Urteil des BSG vom 19.08.2003
BSG: eintritt des versicherungsfalles, anerkennung, verordnung, wiederaufleben, unterlassen, einwirkung, entstehung, unfallversicherung, berufskrankheit, nummer
Bundessozialgericht
Urteil vom 19.08.2003
Sozialgericht Darmstadt
Hessisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 2 U 27/02 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. März 2002 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
Der Kläger begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft die Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als
Berufskrankheit (BK) und die Gewährung einer Verletztenrente.
Der im Jahre 1938 geborene Kläger war seit dem Jahre 1958 als Maler und seit dem Jahre 1968 bis zur
Betriebsaufgabe im Jahre 1997 als selbstständiger Malermeister tätig und bei der Beklagten gegen Arbeitsunfälle und
Berufskrankheiten versichert. Nach einer ersten Bandscheibenoperation im Bereich der Lendenwirbelkörper 4/5 im
Jahre 1980 beantragte der Kläger wegen rezidivierender Lumboischialgien am 9. April 1997 die Feststellung einer BK.
Die Beklagte lehnte die Anerkennung einer BK nach Nr 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) und
die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, weil der Kläger nur im geringen Umfang, nicht aber wenigstens
während eines Drittels der täglichen Arbeitszeit lendenwirbelsäulenbelastende Tätigkeiten ausgeübt habe (Bescheid
vom 9. Juni 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 1997).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Oktober 2000). Das Landessozialgericht (LSG) hat
die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18. März 2002) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Voraussetzung für die Anerkennung einer BK Nr 2108 sei nach dem Übergangsrecht, dass der Versicherungsfall erst
nach dem 31. März 1988 eingetreten sei. Bei BKen mit Unterlassungszwang müssten zum Eintritt des
Versicherungsfalles alle gefährdenden Tätigkeiten aufgegeben worden sein. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe
sei der Versicherungsfall beim Kläger nicht bereits mit dem Bandscheibenvorfall im Jahre 1980 eingetreten, aber auch
nicht erst mit der Betriebsaufgabe im Jahre 1997. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass der
Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme im Jahre 1982 seinen Betrieb von damals etwa 15 Mitarbeitern
schrittweise verkleinert habe und er selbst hauptsächlich mit Verputzarbeiten befasst gewesen sei. Die eigentlichen
lendenwirbelsäulengefährdenden Tätigkeiten seien zumeist nicht vom Kläger, sondern seinen Mitarbeitern ausgeführt
worden. Im Übrigen hat das LSG auf das Urteil des SG Bezug genommen, nach dessen Feststellungen der Kläger
nach dem Stichtag 31. März 1988 zwar noch lendenwirbelsäulenbelastende Tätigkeiten, wie das Tragen von Säcken
oder der Wanne mit Putz ausgeübt habe, nicht aber mit der als erforderlich angesehenen Regelmäßigkeit und
Häufigkeit. Der Unterschied zu der Fallgestaltung im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22. August 2000 (- B
2 U 34/99 R - SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2) ergebe sich daraus, dass der Versicherte dort auch noch nach dem
Stichtag, wenngleich in geringerem Umfang weiterhin mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit
Lastgewichten ausgesetzt gewesen sei. Vorliegend sei davon auszugehen, dass der Versicherungsfall schon vor dem
1. April 1988 eingetreten sei.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger inzident die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Er macht geltend, er habe auch noch nach dem Stichtag 31. März 1988 lendenwirbelsäulengefährdend gearbeitet, wie
sich aus der im Tatbestand des Urteils des LSG wiedergegebenen Stellungnahme des technischen Aufsichtsdienstes
(TAD) der Beklagten ergebe. Nach dieser habe er in den Jahren 1969 bis 1997 zu 28,5 % seiner Arbeitszeit eine
lendenwirbelsäulenbelastende Tätigkeit ausgeübt. Er habe auch noch nach dem Stichtag, wenn auch nicht mehr in
dem Umfang wie früher, Lasten gehoben und getragen. Dies habe dann im Jahre 1997 zu einer Verschlimmerung
seiner Erkrankung und der Betriebsaufgabe geführt. Von der im dem Urteil des BSG vom 22. August 2000 geforderten
vollständigen Aufgabe der belastenden Tätigkeiten könne bei ihm vor dem Stichtag keine Rede sein. Das LSG hätte
ausführen müssen, wieso es dem Urteil des SG gefolgt sei, und hätte sich mit der Stellungnahme des TAD
auseinander setzen müssen, zumal auch nach den Angaben der vom SG gehörten Zeugen er bis zum Jahre 1997
lendenwirbelsäulenbelastende Tätigkeiten ausgeübt habe. Dass es nicht auf eine Grenze von einem Drittel der
täglichen Arbeitszeit für die lendenwirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten ankomme, ergebe sich ebenfalls aus dem
Urteil des BSG vom 22. August 2000.
Der Kläger beantragt, die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. März 2002 und des Sozialgerichts
Darmstadt vom 10. Oktober 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 1997 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Anerkennung
einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit nach Nr 2108 der Anlage der
Berufskrankheiten-Verordnung Rentenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§
124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für
eine abschließende Entscheidung über die vom Kläger geltend gemachte Anerkennung einer BK Nr 2108 und eine
darauf beruhende Rentengewährung nicht aus.
In Abhängigkeit vom Zeitpunkt der noch zu treffenden Tatsachenfeststellungen kommen als Rechtsgrundlage für die
umstrittene BK entweder der bis zum 31. Dezember 1996 geltende § 551 Reichsversicherungsordnung (RVO) oder für
die Zeit danach der ihn aufgrund des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes vom 7. August 1996 (BGBl I 1254)
ablösende § 9 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) in Betracht, die sich aber hinsichtlich der hier
relevanten Regelungsinhalte nicht unterscheiden. Denn die umstrittene BK Nr 2108 ist durch Art 1 Nr 4 der Zweiten
Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (2. ÄndVO) vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343)
eingeführt und mit derselben Umschreibung in die Anlage der bis heute geltenden BKV übernommen worden. Ihre
Umschreibung lautet: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder
Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller
Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit
ursächlich waren oder sein können".
Für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als BK Nr 2108 müssen folgende Tatbestandsmerkmale
gegeben sein: Als Einwirkung ein langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in
extremer Rumpfbeugehaltung, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule; diese muss nach der in
der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung durch die Einwirkung verursacht
worden sein und zum Unterlassen aller gefährdenden Tätigkeiten gezwungen haben, die auch tatsächlich aufgegeben
worden sein müssen. Weitere Voraussetzung ist, dass der Versicherungsfall erst nach dem Stichtag 31. März 1988
eingetreten ist (Art 2 Abs 2 2. ÄndVO; heute: § 6 Abs 3 BKV).
Der Versicherungsfall einer BK ist eingetreten, wenn alle Tatbestandsmerkmale des § 551 Abs 1 RVO bzw des § 9
Abs 1 SGB VII iVm der betreffenden Nummer der Anlage der BKV erfüllt sind (BSG SozR 2200 § 551 Nr 35; BSG
SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2). Der bei der hier umstrittenen BK Nr 2108 sowie weiteren in der BKV genannten
BKen geforderte Unterlassungszwang setzt in der Regel voraus, dass die Tätigkeiten, die zu der Erkrankung geführt
haben, aus arbeitsmedizinischen Gründen nicht mehr ausgeübt werden sollen und der Versicherte die schädigende
Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit
ursächlich sein können, tatsächlich aufgegeben hat, wobei es auf das Motiv des Versicherten nicht ankommt (stRspr
s BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2 mwN). Eine bloße Verminderung der Gefährdung genügt nicht (BSG aaO;
BSG SozR 5670 Anl 1 Nr 4301 Nr 2).
Das LSG hat sein die Berufung zurückweisendes und damit die Klageabweisung des SG bestätigendes Urteil darauf
gestützt, dass der Versicherungsfall schon vor dem 1. April 1988 eingetreten sei, weil der Kläger die eigentlichen
lendenwirbelsäulengefährdenden Arbeiten danach zumeist nicht mehr ausgeübt habe. Dieser rechtlichen Wertung
kann der Senat vor dem Hintergrund seiner bisherigen, oben dargestellten Rechtsprechung und insbesondere des
Urteils vom 22. August 2000 (BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2) nicht folgen. Denn in diesem ist klar ausgeführt,
dass das Unterlassen der gefährdenden Tätigkeiten die Aufgabe aller gefährdenden Tätigkeiten voraussetzt und eine
bloße Verringerung nicht ausreicht. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Kläger aber vor dem
Stichtag nicht alle gefährdenden Tätigkeiten aufgegeben, sondern war hauptsächlich mit Verputzarbeiten befasst.
Wenn auch die eigentlichen lendenwirbelsäulengefährdenden Arbeiten zumeist nicht vom Kläger, sondern seinen
Mitarbeitern ausgeführt worden sind, so hat er selbst nach den Feststellungen des LSG bis zum Jahre 1997
lendenwirbelsäulengefährdend zumindest in einem bestimmten Maße gearbeitet. Dies wird durch die Feststellungen
des SG bestätigt, auf die das LSG ausdrücklich Bezug genommen hat und nach denen der Kläger nach dem Stichtag
noch lendenwirbelsäulenbelastende Tätigkeiten wie das Tragen von Säcken oder der Wanne mit Putz ausgeübt hat.
Da in dem Urteil des LSG auch jegliche Feststellungen zu den übrigen Voraussetzungen einer BK, also insbesondere
zu dem medizinischen Zusammenhang, die der Eintritt eines Versicherungsfalles außerdem erfordert, fehlen, ist dem
Senat bei dem derzeitigen Stand des Verfahrens eine abschließende Entscheidung nicht möglich, so dass das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG
zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.