Urteil des BSG vom 17.12.2013

BSG: Krankenversicherung, Krankenhaus, Auffälligkeit einer Krankenhausabrechnung, Anfangsverdacht, Berechtigung zur umfassenden Überprüfung

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 17.12.2013, B 1 KR 52/12 R
Krankenversicherung - Krankenhaus - Auffälligkeit einer Krankenhausabrechnung -
Anfangsverdacht - Berechtigung zur umfassenden Überprüfung - Herausgabe der
Behandlungsunterlagen zum Zwecke der Abrechnungsprüfung auch bei örtlicher
Unzuständigkeit des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen
vom 31. Mai 2012 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 1317,76 Euro festgesetzt.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Herausgabe von Behandlungsunterlagen an den
Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Rheinland-Pfalz.
2 Die Beklagte betreibt in Nordrhein-Westfalen (NRW) ein nach § 108 SGB V zur Behandlung
Versicherter zugelassenes Krankenhaus. Es behandelte den bei der klagenden
Krankenkasse (KK) versicherten P. F. (im Folgenden: Versicherter) vom 16.10. bis
10.11.2009 stationär. Die Beklagte berechnete hierfür 3953,29 Euro unter Zugrundelegung
der DRG E65C (Chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung ohne äußerst schwere CC,
ohne starre Bronchoskopie, ohne FEV1 < 35 %, Alter > 0 Jahre; 25.11.2009). Die Klägerin
beglich zunächst die Rechnung. Sie beauftragte sodann den MDK Rheinland-Pfalz über
das Krankenhaus Kompetenz Centrum (KKC), das Vorliegen medizinischer Gründe
insbesondere für die Überschreitung der oberen Grenzverweildauer zu prüfen. Der MDK bat
die Beklagte erfolglos darum, den Entlassungsbericht, die Fieberkurven, den Pflegebericht,
die Operations-, PTCA-, PTR-Berichte sowie die Labordaten zu übersenden (2.12.2009),
und gab den Auftrag unerledigt zurück. Auch die Klägerin forderte die Beklagte ohne Erfolg
auf, die Unterlagen dem MDK zu überlassen. Das SG hat die Beklagte zur Herausgabe der
für eine medizinische Begutachtung erforderlichen Unterlagen (vollständige Krankenakte
und Pflegedokumentation) an den MDK Rheinland-Pfalz verurteilt (Gerichtsbescheid vom
30.6.2011). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die Klägerin sei für
die isolierte Herausgabeklage prozessführungsbefugt, ihr Begehren begründet. Es gebe
keine ausschließliche Zuständigkeit des MDK des Leistungsortes (Urteil vom 31.5.2012).
3 Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 278, 282, 283, 112 Abs 2 S 1 Nr
2 SGB V sowie der Richtlinien über die Zusammenarbeit der KKn mit dem MDK (MDKRL)
iVm § 210 Abs 2 SGB V. Die Vorinstanzen hätten die ausschließliche Zuständigkeit des
MDK des Leistungsortes verkannt. Der Landesvertrag nach § 112 Abs 2 S 1 Nr 2 SGB V
könne die Prüfzuständigkeit nicht einem MDK eines anderen Bundeslandes übertragen.
4 Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. Mai 2012 sowie den
Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dortmund vom 30. Juni 2011 aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
5 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
6 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
7 Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Die
Vorinstanzen haben die Beklagte zu Recht zur Herausgabe der medizinischen Unterlagen
bezüglich des stationären Aufenthalts des Versicherten in der Zeit vom 16.10. bis zum
10.11.2009 an den MDK Rheinland-Pfalz zwecks Prüfung der sachlichen Richtigkeit der
erfolgten Abrechnung verurteilt. Die Klage ist zulässig (dazu 1.). Die Voraussetzungen des
Herausgabeanspruchs sind erfüllt (dazu 2.). Die Einwendungen der Beklagten greifen
nicht durch (dazu 3.).
8 1. Die Klägerin macht ihren Anspruch auf Herausgabe der Behandlungsunterlagen des
Versicherten über den stationären Aufenthalt vom 16.10. bis 10.11.2009 an den MDK
zutreffend mit der (echten) Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG gegen die Beklagte
geltend (stRspr, zur Anwendung des § 54 Abs 5 SGG im Gleichordnungsverhältnis
zwischen KK und Krankenhaus vgl nur BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 8
mwN). Die Klägerin ist auch klagebefugt. Der Anspruch auf Herausgabe von
Behandlungsunterlagen eines Krankenhauses an den MDK zur Prüfung der Richtigkeit
der Abrechnung eines Behandlungsfalles steht nicht dem MDK, sondern der KK zu. Das
LSG verweist richtig darauf, dass ein der Tatsachenermittlung dienender
Herausgabeanspruch grundsätzlich nur demjenigen zustehen kann, der auch Gläubiger
des möglichen Zahlungsanspruchs ist, deren Durchsetzung er sichern soll. Eine KK ist im
Verhältnis zum Krankenhausträger allein Schuldnerin der Vergütungsansprüche (§ 109
SGB V) und Gläubigerin der Erstattungsansprüche bei Überzahlungen. Sie ist bei der
Prüfung von Krankenhausrechnungen "Herrin" des Begutachtungsauftrages an den MDK
gemäß §§ 275 ff SGB V. Die KK bleibt dies auch, wenn sie einen Gutachtenauftrag über
ein KKC erteilt, an dem sie sich beteiligt. Die Klägerin war in diesem Sinne als
Vertragspartnerin beteiligt an der Bildung eines KKC in Form einer Arbeitsgemeinschaft
nach § 219 SGB V iVm § 94 Abs 1a S 1 SGB X (idF durch Art 4 Nr 10 Buchst b und Art 9
Nr 2 Buchst a Verwaltungsvereinfachungsgesetz vom 21.3.2005, BGBl I 818), um eine
effektive und effiziente Prüfung der Krankenhausabrechnungen und ein aktives
Krankenhausfallmanagement sicherzustellen (vgl Präambel der
Kooperationsvereinbarung der beteiligten zehn BKKn vom 20.6.2008). Die Klägerin
übertrug dabei ihre Rechte als Auftraggeberin nicht vertraglich (vgl § 9
Kooperationsvereinbarung), die gesetzlichen Grenzen zulässiger Delegation in § 94 Abs 4
SGB X sind insoweit ohne Belang.
9 2. Die allgemeinen Voraussetzungen des geltend gemachten Herausgabeanspruchs sind
erfüllt. Die Klägerin war grundsätzlich zur Prüfung des Krankenhausaufenthalts berechtigt
und die Beklagte zur Herausgabe der für die Prüfung nötigen Unterlagen (Krankenakte
und Pflegedokumentation) verpflichtet (vgl entsprechend BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 §
275 Nr 8, RdNr 22 mwN). Rechtsgrundlage des Anspruchs ist § 276 Abs 2 S 1 Halbs 2
SGB V (idF durch Art 3 Nr 7 Buchst b DBuchst aa Gesetz zur Änderung von Vorschriften
des Sozialgesetzbuchs über den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer
Vorschriften vom 13.6.1994,
BGBl I 1229, mWv 1.7.1994; vgl zur Eröffnung des Anwendungsbereichs a). Hat danach
die KK nach § 275 Abs 1 bis 3 SGB V eine gutachtliche Stellungnahme oder Prüfung
durch den MDK veranlasst, sind die Leistungserbringer verpflichtet, Sozialdaten auf
Anforderung des MDK unmittelbar an diesen zu übermitteln, soweit dies für die
gutachtliche Stellungnahme und Prüfung erforderlich ist (dazu b).
10 a) Der Anwendungsbereich dieses Herausgabeanspruchs ist eröffnet. Weder geht es um
eine Überprüfung der Abrechnungsvoraussetzungen und der vorgenommenen
Abrechnung auf der Grundlage der an die KK zu übermittelnden Abrechnungsdaten des
Krankenhauses (§ 301 SGB V und/oder einen Kurzbericht gemäß dem maßgeblichen
Landesvertrag nach § 112 Abs 2 S 1 Nr 2 SGB V - KÜV NRW) noch ist eine
Stichprobenprüfung nach § 17c Krankenhausfinanzierungsgesetz (idF vor Inkrafttreten des
Art 5c Nr 2 Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der
Krankenversicherung vom 15.7.2013, BGBl I 2423) betroffen. Vielmehr will die Klägerin
erreichen, dass die Beklagte verurteilt wird, dem MDK Rheinland-Pfalz alle
Behandlungsunterlagen vorzulegen, die er zur Beantwortung der Prüfanfrage der Klägerin
benötigt (hierzu BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 16 mwN).
11 b) Die Voraussetzungen des § 276 Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB V sind erfüllt. Die Klägerin
beauftragte den MDK Rheinland-Pfalz über das zwischengeschaltete KKC, nach § 275
Abs 1 Nr 1 SGB V eine gutachtliche Stellungnahme zur Überschreitung der oberen
Grenzverweildauer im Behandlungsfall F. abzugeben. Nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V (idF
durch Art 1 Nr 6b Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems
für Krankenhäuser vom 23.4.2002, BGBl I 1412) sind die
KKn in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder
Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, verpflichtet,
insbesondere zur Prüfung von Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistung sowie bei
Auffälligkeiten zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrechnung eine gutachtliche
Stellungnahme des MDK einzuholen. Es bestehen Auffälligkeiten, die die KK zur
Einleitung einer Abrechnungsprüfung unter Anforderung einer gutachtlichen
Stellungnahme des MDK berechtigen und verpflichten, wenn die Abrechnung und/oder die
vom Krankenhaus zur ordnungsgemäßen Abrechnung vollständig mitgeteilten
Behandlungsdaten und/oder weitere zulässig von der KK verwertbare Informationen (vgl
zu Letzterem BSG SozR 4-2500 § 301 Nr 1 RdNr 33 und 35-36) Fragen nach der -
insbesondere sachlich-rechnerischen - Richtigkeit der Abrechnung und/oder nach der
Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots aufwerfen, die die KK aus sich heraus ohne
weitere medizinische Sachverhaltsermittlung und -bewertung durch den MDK nicht
beantworten kann (vgl BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 18; zustimmend
BSG Urteil vom 16.5.2013 - B 3 KR 32/12 R - RdNr 15). Die Auffälligkeit begründet einen
"Anfangsverdacht" (vgl Bericht des Ausschusses für Gesundheit zum Entwurf eines
Gesetzes zur Einführung des FPG, BT-Drucks 14/7862 S 6 zu 2.7.), der die KK zu einer
umfassenden Prüfung berechtigt (vgl BSG Urteil vom 17.12.2013 - B 1 KR 14/13 R - RdNr
9, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Es bedarf weder eines "konkreten"
Verdachts noch muss ein solcher im Zweifel von der KK bewiesen werden (so etwa noch
3. Senat des BSG im Urteil vom 28.2.2007 - B 3 KR 12/06 R - BSGE 98, 142 = SozR 4-
2500 § 276 Nr 1, RdNr 22 mwN, überholt durch Beschluss des Großen Senats vom
25.9.2007 - GS 1/06 - BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10; vgl dazu 1. Senat des
BSG Urteil vom 16.12.2008 - B 1 KN 3/08 KR R - BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr
15, RdNr 30 ff mwN).
12 Mit dieser Rechtsprechung knüpft der erkennende 1. Senat des BSG nicht etwa pauschal
an frühere BSG-Rechtsprechung an, die vor dem grundlegenden Beschluss des Großen
Senats vom 25.9.2007 (vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10) ergangen war. Der
Große Senat hat früheren Versuchen, die im Ergebnis dazu führten, dass im
Vergütungsstreit die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit zugunsten des
Krankenhauses vermutet wird (vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 29),
eine klare Absage erteilt. Der erkennende 1. Senat des BSG hat hieraus abgeleitet: Beruft
sich die KK ohne Rechtsmissbrauch gegenüber einem Anspruch auf
Krankenhausvergütung auf die fehlende Erforderlichkeit der Behandlung, ist hierzu von
Amts wegen zu ermitteln; die in der Krankenhausabrechnung enthaltene Bejahung der
Notwendigkeit ist nicht ausschlaggebend (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15,
LS 3 und RdNr 20 bis 22 mwN). Abgesehen von hier nicht eingreifenden gesetzlich
geregelten Ausnahmen und atypischen, eng zu verstehenden, außergewöhnlichen
Missbrauchskonstellationen - dürfen nachträgliche Einwendungen und
Überprüfungsbefugnisse der KK wie des Gerichts weder faktisch noch rechtlich
ausgeschlossen oder über die gesetzlichen Wertungen hinaus erschwert werden (vgl
BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 30 ff mwN). An dieser Rechtsprechung
hält der erkennende 1. Senat des BSG fest (unzutreffend insoweit BSG Urteil vom
16.5.2013 - B 3 KR 32/12 R - RdNr 15, zur Veröffentlichung vorgesehen in BSGE und
SozR; BSG Urteil vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R - RdNr 17, zur Veröffentlichung
vorgesehen in SozR).
13 Gemessen hieran begründete die Überschreitung der oberen Grenzverweildauer eine
Auffälligkeit. Bei der konkret abgerechneten E65C war ein Aufenthalt jenseits der oberen
Grenzverweildauer von 16 Tagen (vgl Fallpauschalenkatalog 2009) angesichts der
erhobenen Hauptdiagnose und der Nebendiagnosen nicht bereits aus sich heraus für die
Klägerin plausibel. Insoweit kam in Betracht, dass ggf eine ambulante Behandlung
ausreichte. Der allgemeine Hinweis der Beklagten auf einen Verstoß gegen die durch §
275 SGB V vorgegebene Einzelfallprüfung durch massenhafte Beauftragung eines MDK
eines anderen Bundeslandes geht ins Leere. Massenhaft auftretende Unwirtschaftlichkeit
bei der Krankenhausbehandlung kann in einer Vielzahl von Fällen Auffälligkeiten
begründen, die alle jeweils Auffälligkeitsprüfungen rechtfertigen. Statistische Angaben
über die Häufigkeit von Auffälligkeiten besagen insoweit nichts über die Zulässigkeit der
Prüfungen nach § 275 Abs 1 S 1 Nr 1 Fall 2 SGB V.
14 Die Klägerin leitete die Prüfung auch innerhalb der durch § 275 Abs 1c S 2 SGB V (idF
durch Art 1 Nr 185 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl l
378) vorgegebenen Sechs-Wochen-Frist nach Eingang der Abrechnung bei sich
(25.11.2009) ein. Der MDK zeigte sie der Beklagten fristgerecht an (2.12.2009).
15 3. Die Beklagte durfte die Herausgabe der medizinischen Unterlagen nicht deshalb
verweigern, weil die Krankenhausbehandlung in NRW erfolgte, die Klägerin aber
länderübergreifend den MDK Rheinland-Pfalz mit einer gutachtlichen Stellungnahme
beauftragte. Das SGB V regelt die örtliche Zuständigkeit des MDK nicht nach dem
Leistungsort, sondern schweigt hierzu beredt: Es überlässt es den KKn und ihren
Verbänden, über die Auftragserteilung nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit und
Wirtschaftlichkeit im Rahmen der hierzu zu erlassenden Richtlinien (RL) zu entscheiden.
Die Spitzenverbände der KKn, an deren Stelle heute der Spitzenverband Bund zuständig
ist, haben nach diesen Grundsätzen die Zusammenarbeit zwischen den KKn und den
MDKn in RL geregelt (dazu a). Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt dem
Landesvertrag NRW zur Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der
Krankenhausbehandlung dementsprechend nicht die Aufgabe zu, die Prüfzuständigkeit
von einem MDK auf den eines anderen Bundeslandes zu übertragen. Ein Verstoß gegen
die in den MDKRL bestimmte örtliche Zuständigkeit des MDK begründet keine Rechte der
Leistungserbringer (dazu b).
16 a) Das SGB V begnügt sich insgesamt damit, Vorgaben für die grundsätzlich
landesbezogene Organisationsstruktur des MDK und für seine Finanzierung zu machen.
Weder Wortlaut noch Systematik, Entstehungsgeschichte und Zielsetzung der
gesetzlichen Regelungen bieten Anhaltspunkte für die Annahme, dass die dem MDK
zugewiesenen Aufgaben ausschließlich nach räumlichen Wirkungskreisen
wahrzunehmen sind. Die Selbstverwaltung ist zur Konkretisierung des gesetzlichen
Rahmens in RL berufen.
17 Organisationsrechtlich bestimmt § 278 SGB V (idF durch Art 1 Nr 187 GKV-WSG mWv
1.7.2008): "(1) In jedem Land wird eine von den KKn der in Abs 2 genannten Kassenarten
gemeinsam getragene Arbeitsgemeinschaft 'Medizinischer Dienst der
Krankenversicherung' errichtet. Die Arbeitsgemeinschaft ist nach Maßgabe des Art 73 Abs
4 S 3 und 4 des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG vom 20.12.1988, BGBl I 2477) eine
rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts. (2) Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft
sind die Landesverbände der Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen, die
landwirtschaftlichen Krankenkassen und die Ersatzkassen. (3) Bestehen in einem Land
mehrere Landesverbände einer Kassenart, kann durch Beschluss der Mitglieder der
Arbeitsgemeinschaft in einem Land ein weiterer Medizinischer Dienst errichtet werden. Für
mehrere Länder kann durch Beschluss der Mitglieder der betroffenen
Arbeitsgemeinschaften ein gemeinsamer Medizinischer Dienst errichtet werden. Die
Beschlüsse bedürfen der Zustimmung der für die Sozialversicherung zuständigen
obersten Verwaltungsbehörden der betroffenen Länder." Die Änderung des § 278 Abs 2
SGB V (durch Art 8 Nr 14 Gesetz zur Neuordnung der Organisation der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung vom 12.4.2012, BGBl
I 579) zum 1.1.2013, wonach nur noch "die landwirtschaftliche Krankenkasse" anstelle des
zuvor verwendeten Plurals angesprochen ist, hat an dem Gesamtregelungskonzept nichts
geändert.
18 Hinsichtlich der Finanzierung regelt § 281 SGB V (idF durch Art 1 Nr 189 GKV-WSG): "(1)
Die zur Finanzierung der Aufgaben des Medizinischen Dienstes nach § 275 Abs 1 bis 3a
erforderlichen Mittel werden von den Krankenkassen nach § 278 Abs 1 Satz 1 durch eine
Umlage aufgebracht. Die Mittel sind im Verhältnis der Zahl der Mitglieder der einzelnen
Krankenkassen mit Wohnort im Einzugsbereich des Medizinischen Dienstes aufzuteilen.
Die Zahl der nach Satz 2 maßgeblichen Mitglieder der Krankenkasse ist nach dem
Vordruck KM 6 der Statistik über die Versicherten in der gesetzlichen
Krankenversicherung jeweils zum 1. Juli eines Jahres zu bestimmen. Werden dem
Medizinischen Dienst Aufgaben übertragen, die für die Prüfung von Ansprüchen
gegenüber Leistungsträgern bestimmt sind, die nicht Mitglied der Arbeitsgemeinschaft
nach § 278 sind, sind ihm die hierdurch entstehenden Kosten von den anderen
Leistungsträgern zu erstatten. Die Pflegekassen tragen abweichend von Satz 3 die Hälfte
der Umlage nach Satz 1. (1a) Die Leistungen der Medizinischen Dienste oder anderer
Gutachterdienste im Rahmen der ihnen nach § 275 Abs. 4 übertragenen Aufgaben sind
von dem jeweiligen Auftraggeber durch aufwandsorientierte Nutzerentgelte zu vergüten.
Eine Verwendung von Umlagemitteln nach Absatz 1 Satz 1 zur Finanzierung dieser
Aufgaben ist auszuschließen."
19 Die in § 278 Abs 1 S 1 SGB V vorgesehene Umlagefinanzierung ua für die hier betroffene
Aufgabe nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V, mit der das streitgegenständliche Auskunftsrecht
nach § 276 Abs 2 SGB V - wie dargelegt - korrespondiert, bedingt keine spezifische
örtliche Zuständigkeit des MDK. Die Regelung des § 281 Abs 1 S 4 SGB V verdeutlicht
zusätzlich, dass das Gesetz selbst davon ausgeht, dass dem MDK Aufgaben übertragen
werden können, die für die Prüfung von Ansprüchen gegenüber Leistungsträgern bestimmt
sind, die nicht Mitglied der Arbeitsgemeinschaft nach § 278 SGB V sind. Örtliche
Zuständigkeitsgrenzen folgen daraus nicht.
20 Auch die Aufgabenzuweisung an den MDK in § 275 SGB V enthält keinen Hinweis auf
eine örtliche Zuständigkeit des MDK. Vielmehr sind danach die KKn nach näherer
Maßgabe der Regelung verpflichtet, eine gutachtliche Stellungnahme des MDK
einzuholen. Hieraus folgen keine weiteren Vorgaben für eine örtliche Zuständigkeit.
Weitergehend ordnet das SGB V ausdrücklich an, dass der MDK vorrangig Gutachter zu
beauftragen hat (§ 279 Abs 5 Halbs 2 SGB V). Die Regelung normiert für die Auswahl der
Gutachter keine räumlichen Beschränkungen. Sie berücksichtigt, dass die vom
vertrauensärztlichen Dienst der Rentenversicherungsträger übernommenen Beamten und
Beamtenanwärter dem MDK nur noch für eine vorübergehende Zeit zur Verfügung stehen
(vgl Art 73 Abs 4 S 3 und 4 GRG; H. Peters in ders, Handbuch der Krankenversicherung,
Stand 1.1.2013, Teil II, Bd 4 § 279 RdNr 13). Sie trägt dem Bedarf an speziellem
Sachverstand und Nähe zur Praxis Rechnung und will die Erfahrungen und Erkenntnisse
externer Gutachter aus Qualitätsaspekten für den MDK nutzbar machen (vgl Entwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eines Gesetzes zur Strukturreform im
Gesundheitswesen , BT-Drucks 11/2237, Zu § 287, Zu Absatz 5, S 233; Beyer in
jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 279 RdNr 17; K. Hauck in Hauck/Noftz, SGB V, Stand
Oktober 2013, K § 279 RdNr 14). Unabhängigkeit der Gutachter (als "Ärzte des MDK", vgl
§ 275 Abs 5 SGB V) und Datenschutz bleiben hierbei gewahrt (vgl § 276 Abs 2b SGB V).
Das SGB V überlässt heute dem Spitzenverband Bund der KKn die Konkretisierung der
Regelungen über die Zusammenarbeit zwischen KKn und MDKn. Er hat hierbei zu
berücksichtigen, dass KKn, Leistungserbringer und Versicherte darauf zu achten haben,
dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang
in Anspruch genommen werden (vgl § 2 Abs 4 SGB V bereits idF des GRG). Im Interesse
der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der gesetzlichen Krankenversicherung
arbeiten die KKn und ihre Verbände sowohl innerhalb einer Kassenart als auch
kassenartenübergreifend miteinander und mit allen anderen Einrichtungen des
Gesundheitswesens eng zusammen (§ 4 Abs 3 SGB V idF des GRG; heute § 4 Abs 3 S 1;
S 2 eingefügt durch Art 3 Nr 1 8. GWB-ÄndG vom 26.6.2013, BGBl I 1738 mWv
30.6.2013). Der Spitzenverband Bund der KKn erlässt RL über die Zusammenarbeit der
KKn mit den Medizinischen Diensten, zur Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung
sowie über Grundsätze zur Fort- und Weiterbildung (vgl § 282 Abs 2 S 3 SGB V idF durch
Art 1 Nr 190 GKV-WSG). Ursprünglich hatten die Spitzenverbände der KKn gemeinsam
und einheitlich solche RL zu beschließen (vgl § 282 S 3 SGB V idF des GRG). Sie haben
hiervon Gebrauch gemacht, ohne dass seitdem neue RL erlassen worden sind (MDKRL,
Beschluss vom 27.8.1990 des Gremiums nach § 213 SGB V idF des GRG auf Empfehlung
des Vorstandes des MDS; abrufbar unter www.mdk.de). Sie bestimmen unter 1.2. ua:
"Soweit ausreichende Beratungs- oder Begutachtungskapazität im Bereich eines Landes
nicht vorhanden ist, hat der betroffene Medizinische Dienst einen anderen Medizinischen
Dienst oder externe Gutachter zu beauftragen."
21 b) Es bedarf keiner Feststellung dazu, dass die Klägerin bei Auftragserteilung die
Vorgaben der MDKRL beachtete. Die RL binden nämlich lediglich KKn und ihre Verbände
sowie die MDKn. Sie verschaffen Dritten keine Rechtspositionen. Leistungserbringende
Dritte wie ein Krankenhausträger, dessen Abrechnung überprüft werden soll, können sich
auf die Verletzung der MDKRL nicht berufen, weil sie nicht drittschützend sind. Die
MDKRL sind nach ihrer gesetzlichen Konzeption untergesetzliche Normen der
Selbstverwaltung. Sie sind insoweit den "Beitragsverfahrensgrundsätzen Selbstzahler"
des Spitzenverbandes Bund der KKn ähnlich (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 240 Nr 17,
RdNr 18 mwN, zur Veröffentlichung auch in BSGE 113, 1 vorgesehen), wenn sich auch
ihre Drittwirkung - begrenzter - lediglich auf KKn und ihre Verbände sowie MDKn erstreckt
(vgl Baier in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, SGB V, Stand
Juli 2013, § 282 RdNr 9; Becker in Hauck/Noftz, SGB V, Stand Oktober 2013, K § 282
RdNr 24 mwN; Hess in KassKomm, Stand 1.9.2013, SGB V § 282 RdNr 4; für die
Qualifikation als bloße Verwaltungsvorschrift dagegen Beyer in jurisPK-SGB V, 2. Aufl
2012, § 282 RdNr 15 mwN). Die RL können ihren Zweck, die Zusammenarbeit der KKn
mit den MDKn zu regeln, nur dann voll erfüllen, wenn sie KKn und MDKn auch binden. §
282 SGB V unterscheidet RL insoweit ausdrücklich von den dort ebenfalls geregelten
"Empfehlungen", die keine vergleichbare Bindungswirkung haben. Die MDKRL fügen sich
insoweit zwanglos in das System untergesetzlicher Normen des SGB V ein (vgl zum
System zB Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S 52 ff;
kritisch zB Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S 382 ff). Das SGB
V sichert die Bindungswirkung der MDKRL zusätzlich ab. So muss die Satzung der
Landesverbände der KKn Bestimmungen darüber enthalten, dass die RL nach § 282 SGB
V für die Landesverbände und ihre Mitgliedskassen verbindlich sind (vgl § 210 Abs 2 SGB
V). Der Verwaltungsrat des MDK hat ua RL für die Erfüllung der Aufgaben des MDK unter
Berücksichtigung der RL und Empfehlungen des Spitzenverbandes Bund der KKn nach §
282 Abs 2 SGB V aufzustellen (vgl § 284 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB V).
22 Eine weitergehende Drittwirkung der MDKRL sieht das SGB V demgegenüber nicht vor.
Ein Drittschutz der MDKRL zugunsten betroffener Leistungserbringer widerspräche auch
dem Interesse an der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Organisation der
Beratungsaufgaben des MDK. Es sind keinerlei Sachgründe erkennbar, die dafür
sprächen, etwa vom MDK überprüften Leistungserbringern Rechte zuzugestehen. Ihnen
bleibt sachgerecht die Möglichkeit, sich vorprozessual und ggf vor Gericht auf die
inhaltliche Unrichtigkeit von sie betreffenden MDK-Gutachten zu berufen. Datenschutz und
ärztliche Schweigepflicht bleiben unabhängig von der örtlichen Auswahl des MDK
gewahrt.
23 Die Verneinung einer drittschützenden Wirkung der MDKRL gegenüber
Leistungserbringern steht in Einklang mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen des
Verfahrensrechts. So begründen Mängel der örtlichen Zuständigkeit bei
Anspruchsleistungen nicht die Nichtigkeit und regelmäßig nicht die Aufhebbarkeit des
zugrunde liegenden Verwaltungsakts. Ein Verwaltungsakt ist nämlich nicht schon deshalb
nichtig, weil die Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden sind
(§ 40 Abs 3 Nr 1 SGB X). Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40
SGB X nichtig ist, kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung
von Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn
offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat
(§ 42 S 1 SGB X), und keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden
können. Es ist bei Anspruchsleistungen in aller Regel offensichtlich, dass die örtliche
Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde die Entscheidung in der Sache nicht
beeinflusst hat. Die Neufassung der Regelung des § 42 S 1 SGB X (durch Art 10 Nr 6 4.
Euro-Einführungsgesetz vom 21.12.2000, BGBl I 1983) hat hieran für den Bereich der
gebundenen Verwaltung nichts geändert. Hier gelten die bisherigen Grundsätze fort (vgl
BSG SozR 3-4100 § 128 Nr 15 S 135; BSG SozR 3-4100 § 62a Nr 1 S 2, 3 mwN; vgl zu
einem Sonderfall BSG SozR 4-7837 § 12 Nr 1 RdNr 23). Die Fehlerunempfindlichkeit
gegenüber Verfahrens- und Formfehlern trägt dem überwiegenden Interesse an einer
richtigen Sachentscheidung gegenüber der dienenden Funktion des Verfahrensrechts
Rechnung (vgl zB Gesetzentwurf der Bundesregierung eines
Verwaltungsverfahrensgesetzes, BT-Drucks 7/910, Zu §§ 41, 42, S 65; Schütze in von
Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 42 RdNr 2).
24 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG, die Festsetzung des Streitwerts beruht
auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 und
3 GKG (vgl auch BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 31).