Urteil des BSG vom 02.03.2010
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BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 2.3.2010, B 5 R 104/07 R
Teilhabe am Arbeitsleben - Teilzeitrehabilitation - Berechnung des Übergangsgeldes -
arbeitsfreier Samstag - sozialgerichtliches Verfahren
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Übergangsgeld auch für arbeitsfreie
Samstage während einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.
2 Der 1964 geborene Kläger war nach Ausbildung zum Elektroinstallateur bis 1997 in diesem
Beruf tätig und danach als Betriebselektriker sowie Haustechniker und ab 2003 wieder als
Betriebselektriker beschäftigt. Er ist Vater zweier 1984 und 1996 geborener Kinder.
3 Wegen Beschwerden am rechten Knie beantragte der Kläger am 6.10.2003 Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Weiterbildung zum Industriemeister in Teilzeit. Mit
Bescheid vom 11.2.2004 bewilligte die Beklagte dem Kläger die Weiterbildung zum
Industriemeister-Elektrotechnik in Teilzeit für eine voraussichtliche Dauer von 17 Monaten.
Die Weiterbildung wurde vom 5.2.2004 bis 28.7.2005 - unterbrochen durch Ferienzeiten -
jeweils am Donnerstag, Freitag und Samstag und vom 17.9.2005 bis Oktober 2005 - mit
Ausnahme der Prüfungstage - nur noch samstags durchgeführt. Der Kläger war von Montag
bis Mittwoch bei seinem bisherigen Arbeitgeber versicherungspflichtig beschäftigt und nahm
für die Schulungstage am Donnerstag und Freitag jeweils unbezahlten Urlaub. Die
Weiterbildung schloss er erfolgreich ab.
4 Für die Dauer der Teilhabeleistung ab 5.2.2004 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit
Bescheid vom 29.4.2004 Übergangsgeld in Höhe von kalendertäglich 51,81 Euro. Ferner
heißt es in dem Bescheid: "Anspruch auf Übergangsgeld besteht nur an den vertraglich
geregelten Arbeitstagen, an denen unbezahlter Urlaub beantragt wurde. An den Samstagen
besteht somit kein Übergangsgeldanspruch, da es sich nicht um einen arbeitsvertraglich
geregelten Arbeitstag handelt." Die Höhe des Übergangsgeldes berechnete die Beklagte
nach §§ 46 und 47 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Dabei legte sie für Januar 2004
ein Nettoarbeitsentgelt in Höhe von 1.844,77 Euro zugrunde, das durch 154 (Zahl der
bezahlten Stunden) geteilt, mit 36 (Anzahl der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitsstunden)
vervielfacht, durch 7 geteilt und zu dem der Hinzurechnungsbetrag für einmalig gezahltes
Arbeitsentgelt in Höhe von 7,47 Euro addiert wurde. Von diesem Betrag setzte die Beklagte
75 % als kalendertägliches Übergangsgeld an. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren
(Widerspruchsbescheid vom 17.8.2004) hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Augsburg
(SG) erhoben und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihm einen neuen Bescheid unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen. Hierzu hat er ausgeführt, dass
"lediglich die Höhe des zu bewilligenden Übergangsgeldes" streitig sei. Das Übergangsgeld
müsse sich auf 71,76 Euro und nicht lediglich 51,81 Euro belaufen. Die Summe von 71,76
Euro entspreche 75 % des zuletzt erzielten Nettoeinkommens, auf die er einen
Rechtsanspruch habe. § 47 SGB IX sei im Falle der Weiterbildung in Teilzeit nicht
anwendbar. Bei der Berechnung des beanspruchten Betrages hat der Kläger "2 reguläre
Arbeitstage", an denen er "die Schule besucht hat" zugrunde gelegt. Das SG hat die Klage
nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 17.11.2005 als unbegründet
abgewiesen.
5 Hiergegen hat der Kläger Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt
und in der mündlichen Verhandlung vom 25.7.2007 die Verurteilung der Beklagten zur
Zahlung von Übergangsgeld in Höhe von 71,76 Euro täglich begehrt. Mit Urteil vom selben
Tag hat das LSG unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen den Gerichtsbescheid vom
17.11.2005 geändert und die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 29.4.2004 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.8.2004 verurteilt, dem Kläger für jeden
Kalendertag der Inanspruchnahme von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Übergangsgeld in Höhe von 55,21 Euro zu gewähren. Zur Begründung seiner Entscheidung
hat das Berufungsgericht ausgeführt: Der Kläger habe nach dem Wortlaut des § 20 Nr 1
Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) während der Erbringung von Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben Anspruch auf Übergangsgeld dem Grunde nach, auch wenn die
Maßnahme an - nach dem Arbeitsvertrag arbeitsfreien - Samstagen stattfinde. Als
akzessorische Leistung hänge die Anspruchsdauer des Übergangsgeldes von der
Maßnahmedauer ab. § 20 SGB VI unterscheide nicht zwischen Vollzeit- und
Teilzeitrehabilitanden oder zwischen Kalender- und Arbeitstagen. Zudem sei nach dem
Grundsatz der Einheit des SGB IX bei der Beurteilung der Gewährung von Übergangsgeld
dem Grunde und der Höhe nach der gleiche Anknüpfungspunkt anzuwenden. Nach § 45 Abs
8 Halbsatz 1 SGB IX werde Übergangsgeld für Kalendertage gezahlt; § 47 Abs 1 Satz 2 SGB
IX teile das ermittelte Regelentgelt durch 7 und lege somit der Berechnung ein für jeden
Kalendertag ermitteltes Regelentgelt zugrunde. Werde aber die Höhe des Übergangsgeldes
für jeden einzelnen Kalendertag berechnet, stehe dem Versicherten ein Anspruch auf
Übergangsgeld dem Grunde nach auch für jeden Kalendertag der Inanspruchnahme von
Leistungen, und damit auch für Samstage zu, falls an diesen eine Teilhabeleistung
durchgeführt werde. Das kalendertägliche Übergangsgeld sei mit 55,21 Euro und nicht nur
51,81 Euro anzusetzen, weil die im Berufungsverfahren vorgelegte Arbeitgeberbescheinigung
höhere Entgelte für Januar 2004 ausgewiesen habe (2.849,87 Euro brutto, 1.980,49 Euro
netto) als die im Verwaltungsverfahren genannten und bei der Berechnung der Beklagten
berücksichtigten Entgelte (2.538,44 Euro brutto, 1.844,77 Euro netto). Die Berechnung von
Übergangsgeld erfordere auch bei Teilzeitrehabilitanden nach dem eindeutigen Wortlaut des
§ 47 Abs 1 Satz 2 SGB IX eine Teilung durch die Zahl 7 und nicht durch 5.
6 Mit der vom LSG zugelassenen Revision wendet sich die Beklagte gegen die Verpflichtung,
Übergangsgeld auch für Samstage zu zahlen. Teilzeitrehabilitanden hätten Anspruch auf
Übergangsgeld nur für die Arbeitstage, an denen die Maßnahme stattfinde. Die
Gesetzesauslegung des LSG verletze § 20 SGB VI. Das Übergangsgeld sei eine
Entgeltersatzleistung und solle dem Rehabilitanden nur zugute kommen, soweit er wegen der
Teilnahme an der Rehabilitationsmaßnahme kein Arbeitseinkommen erzielen könne. Er dürfe
nicht mehr Nettolohn erhalten als er ohne Rehabilitationsmaßnahme zur Verfügung gehabt
hätte. Auf den Grundsatz der Akzessorietät und den Wortlaut des § 20 SGB VI könne ein
durchgehender Anspruch auf Übergangsgeld für Teilzeitrehabilitanden nicht gestützt werden;
anderenfalls bestünde auch für Arbeitstage ein Anspruch auf Übergangsgeld. Außerdem
würde der Kläger gegenüber Teilzeitrehabilitanden mit festem Monatslohn bessergestellt, bei
denen das Monatsnettogehalt anteilig auf ein Übergangsgeld für arbeitsfreie Samstage
angerechnet werde.
7 Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Juli 2007 aufzuheben, soweit die
Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger auch für jeden Samstag der Inanspruchnahme von
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Übergangsgeld zu gewähren, und die hierauf
gerichtete Klage abzuweisen.
8 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
9 Er ist der Ansicht, das LSG habe ihm zu Recht einen Anspruch auf Übergangsgeld auch für
Samstage zuerkannt.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
11 Das LSG hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Übergangsgeld auch für jeden
Samstag der Inanspruchnahme der Teilhabeleistung bejaht. Die hierauf gerichtete Klage ist
wegen Bestandskraft des Bescheides vom 29.4.2004 unzulässig.
12 Mit Bescheid vom 29.4.2004 hat die Beklagte dem Kläger Übergangsgeld nur für die
Arbeitstage, nicht hingegen für Samstage gewährt. Zwar lautet Satz 3 des Bescheides vom
29.4.2004 "Das Übergangsgeld beträgt … kalendertäglich 51,81 Euro". Eine Auslegung des
Bescheides ergibt jedoch, dass der Begriff kalendertäglich keine Samstage erfasst. Für die
Auslegung eines Verwaltungsaktes kommt es grundsätzlich auf den Empfängerhorizont an,
dh darauf, wie Adressaten und Drittbetroffene den Verwaltungsakt nach Treu und Glauben
verstehen mussten bzw durften (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl 2008, § 35 RdNr 19).
Dabei ist vom Wortlaut des verfügenden Teils unter Zuhilfenahme der Begründung
auszugehen und anzunehmen, dass kein Verwaltungsakt seine wesentlichen Aussagen als
"überraschende Klauseln" in seiner Begründung verbirgt (Stelkens in ders/Bonk/Sachs,
VwVfG, 7. Aufl 2008, § 35 RdNr 76) .
13 An welchen Kalendertagen dem Kläger Übergangsgeld gewährt worden ist, ergibt sich
zweifelsfrei aus den Sätzen 6 und 7 des Bescheides. Nach Satz 6 besteht Anspruch auf
Übergangsgeld nur an den vertraglich geregelten Arbeitstagen, an denen unbezahlter
Urlaub beantragt wurde. Satz 7 führt hierzu erläuternd aus, dass an Samstagen somit kein
Übergangsgeldanspruch bestehe, da es sich nicht um einen arbeitsvertraglich geregelten
Arbeitstag handele. Beide Sätze stehen auf Seite 1 und damit in räumlicher Nähe zu Satz 3
des Bescheides, sodass für den Kläger als Adressaten deutlich erkennbar war, dass der
Begriff "kalendertäglich" nur Arbeitstage und nicht auch Samstage meint. Der Kläger hat den
Bescheid vom 29.4.2004 auch in diesem Sinne verstanden. Im Widerspruchsschreiben vom
12.5.2004 ist er selbst davon ausgegangen, dass Übergangsgeld in Höhe von "51,81 Euro
pro Arbeitstag" gewährt werde.
14 Mit Widerspruch und Klage hat sich der Kläger nur gegen die Berechnung des
Übergangsgeldes und nicht auch gegen eine Versagung dieser Leistung für Samstage
gewandt. In der Klagebegründung vom 7.12.2004 hat er ausdrücklich geltend gemacht, dass
"lediglich die Höhe des zu bewilligenden Übergangsgeldes" streitig sei, und
dementsprechend seiner Berechnung des Übergangsgeldes zwei reguläre Arbeitstage, an
denen er die Schule besucht habe - mithin Donnerstag und Freitag -, zugrunde gelegt. Erst in
der mündlichen Verhandlung vom 25.7.2007 vor dem LSG hat der Kläger Übergangsgeld "in
Höhe von 71,76 Euro täglich" begehrt. Zu diesem Zeitpunkt war die Anfechtungsfrist des §
87 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bereits abgelaufen und der Bescheid vom 29.4.2004
hinsichtlich der Versagung eines Leistungsanspruchs für Samstage in Bestandskraft
erwachsen (§ 77 SGG) .
15 Da der Kläger erstmalig vor dem LSG mit der Klage die Gewährung von Übergangsgeld
auch für Samstage begehrt hat, hat das Berufungsgericht diesbezüglich auf Klage
entschieden, sodass neben der Aufhebung des Berufungsurteils insoweit die Klage
abzuweisen war.
16 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Kläger hat in der ersten und zweiten
Instanz höheres Übergangsgeld in Höhe von 19,95 Euro pro Arbeitstag begehrt und nur 3,40
Euro Übergangsgeld mehr erhalten. Dies entspricht einem prozessualen Teilerfolg von 1/6,
sodass die Kostenentscheidung dementsprechend zu korrigieren war. Das Verbot der
reformatio in peius steht dem nicht entgegen. Im Revisionsverfahren ist der Kläger
vollständig unterlegen, sodass für die dritte Instanz keinerlei Kostenerstattung gerechtfertigt
ist.