazu, durch
Verordnung die örtlichen Träger der Sozialhilfe sowie die Landeshauptstadt Hannover, die nach § 4 Abs 1 des
Gesetzes über die Region Hannover vom 5. Juni 2001 (Nds GVBl 348) die Rechtsstellung einer kreisfreien Stadt hat,
zur Durchführung von Aufgaben des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe dergestalt heranzuziehen, dass diese im
eigenen Namen entscheiden (§ 9 Abs 5 Satz 1 Nds AG SGB XII). Von dieser Ermächtigung ist in § 2 Abs 1 Nr 2 der
Verordnung zur Durchführung des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des Zwölften Buchs
Sozialgesetzbuch (DVO Nds AG SGB XII) vom 13. Juni 2006 (Nds GVBl 229), in Kraft getreten am 1. Januar 2005 (§
19 Abs 1 DVO Nds SGB XII), Gebrauch gemacht worden. Nach der vom LSG vorgenommenen Auslegung ist
allerdings durch die Heranziehung die sachliche Zuständigkeit auf den örtlichen (zuständigen) Sozialhilfeträger, die
Beklagte, delegiert worden (vgl aber Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8 AY 5/07 R; eine vom
Rechtsträgerprinzip abweichende Regelung der Beteiligtenfähigkeit (Behördenprinzip, vgl § 70 Nr 3 SGG), sieht das
niedersächsische Landesrecht nicht vor). Hierbei handelt es sich um die Auslegung der Vorschriften des Nds AG
SGB XII und damit um irrevisibles Recht, mit der Folge, dass das Revisionsgericht gemäß § 202 SGG iVm § 560
Zivilprozessordnung und § 162 SGG nicht nachprüfen darf, ob die Vorschriften des Landesrechts richtig angewandt
worden sind (BSGE 3, 77, 80; 7, 122, 125). Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich aus § 98 Abs 2 SGB
XII.
12
Das LSG hätte die Einrichtung nach § 75 Abs 2 1. Alt SGG notwendig beiladen müssen (echte notwendige
Beiladung), weil das angestrebte Urteil im vorliegenden Verfahren unmittelbar die Rechtsbeziehungen auch der
Einrichtung betrifft. Die Entscheidung kann ihr gegenüber daher nur einheitlich ergehen; denn der Kläger begehrt
Zahlung an die Einrichtung. Außerdem stellt sich die beantragte Übernahme zusätzlicher Heimkosten als
Schuldbeitritt zu einer behaupteten Zahlungsverpflichtung des Klägers gegenüber der Einrichtung dar.
13
Die Frage der Beiladung musste das früher für das Sozialhilferecht zuständige BVerwG in Fällen vorliegender Art nicht
problematisieren (vgl aber BVerwGE 97, 53 ff, in der eine Beiladung erfolgt war). Zwar hat das BVerwG in der
Vergangenheit zu Recht angenommen, dass unmittelbare Ansprüche des Leistungserbringers gegen den
Sozialhilfeträger im Sozialhilferecht grundsätzlich nur entstehen, soweit dies gesetzlich vorgesehen ist; zu Unrecht
hat es jedoch daraus in einem obiter dictum den Schluss gezogen, selbst bei Vereinbarungen nach der
Vorgängerregelung des § 75 Abs 3 SGB XII, des § 93 Abs 2 BSHG, könnten keine Ansprüche des
Leistungserbringers entstehen und es seien nur Geldleistungen zu erbringen (BVerwG, Beschluss vom 10. August
2007 - 5 B 179/06). Beiden Ansichten kann der Senat nicht folgen. Ausdrücklich hat sich das BVerwG jedenfalls,
soweit ersichtlich, mit der Problematik eines Schuldbeitritts nicht befasst; es ist auch nicht überschaubar, ob es sich
künftig im Rahmen seiner Zuständigkeit für Altfälle (vor dem 1. Januar 2005 eingegangene Klagen, so genannte
perpetuatio fori) damit befassen muss. Der Senat sieht sich deshalb - abgesehen davon, dass die Zurückverweisung
mangels Beiladung ohnedies schon auf Grund des Klageantrages des Klägers erfolgt - nicht an einer von der
Rechtsansicht des BVerwG abweichenden rechtlichen Bewertung des Verhältnisses zwischen dem Kläger, der
Beklagten und der beizuladenden Einrichtung gehindert.
14
Das Leistungserbringungsrecht der Sozialhilfe ist im Bereich der stationären und teilstationären Leistungen,
namentlich bei der Eingliederungshilfe, durch das so genannte sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis geprägt, das
die wechselseitigen Rechtsbeziehungen zwischen dem Träger der Sozialhilfe, dem Leistungsberechtigten und dem
Leistungserbringer (Einrichtungsträger) sinnbildlich darstellt. In diesem Verhältnis gehen die Aufgaben der
Sozialhilfeträger weit über das reine Reagieren auf individuelle Bedürftigkeit durch Gewährung von Geldleistung
hinaus; die gesetzlichen Regelungen statuieren vielmehr ein Sachleistungsprinzip in der Gestalt einer
Sachleistungsverschaffung in einem vorgegebenen gesetzlichen Rahmen, der zwar nicht wie im Recht der
gesetzlichen Krankenversicherung ausgestaltet ist, sich dem aber nähert. Der Sozialhilfeträger erklärt dabei durch
Übernahme der Unterbringungskosten im Bewilligungsbescheid den Schuldbeitritt zu der Zahlungsverpflichtung des
Heimbewohners gegenüber dem Heim in Höhe des bewilligten Betrages (vgl dazu näher das Senatsurteil vom 28.
Oktober 2008 - B 8 SO 22/07 R). Daraus erwächst zum einen ein unmittelbarer Zahlungsanspruch der Einrichtung
gegen den Sozialhilfeträger, zum anderen ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Zahlung des
übernommenen Betrags an die Einrichtung (näher dazu BSG aaO).
15
Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 1. Alt SGG ist bei einer zulässigen Revision von Amts
wegen als Verfahrensfehler zu beachten (vgl BSG SozR 1500 § 75 Nr 21; BSG, Urteil vom 12. Februar 2003 - B 9 VS
6/01 R -, USK 2003-90; anders bei einer unechten notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 2. Alt SGG, vgl zuletzt
BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 4 und BSG, Urteil vom 26. Januar 2005 - B 12 P 9/03 R -, USK 2005-3 mwN). Zwar kann
nach § 168 Satz 2 SGG die Beiladung noch im Revisionsverfahren nachgeholt werden. Davon macht der Senat
jedoch keinen Gebrauch; er ist hierzu nicht verpflichtet (s BSGE 93, 283 ff = SozR 4-3250 § 14 Nr 1 mwN; vgl auch
BSG, Urteil vom 2. November 2000 - B 11 AL 25/00 R). Gegen eine Beiladung im Revisionsverfahren spricht, dass
der Beizuladenden gerade wegen der von der Tatsacheninstanz getroffenen tatsächlichen Feststellungen Gelegenheit
zur Wahrnehmung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gegeben werden soll.
16
Hinsichtlich der vom LSG nach der Zurückverweisung zu beurteilenden Rechtslage wird auf die - das LSG nicht
bindenden - Ausführungen im Senatsurteil vom 28. Oktober 2008 (B 8 SO 22/07 R) verwiesen. Das LSG wird bei
seiner Entscheidung ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.