Urteil des BSG vom 05.07.2007

BSG (kläger, sgg, verlegung des wohnsitzes, wohnsitz im ausland, grundsatz der gleichbehandlung, ausland, wohnsitz, inland, sache, örtliche zuständigkeit)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 5.7.2007, B 9/9a SB 2/07 R
Schwerbehindertenrecht - Feststellung eines höheren GdB - Verlegung des Wohnsitzes
ins Ausland - Durchbrechung des Territorialitätsprinzips - Wechsel der
Verwaltungszuständigkeit - Beklagtenwechsel kraft Gesetz
Leitsätze
Ist die Feststellung eines höheren GdB nach § 69 SGB 9 streitig, hat der Wechsel der
Verwaltungszuständigkeit durch Umzug des Klägers im sozialgerichtlichen Verfahren einen
Beklagtenwechsel kraft Gesetzes zur Folge.
Bei behinderten Menschen mit Auslandswohnsitz ist auf Antrag der GdB festzustellen, wenn
davon in Deutschland Vergünstigungen abhängen, die keinen Inlandswohnsitz voraussetzen.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger nach einer Wohnsitzverlegung ins Ausland
noch einen Anspruch auf Feststellung des Grades seiner Behinderung (GdB) nach dem
Schwerbehindertenrecht hat.
2 Der 1947 geborene Kläger war bis 2001 in I./Nordrhein-Westfalen wohnhaft. Bei ihm war
zuletzt wegen "Oberschenkelatrophie links, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit
Bandscheibenerniedrigung im Lendenwirbelsäulenbereich, Osteoporose,
Schultergelenksverschleiß rechts, Funktionsbehinderung rechtes Ellenbogengelenk, Arthrose
linkes Fußgelenk, Hüftgelenksverschleiß beiderseits" ein GdB von 40 festgestellt worden
(Bescheid des Versorgungsamtes Soest vom 25.6.1997 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Nordrhein-Westfalen vom
7.11.1997).
3 Im Mai 2000 beantragte der Kläger die Feststellung eines höheren GdB, was vom
Versorgungsamt Soest abgelehnt wurde (Bescheid vom 19.7.2000). Der Widerspruch
hiergegen war erfolglos (Widerspruchsbescheid des Versorgungsamtes Nordrhein-Westfalen
vom 28.9.2000). Während des anschließenden Klageverfahrens gegen das Land Nordrhein-
Westfalen teilte der Kläger im März 2001 mit, dass er sich für einige Zeit im Ausland aufhalten
werde. Die weitere Korrespondenz führte er aus Pesaro, Italien. Gegen das klageabweisende
Urteil des Sozialgerichts (SG) Dortmund vom 27.2.2002 hat der Kläger Berufung eingelegt
und im weiteren Verfahren bestätigt, dass sein Aufenthalt in Italien auf Dauer angelegt sei.
4 Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat den Freistaat Bayern zum
Rechtsstreit beigeladen (Beschluss vom 24.7.2003) und die Berufung des Klägers
zurückgewiesen (Urteil vom 26.1.2006). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Für die Zeit ab April 2001 sei die Berufung unzulässig, weil der Kläger infolge der
Wohnsitzverlegung ins Ausland kein Feststellungsinteresse mehr habe. Für die Zeit davor sei
die Berufung unbegründet, weil das Land Nordrhein-Westfalen zu Recht die Feststellung
eines höheren GdB abgelehnt habe; es sei seit der letzten Feststellung keine wesentliche
Änderung eingetreten.
5 Dagegen hat der Kläger die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene - auf die
Feststellung des GdB für die Zeit ab April 2001 beschränkte - Revision eingelegt. Das BSG
hat den seiner Ansicht nach schon im erstinstanzlichen Verfahren eingetretenen
Beteiligtenwechsel vollzogen, indem es den Freistaat Bayern als Beklagten an die Stelle des
Landes Nordhrein-Westfalen gesetzt hat.
6 Der Kläger rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das LSG habe zu Unrecht
den im Revisionsverfahren noch streitgegenständlichen Teil der Berufung als unzulässig
verworfen. Insoweit habe es das Klagbegehren falsch ausgelegt. Er habe keine
Feststellungsklage, sondern eine Verpflichtungsklage erhoben; für letztere bedürfe es keines
gesonderten Feststellungsinteresses. Darüber hinaus sei § 69 SGB IX verletzt. Der Anspruch
auf Feststellung des GdB werde vom Territorialitätsprinzip des § 2 Abs 2 SGB IX nicht erfasst.
Vielmehr könne auch ein im Ausland lebender Deutscher ein berechtigtes Interesse an der
Feststellung des GdB haben, wenn er zB im Inland einkommenssteuerpflichtig sei; dies
müsse auch für im Ausland lebende Ausländer gelten.
7 Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26.1.2006 aufzuheben, soweit es die
Feststellung des GdB für die Zeit ab April 2001 betrifft, und die Sache in diesem Umfang zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
8 Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26.1.2006 aufzuheben, soweit es die
Feststellung des GdB für die Zeit ab April 2001 betrifft, und die Sache in diesem Umfang zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
9 Auch er ist der Ansicht, dass das LSG in der Sache hätte entscheiden müssen. Denn auch für
im Ausland lebende Antragsteller könne ein rechtliches Interesse an der Feststellung nach §
69 SGB IX bestehen. Dies liege zB bei einer Steuerpflicht im Inland oder bei einer geplanten
Antragstellung auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen vor. Allerdings reiche nicht ein
abstraktes Interesse aus, weil bei jedem Menschen theoretisch die Möglichkeit bestehe, dass
er in Deutschland steuerpflichtig werden könne. Erforderlich sei vielmehr ein konkretes, vom
Antragsteller nachzuweisendes Interesse.
Entscheidungsgründe
10 1. Beteiligte des Revisionsverfahrens sind nunmehr allein der Kläger und der Freistaat
Bayern als Beklagter. Das Land Nordrhein-Westfalen ist durch einen Beteiligtenwechsel
kraft Gesetzes aus dem Verfahren ausgeschieden und als Beklagter durch den früheren
Beigeladenen ersetzt worden. Denn Letzterer ist spätestens zum 1.7.2001 für den Kläger
zuständig geworden.
11 Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die
Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer
Behinderung und den GdB fest. Dabei ist das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der
Kriegsopferversorgung (KOVVfG) entsprechend anzuwenden, soweit nicht das SGB X
Anwendung findet (§ 69 Abs 1 Satz 3 SGB IX) . Nach den bindenden Feststellungen des
LSG hat der Kläger seit April 2001 seinen dauerhaften Wohnsitz in Italien genommen. Sofern
dies nach der vom 1.1.1976 bis zum 30.6.2001 geltenden Fassung des § 3 Abs 1, 5 KOVVfG
(noch) nicht zur Zuständigkeit des (jetzigen) Beklagten geführt hat, ist jedenfalls mit der
Änderung jener Vorschrift (Wegfall des Abstellens auf den Zeitpunkt des Antrages) durch Art
49 Nr 1 SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I, 1046) ein Zuständigkeitswechsel eingetreten.
Nunmehr ist nach § 3 Abs 5 KOVVfG iVm § 1 Abs 1 Buchst g Verordnung über die
Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung für Berechtigte im
Ausland (AuslZustV) vom 28.5.1991 (BGBl I,1204) das Versorgungsamt München I für die
Feststellung des GdB des Klägers zuständig geworden; dieses ist eine Behörde des
Freistaates Bayern (vgl §§ 1, 3 Gesetz über die Errichtung der Verwaltungsbehörden der
Kriegsopferversorgung vom 12.3.1951 , zuletzt geändert durch Gesetz
vom 3.5.2000 ).
12 Die Übergangsregelung des Art 67 SGB IX ist nicht einschlägig, weil es sich bei der
begehrten Feststellung nicht um eine "Leistung" handelt. Vorrangige Bestimmungen des
SGB X über die örtliche Zuständigkeit greifen ebenfalls nicht ein. Insbesondere kommt kein
Verbleiben des Verfahrens beim Land Nordrhein-Westfalen nach § 2 Abs 2 SGB X in
Betracht. Denn es fehlt neben der Zustimmung der übernehmenden Behörde (vgl dazu
Engelmann in von Wulffen, SGB X, § 2 RdNr 10) sowohl an der Zweckmäßigkeit des
Verbleibens als auch am Interesse des Klägers. Schon aus praktischen Erwägungen ist die
Bearbeitung des Verwaltungsverfahrens durch Behörden des jetzigen Beklagten in
unmittelbarer Nachbarschaft zu Italien angezeigt, da zu erwarten steht, dass der Kläger auf
absehbare Zeit seinen dortigen Wohnsitz beibehalten wird.
13 Dieser Wechsel in der Behördenzuständigkeit führt im vorliegenden Gerichtsverfahren zu
einem Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes (vgl dazu BSG, Beschluss vom 8.5.2007 - B 12 SF
3/07 S - juris RdNr 4; zur vergleichbaren Rechtslage vor dem 1.1.1976 vgl BSGE 27, 200,
203 = SozR Nr 3 zu § 71 SGG; BSGE 62, 269, 270 = SozR 1200 § 48 Nr 14 S 72; für die
Fälle der Funktionsnachfolge ebenso BVerwGE 44, 148, 150) . Soweit der Senat für die Zeit
nach dem 1.1.1976 und vor dem 1.7.2001 einen solchen Beteiligtenwechsel verneint hat
(SozR 3-3100 § 89 Nr 4 S 12) , beruht dies auf der zwischenzeitlich geänderten Fassung des
§ 3 Abs 1 KOVVfG (vgl hierzu auch den Beschluss des BSG vom 25.10.2004 - B 7 SF 20/04
S - juris RdNr 8 f). Die Annahme eines Beklagtenwechsels kraft Gesetzes gilt
uneingeschränkt allerdings nur für kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen.
Denn mit diesen wird idR ein auch in die Zukunft gerichtetes Begehren verfolgt;
maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist in diesen Fällen die
letzte mündliche Verhandlung (stRspr BSGE 41, 38, 40 = SozR 2200 § 1418 Nr 2 S 2; BSGE
43, 1, 5 = SozR 2200 § 690 Nr 4 S 16 f = SGb 1977, 547; BSGE 87, 14, 17 = SozR 3-2500 §
40 Nr 3 S 6 = Breith 2000, 1004, 1006 = SGb 2001, 632, 634 = NZS 2001, 357, 358; BSGE
89, 294, 296 = SozR 3-2500 § 111 Nr 3 S 16 f = Breith 2003, 14, 16; Keller in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 54 RdNr 34) . Zu diesem Zeitpunkt kann
allein der im Lauf des Verfahrens zuständig gewordene Träger die begehrten Rechte
gewähren, sodass sich die Klage richtigerweise gegen diesen zu richten hat . Anders sind
hingegen reine Anfechtungsklagen zu beurteilen. Denn sie weisen allein in die
Vergangenheit, nämlich auf den Zeitpunkt des angefochtenen Bescheides ( Keller in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, RdNr 32 f mwN) , und richten sich grundsätzlich gegen die
den Bescheid erlassende Behörde (vgl hierzu das Urteil des Senats vom 5.7.2007 - B 9/9a
SB 2/06 R) .
14 Dieser Beteiligtenwechsel, der durch den Umzug des Klägers bereits während des
erstinstanzlichen Verfahrens eingetreten ist, konnte auch noch im Revisionsverfahren
praktisch vollzogen werden. Dem steht auch nicht § 168 SGG entgegen, weil ein solcher
Beteiligtenwechsel keine Klageänderung darstellt (BSG, Beschluss vom 7.8.1970 - 9 RV
262/70 - KOV-Mitt BE 1971, 32) . Durch den nunmehr umgesetzten Beteiligtenwechsel wird
dem neuen Beklagten auch nicht die Prozessführung erheblich erschwert; denn er war
bereits im Berufungsverfahren beigeladen und konnte dort - praktisch wie ein Beklagter (vgl
§ 75 Abs 5 SGG) - auf den Verfahrensablauf Einfluss nehmen (vgl zu diesem Erfordernis
BSG SozR 3-3900 § 4 Nr 2 S 4) .
15 2. Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und
Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Das
angefochtene Urteil des LSG leidet an einem Verfahrensmangel, den der Kläger zu Recht
gerügt hat. Im Übrigen reichen die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen für eine
abschließende Entscheidung nicht aus.
16 Mit seiner Rüge, das LSG habe die Berufung zu Unrecht teilweise als unzulässig verworfen,
macht der Kläger geltend, dass insoweit statt des Prozessurteils ein Urteil in der Sache hätte
ergehen müssen. Damit hat er einen Verfahrensfehler bezeichnet (BSGE 34, 236, 237 =
SozR Nr 57 zu § 51 SGG; BSG SozR 1500 § 144 Nr 1 S 1 = Breith 1974, 909) . Diese
Verfahrensrüge greift auch durch, weil das LSG zu Unrecht nicht in der Sache entschieden
hat. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob das LSG - hinsichtlich der im
Revisionsverfahren noch streitgegenständlichen GdB-Feststellung für die Zeit ab April 2001
- die Berufung oder die Klage für unzulässig gehalten hat. Einerseits hat das LSG
ausdrücklich die Berufung als unzulässig bezeichnet; andererseits ergibt sich aus den
Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils, dass das LSG die Zulässigkeit der Klage
wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses verneint hat. Sowohl Berufung als auch Klage
sind zulässig.
17 An der Zulässigkeit der Berufung besteht - auch zwischen den Beteiligten - kein Zweifel. Sie
ist statthaft und frist- sowie formgerecht eingelegt worden. Zudem ist der Kläger durch den
klagabweisenden Ausspruch des SG-Urteils beschwert (vgl BSGE 80, 97 f = SozR 3-3870 §
4 Nr 18 S 71; Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, Vor §
143 RdNr 5a mwN) .
18 Die Klage ist ebenfalls zulässig. Entgegen der Ansicht des LSG fehlt es auch nicht am
Rechtsschutzbedürfnis des Klägers. Zwar ist eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nur
zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den angefochtenen Verwaltungsakt (VA) oder
dessen Ablehnung beschwert, also in seinen eigenen Rechten verletzt zu sein (§ 54 Abs 1
Satz 2 SGG) . Für die Zulässigkeit einer Klage reicht es aber schon aus, dass eine
Verletzung in eigenen Rechten möglich ist; ob sie tatsächlich vorliegt, ist Frage der
Begründetheit (Pawlak in Hennig, SGG, § 131 RdNr 9 f; Keller in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, RdNr 16; Krasney/Udsching, Handbuch des
sozialgerichtlichen Verfahrens, IV RdNr 8; Castendiek in Hk-SGG, § 54 RdNr 80 f) . An die
Substantiierungspflicht dürfen dabei keine zu großen Anforderungen gestellt werden (BSGE
68, 291, 292 = SozR 3-1500 § 54 Nr 7 S 12; BSGE 62, 231, 232 = SozR 2200 § 368b Nr 4 S
2 mwN) . Es genügt, wenn der Kläger die Beseitigung einer in seine Rechtssphäre
eingreifenden Verwaltungsmaßnahme anstrebt, von der er behauptet, sie sei nicht
rechtmäßig (BSGE 90, 127, 130 = SozR 3-5795 § 10d Nr 1 S 4) . Aus dem klägerischen
Vorbringen ergibt sich mit ausreichender Deutlichkeit, dass er das Vorliegen eines höheren
GdB und der Schwerbehinderteneigenschaft behauptet und hieraus weitergehende Vorteile
für sich geltend macht. Er ist der Ansicht, dass sein Wohnsitz in Italien diesem Begehren
nicht entgegensteht. Dies reicht für die Bejahung der Zulässigkeitsvoraussetzung des § 54
Abs 1 Satz 2 SGG aus.
19 Zwar ist der Senat dadurch, dass die Vorinstanz verfahrensfehlerhaft eine Sachentscheidung
unterlassen hat, nicht gehindert, selbst über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch in
der Sache zu entscheiden. Dafür mangelt es jedoch an hinreichenden
Tatsachenfeststellungen.
20 Der im Wege der Neufeststellung nach § 48 SGB X geltend gemachte Anspruch des Klägers
auf Anerkennung eines höheren GdB richtet sich bis zum 30.6.2001 nach §§ 3, 4
Schwerbehindertengesetz (SchwbG) und ab 1.7.2001 nach § 69 SGB IX. Da das SchwbG
gemäß § 68 Nr 2 SGB I in der bis zum 30.6.2001 geltenden Fassung vom 21.12.2000 (BGBl
I, 1983) als besonderer Teil des SGB gilt, ist für die Anwendung beider Gesetze im
vorliegenden Fall § 30 SGB I maßgebend. Dieser bestimmt in seinem Abs 1, dass die
Vorschriften des SGB für alle Personen gelten, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen
Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben. Nach den Feststellungen des LSG hat der
Kläger seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt (vgl § 30 Abs 3 SGB I) nicht in
Deutschland, sondern in Italien. Dementsprechend kann er sich grundsätzlich nicht auf die
Regelungen des SchwbG und SGB IX berufen. Dies gilt jedoch nur, soweit sich aus diesen
Gesetzen nichts Abweichendes ergibt (vgl § 37 Satz 1 SGB I; dazu zB Schlegel in juris-PK
SGB I § 30 RdNr 10) .
21 Solche abweichenden Regelungen sind zB § 1 SchwbG bzw § 2 Abs 2 SGB IX, soweit sie
für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft eine Beschäftigung auf einem
inländischen Arbeitsplatz ausreichen lassen. Diese Ausnahme liegt darin begründet, dass
die Schwerbehinderteneigenschaft einen besonderen Schutz am Arbeitsplatz (§§ 5 ff
SchwbG bzw §§ 71 ff SGB IX) nach sich zieht, der auch Grenzgängern zugute kommen soll
(BT-Drucks 7/656 S 24) . Entgegen der Ansicht des Beklagten sind § 1 SchwbG bzw § 2 Abs
2 SGB IX hier allerdings nicht einschlägig, weil die Feststellung eines GdB nach § 4 Abs 1
SchwbG bzw § 69 SGB IX nicht mit der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft
gleichzusetzen ist (so schon Vergleichsvorschlag des BSG Breith 2003, 71, 77) ; sie kommt
insbesondere auch für behinderte Menschen in Betracht, die nicht schwerbehindert sind.
Ebenso ermöglicht sie die Berücksichtigung eines GdB von über 50.
22 Zwar enthalten § 4 Abs 1 SchwbG und § 69 SGB IX keine ausdrücklichen
Ausnahmebestimmungen zu dem in § 30 Abs 1 SGB I verankerten Territorialitätsprinzip,
nach Auffassung des erkennenden Senats ergibt sich jedoch aus dem Sinn und Zweck
dieser Vorschriften etwas Abweichendes iS von § 37 Satz 1 SGB I (vgl dazu allg Seewald in
Kasseler Komm, § 37 SGB I RdNr 5) . Die Feststellung des GdB hat eine dienende Funktion.
Sie gewinnt erst dadurch Bedeutung, dass sie als Statusfeststellung auch für Dritte
verbindlich ist (vgl BSGE 52, 168, 172 = SozR 3870 § 3 Nr 13 S 31; BSGE 69, 14, 17 = SozR
3-1300 § 44 Nr 3 S 9) und die Inanspruchnahme von sozialrechtlichen, steuerrechtlichen,
arbeitsrechtlichen, straßenverkehrsrechtlichen und anderen Vorteilen ermöglicht. Das durch
eine Feststellung nach § 4 SchwbG bzw § 69 SGB IX gewährte subjektive soziale Recht
berührt den Rechtskreis des Antragstellers also immer dann, wenn sich hieraus weitere
Rechte im Inland ergeben können. Soweit es derartige rechtliche Vorteile gibt, die nicht an
einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, sondern an einen andersartigen
Inlandsbezug anknüpfen, erfordert es schon der Grundsatz der Gleichbehandlung und der
Einheit der Rechtsordnung, dass die betreffenden Personen eine Feststellung iS von § 4
SchwbG bzw § 69 SGB X beanspruchen können (vgl dazu Vergleichsvorschlag BSG Breith
2003, 71, 77) .
23 Allerdings kann ein im Ausland wohnender Behinderter das Feststellungsverfahren nach § 4
SchwbG bzw § 69 SGB IX nur zur Ermöglichung konkreter inländischer Rechtsvorteile in
Anspruch nehmen. Geht es nur um den Nachweis einer Behinderung gegenüber
ausländischen Stellen, kann der behinderte Mensch auf die Möglichkeit entsprechender
Feststellungen durch die für seinen Wohnort im Ausland zuständigen Stellen verwiesen
werden. Ebenso wenig reicht insofern eine abstrakte, also rein theoretische Möglichkeit der
Inanspruchnahme rechtlicher Vorteile im Inland aus (so aber Sächsisches LSG, Urteil vom
21.12.2005 - L 6 SB 5/04 - juris) . Vielmehr lässt sich eine Durchbrechung des
Territorialitätsprinzips (§ 30 Abs 1 iVm § 37 Satz 1 SGB I) nur rechtfertigen, wenn dem
behinderten Menschen trotz seines ausländischen Wohnsitzes aus der Feststellung seines
GdB in Deutschland konkrete Vorteile erwachsen können.
24 Im Falle des Klägers, der sich dauerhaft außerhalb des Geltungsbereiches des SGB IX
aufhält und bei dem deshalb ein für die Feststellung seines GdB ausreichender
Inlandsbezug nicht ohne weiteres gegeben ist, kommen nach diesen Grundsätzen mehrere
innerstaatliche Vergünstigungen in Betracht, die eine Einschränkung des
Territorialitätsprinzips rechtfertigen können.
25 So ist nach Aktenlage nicht ausgeschlossen, dass er während seines langjährigen
Aufenthaltes in Deutschland eine Anwartschaft auf eine gesetzliche Rente erworben hat.
Dann wäre ein für das Feststellungsverfahren nach § 4 SchwbG bzw § 69 SGB IX
erforderlicher Inlandsbezug dadurch gegeben, dass bei ihm eine Altersrente für
schwerbehinderte Menschen (§ 37 SGB VI) in Betracht käme. Über den hierfür erforderlichen
GdB von 50 kann nur im Verfahren nach § 69 SGB IX - auch für den
Rentenversicherungsträger bindend - entschieden werden (BSGE 52, 168, 172 = SozR 3870
§ 3 Nr 13 S 31; Masuch in Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch, K § 69 SGB IX RdNr 15) . Zwar
setzt § 37 Nr 2 SGB VI wegen des Verweises auf § 2 Abs 2 SGB IX grundsätzlich einen
Arbeitsplatz, Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland voraus. Aus Gründen des
vorrangigen EU-Rechts ist jedoch davon auszugehen, dass ein Wohnsitz in Italien einem
Wohnsitz im Inland gleichgestellt ist; denn es handelt sich bei der Inanspruchnahme von
Versicherungsansprüchen innerhalb der Europäischen Union (EU) um die Verwirklichung
der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sodass in diesen Fällen der fehlende
Inlandsaufenthalt einer Altersrente nach § 37 SGB VI nicht entgegensteht (vgl Niesel in
Kasseler Komm, § 37 SGB VI RdNr 6; Klattenhoff in Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch, K § 37
SGB VI RdNr 9; zur Verwaltungspraxis vgl Schindler in Kompass 1993, 588, 589).
26 Des Weiteren kommt auch die Inanspruchnahme des in seiner Höhe vom GdB abhängigen
Schwerbehindertenpauschbetrages nach § 33b Abs 1 bis 3 Einkommensteuergesetz (EStG)
in Betracht, sofern der Kläger im Inland unbeschränkt steuerpflichtig iS von § 1 Abs 2, 3
EStG ist, weil er Einkommen im Inland zB in Form von Einnahmen aus Vermietung,
Verpachtung oder Kapitalanlagen erzielt (zur Geltendmachung bei Wohnsitz im Ausland vgl
BFHE 135, 73; BFHE 210, 141) .
27 Da das LSG keine Feststellungen zu einem in der Zeit ab April 2001 noch vorhandenen
Inlandsbezug des Klägers getroffen hat, lässt sich derzeit noch nicht abschließend
beurteilen, ob der Kläger überhaupt einen Anspruch auf Feststellungen nach § 4 SchwbG
bzw § 69 SGB IX für den streitbefangenen Zeitraum hat. Sollte das LSG feststellen können,
dass der Auslandswohnsitz des Klägers seinem Begehren nicht entgegensteht, ist weiter zu
prüfen, ob der Kläger nach seinen gesundheitlichen Gegebenheiten ab April 2001 die
Feststellung eines höheren GdB beanspruchen kann. Da der erkennende Senat die noch
erforderliche ergänzende Sachverhaltsaufklärung im Revisionsverfahren nicht nachholen
darf (§ 163 SGG), ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2
SGG).
28 Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.