Urteil des BSG vom 23.04.2009
BSG (diabetes mellitus, sgg, kläger, diabetes, aufgaben, kreis, juristische person, gesetzliche grundlage, gesetzlicher vertreter, leben)
BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 23.4.2009, B 9 SB 3/08 R
Schwerbehindertenrecht - Nordrhein-Westfalen - Aufgabenübertragung auf die Kreise
und kreisfreien Städte - Prozessfähigkeit - GdB-Feststellung - Diabetes mellitus -
Einstellungsqualität - Therapieaufwand
Tatbestand
1 Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung
(GdB) von wenigstens 50 hat, also schwerbehindert ist.
2 Mit Bescheid vom 8.9.1994 stellte das Land Nordrhein-Westfalen (Versorgungsamt) bei dem
Kläger wegen einer insulinpflichtigen Blutzuckerstoffwechselstörung (Diabetes mellitus)
einen GdB von 30 fest. Im November 2003 wurde der Kläger mit einer Insulinpumpe versorgt.
3 Auf einen Änderungsantrag des Klägers stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom
17.5.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster
(Landesversorgungsamt) vom 9.9.2004 den GdB mit 40 fest. Die dagegen erhobene Klage
hat das Sozialgericht (SG) Köln abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 23.3.2005).
4 Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung des Klägers
zurückgewiesen (Urteil vom 26.2.2008). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Richtiger Klagegegner sei der Rhein-Sieg-Kreis. Durch einen Beteiligtenwechsel kraft
Gesetzes sei das Land Nordrhein-Westfalen aus dem Verfahren ausgeschieden und durch
den Rhein-Sieg-Kreis ersetzt worden. Dieser sei ab dem 1.1.2008 zuständige Behörde zur
Wahrnehmung der vormals den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des
Schwerbehindertenrechts geworden und nach materiellem Recht auch zur Gewährung oder
Verweigerung der vom Kläger begehrten "Leistung" berechtigt. Die dem zugrunde liegenden
Normen der §§ 1 und 2 Eingliederungsgesetz Nordrhein-Westfalen seien rechtlich nicht zu
beanstanden.
5 Die Berufung des Klägers sei nicht begründet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
lägen keine Behinderungen vor, die die Feststellung des GdB mit 50 rechtfertigten. Der beim
Kläger bestehende "Diabetes mellitus Typ I" sei mit einem GdB von 40 auf der Grundlage
der Nr 26.15 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP), Ausgabe 2008 (S 99),
richtig bewertet. Der Sachverständige habe unter Berücksichtigung der Laborwerte
dargelegt, dass die Blutzuckerwerte beim Kläger im Mittel von 8 % als stabil zu bezeichnen
seien. Jedenfalls habe man nach der Einstellung mit der Insulindosierpumpe eine gute
Einstellbarkeit erreicht. Danach sei es zu den früher gehäuft aufgetretenen ausgeprägten
Hypoglykämien nicht mehr gekommen. Hinsichtlich der Einstellbarkeit des Diabetes habe
der Kläger zwar einen hohen Aufwand behauptet, diesen jedoch nicht glaubhaft gemacht.
Die Blutzuckerwerte lägen zwar nicht im Normbereich, seien jedoch noch als grenzwertig zu
bezeichnen und insbesondere nicht schwankend, sondern stabil. Danach könne der
Diabetes des Klägers nicht als "schwer einstellbar" eingestuft werden. Das Tragen einer
Insulindosierpumpe rechtfertige keinen höheren GdB. Weitere für die Bemessung des GdB
bedeutsame Funktionsstörungen lägen nicht vor.
6 Mit seiner gegen dieses Urteil eingelegten Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen
und materiellen Rechts. Der Rhein-Sieg-Kreis sei der unrichtige Klagegegner.
Richtigerweise sei die Klage nach § 70 Nr 3 SGG iVm § 3 Gesetz zur Ausführung des SGG
im Lande Nordrhein-Westfalen (AG-SGG NRW) gegen den Landrat des Rhein-Sieg-Kreises
zu richten gewesen. Mindestens sei der Landrat gemäß "§ 75 Abs 5" SGG zum Verfahren
notwendig beizuladen gewesen.
7 Unzutreffend sei zudem die vom LSG bestätigte Bewertung des GdB wegen des Diabetes
mellitus mit 40. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24.4.2008 - B 9/9a SB
10/06 R - sei darauf abzustellen, ob bei den behinderten Menschen nicht nur vorübergehend
tatsächlich eine stabile oder instabile Stoffwechsellage bestehe und welcher
Therapieaufwand dafür erforderlich sei. Hätte das LSG berücksichtigt, dass neben der
Einstellungsqualität (stabile Stoffwechsellage) der erforderliche Therapieaufwand in die
Beurteilung einfließen müsse, hätte es die Feststellungen des internistischen
Sachverständigen berücksichtigen müssen, dass "ein erheblicher Aufwand mit Disziplin und
Diätkenntnissen erforderlich" sei, der beim Kläger gegeben sei. Hätte das LSG dies
berücksichtigt, hätte es erkannt, dass der Auffassung des Sachverständigen zum Einzel-GdB
in dem Funktionssystem Stoffwechsel lediglich eine rechtlich fehlerhafte Auffassung zum
Begriff der Einstellbarkeit des Diabetes zugrunde liege und nach den Feststellungen des
Sachverständigen die Voraussetzungen für einen GdB von 50 erfüllt seien.
8 Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des SG Köln vom 23.3.2005, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen
vom 26.2.2008 sowie den Bescheid des Versorgungsamtes Köln vom 17.5.2004 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.9.2004 abzuändern und den Beklagten zu
verurteilen, beim Kläger für die Zeit ab November 2003 einen GdB von 50 festzustellen.
9 Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
10 Er vertritt die Auffassung: Sollte der Rhein-Sieg-Kreis - wie der Kläger geltend mache - nicht
beteiligtenfähig sein, müsse die Klage als unzulässig abgewiesen werden. Im Übrigen sei
nach allgemeiner Auffassung bei unrichtiger Bezeichnung des Beklagten das Gericht von
Amts wegen verpflichtet, eine Berichtigung vorzunehmen. Die Frage, ob hier auf das
Rechtsträger- oder das Behördenprinzip abzustellen sei, sei damit für den Ausgang des
Rechtsstreits ohne Bedeutung. Auch die gerügte Verletzung des § 75 Abs 5 SGG bestehe
nicht. Sofern der Kläger hinsichtlich der Feststellung des GdB rüge, dass die Entscheidung
des LSG nicht den Modifizierungen der AHP 2008, die das BSG in seiner Entscheidung vom
24.4.2008 herausgearbeitet habe, entspreche, sei darauf hinzuweisen, dass ein Ergebnis
der für notwendig gehaltenen Sachverständigenanhörung bisher nicht vorliege.
11 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
12 Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und
Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
13 Die Klage ist, obwohl der angefochtene Bescheid vom Land NRW (Versorgungsamt)
erlassen worden ist, jetzt zutreffend gegen den beklagten Kreis gerichtet, denn im Verlauf
des Berufungsverfahrens ist es zu einem Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes auf der
Beklagtenseite gekommen. § 2 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die
allgemeine Verwaltung des Landes NRW (Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der
Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW S 482, ) hat die
den Versorgungsämtern nach den §§ 69 und 145 SGB IX übertragenen Aufgaben mit
Wirkung vom 1.1.2008 auf die Kreise und kreisfreien Städte übertragen. Das LSG hat den
Inhalt dieser landesrechtlichen Norm, wie auch den Inhalt der übrigen hier einschlägigen
Bestimmungen des EingliederungsG als gemäß § 162 SGG nicht revisibles Recht für das
BSG maßgebend festgestellt (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl
2008, § 162 RdNr 7 mwN) . Einwendungen gegen diese Feststellungen des Inhalts des
EingliederungsG sind nicht erhoben worden.
14 Mit der in § 2 Abs 1 EingliederungsG geregelten Zuständigkeitsverlagerung ist ein
Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes (vgl dazu BSG, Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 2/07 R -
BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6, jeweils RdNr 13 f, BSG, Beschluss vom 8.5.2007 - B
12 SF 3/07 S - SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4; BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R -
zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) eingetreten, denn allein der im Lauf
des Verfahrens durch die Aufgabenübertragung zuständig gewordene Rechtsträger kann die
mit der Klage verfolgten Ansprüche erfüllen. Der Kläger hat dementsprechend seine Klage (s
§ 99 SGG) schon im Berufungsverfahren gegen den beklagten Kreis gerichtet. Sein die
Rechtmäßigkeit der Zuständigkeit des Beklagten bestreitendes Revisionsvorbringen ist in
diesem Zusammenhang unerheblich, da die Prüfung der Zulässigkeit der Klage als
Prozessvoraussetzung (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, §
170 RdNr 4a mwN) und damit auch die Frage des richtigen Klagegegners im
Revisionsverfahren von Amts wegen zu erfolgen hat.
15 Die durch Landesgesetz geregelte Übertragung der Zuständigkeit für die Aufgaben nach §§
69, 145 SGB IX auf den Beklagten als Kommune ist mit höherrangigem Recht, insbesondere
den Vorschriften des Grundgesetzes (GG) vereinbar. Gesetzliche Zuständigkeitsregel ist §
69 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB IX, wonach die für die Durchführung des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer
Behinderung und den GdB sowie die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme
von Nachteilsausgleichen feststellen. Seit dem 1.1.2008 sind in NRW die
Landschaftsverbände für die Durchführung des BVG zuständig. Diese durch § 4 Abs 1
EingliederungsG erfolgte Übertragung der Zuständigkeit ist ihrerseits mit höherrangigem
Recht vereinbar. Dies hat der erkennende Senat durch die Urteile vom 11.12.2008 (B 9 VS
1/08 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, sowie - B 9 V 3/07 R -)
entschieden und eingehend begründet.
16 Allerdings erzwingen es § 69 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB IX nicht, dass in NRW die
Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX nunmehr von den Landschaftsverbänden
wahrgenommen werden müssen. Denn nach § 69 Abs 1 Satz 7 SGB IX kann durch
Landesrecht die Zuständigkeit abweichend von Satz 1 - des § 69 Abs 1 - geregelt werden.
Das ist durch § 2 Abs 1 EingliederungsG geschehen, der die bisher den Versorgungsämtern
nach den §§ 69 und 145 SGB IX übertragenen Aufgaben mit Wirkung vom 1.1.2008 auf die
Kreise und kreisfreien Städte übertragen hat.
17 § 2 Abs 1 EingliederungsG steht im Einklang mit der Kompetenzordnung des GG. Wie die
Kriegsopferversorgung selbst (s BSG, Urteile vom 11.12.2008, aaO) führen die Länder auch
die Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX als eigene Angelegenheit iS des Art 83, 84 GG. Auch
bei den Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX handelt es sich nicht um
Bundesauftragsverwaltung nach Art 85 Abs 1 GG nF iVm Art 104a Abs 3 GG nF. Nach
letztgenannter Vorschrift wird ein Gesetz im Auftrag des Bundes ausgeführt, wenn es als
Bundesgesetz, das Geldleistungen gewährt, bestimmt, dass der Bund die Hälfte der
Ausgaben oder mehr trägt. Die Ausführung der §§ 69, 145 SGB IX verursacht indes allein
Personal- und Sachkosten. Geldleistungen werden auf der Grundlage dieser Bestimmungen
des SGB IX nicht gewährt. Die in den §§ 145 ff SGB IX geregelte unentgeltliche Beförderung
im Nahverkehr ist nicht mit Geldleistungen an die Berechtigten verbunden. Sie ist, da der
Anspruch gemäß § 145 Abs 1 Satz 2 SGB IX durch die Ausgabe von Wertmarken erfüllt wird,
als Sachleistung anzusehen (zum Begriff des Geldleistungsgesetzes s Pieroth in
Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl 2007, Art 104a RdNr 5 mwN) . Auch soweit anstelle der
unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr durch Halter von
Personenkraftwagen die Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer in Anspruch genommen wird,
handelt es sich nicht um eine Geldleistung. Die Steuerermäßigung wird zudem nicht
aufgrund des § 145 SGB IX gewährt. Ihre gesetzliche Grundlage ist vielmehr § 3a
Kraftfahrzeugsteuergesetz (neu gefasst durch Bekanntmachung vom 26.9.2002, BGBl I
3818).
18 Wie bei der Übertragung der Aufgaben der Kriegsopferversorgung auf die
Landschaftsverbände ist auch bei der Übertragung der Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX
auf die Kreise und kreisfreien Städte sichergestellt, dass die Aufsichtsrechte des Bundes (Art
84 Abs 3 und 4 GG nF) gewahrt sind, denn auch diese Aufgaben sind durch § 2 Abs 2
EingliederungsG als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen (s BSG, Urteile
vom 11.12.2008, aaO) .
19 In der hier zu beurteilenden Aufgabenübertragung liegt ebenfalls kein Verstoß gegen Art 28
Abs 2 GG (Garantie der kommunalen Selbstverwaltung). Insoweit ergeben sich keine
Abweichungen zur Übertragung der Aufgaben der Kriegsopferversorgung (s dazu BSG,
Urteile vom 11.12.2008, aaO) . Auch hinsichtlich der für die Ausführung der §§ 69, 145 SGB
IX allein anfallenden Personal- und Sachkosten hat § 23 EingliederungsG einen
Belastungsausgleich zugunsten der Kreise und kreisfreien Städte vorgesehen.
20 Wie § 4 Abs 1 EingliederungsG kollidiert schließlich auch dessen § 2 Abs 1 nicht mit der
bundesgesetzlichen Vorschrift des § 71 Abs 5 SGG (s dazu BSG, Urteile vom 11.12.2008,
aaO) .
21 Der beklagte Kreis ist gemäß § 70 Nr 1 2. Alt SGG als juristische Person fähig, am
sozialgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein. Seine Prozessfähigkeit ergibt sich aus § 71
Abs 3 SGG; er wird in Rechts- und Verwaltungsgeschäften durch den Landrat gesetzlich
vertreten (§ 42 Buchst e Kreisordnung Nordrhein-Westfalen idF vom 14.7.1994, zuletzt
geändert durch Gesetz vom 9.10.2007, GVBl NRW 380, dessen Inhalt der Senat als
Landesrecht feststellen darf, weil sich das LSG mit dieser Vorschrift nicht befasst hat, s
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Komm, 9. Aufl 2008, § 162 RdNr 7b mwN)
. Entgegen dem Revisionsvorbringen ist der beklagte Kreis als Rechtsträger zu Recht selbst
am Verfahren vor dem BSG beteiligt. Zwar verleiht § 70 Nr 3 SGG auch Behörden die
Fähigkeit, am Verfahren beteiligt zu sein, sofern das Landesrecht dies bestimmt, und zwar für
Landesbehörden (BSG, Beschluss vom 28.10.1994 - 9 RV 17/94 - SozR 1500 § 75 Nr 23) .
Zudem mögen in NRW aufgrund von landesrechtlichen Vorschriften Behörden (zum
Behördenbegriff s zuletzt BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 11 RdNr 11) fähig sein, am
sozialgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein (s § 3 AG-SGG NRW vom 8.12.1953, GVBl
NRW S 412, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 14.12.1989, GVBl NRW S 678) . Indes
verliert der Beklagte als Träger einer dergestalt berechtigten Behörde dadurch selbst seine
Beteiligtenfähigkeit nicht. Er kann alternativ verklagt werden (Wagner in Hennig, SGG
Komm, Stand 2/09, § 70 RdNr 30; Zeihe, SGG Komm, Stand 11/08, § 70 RdNr 8b) . In
Übereinstimmung damit hatte der Kläger schon die Berufung nicht gegen den Landrat,
sondern gegen den Rhein-Sieg-Kreis selbst gerichtet.
22 Die Rüge einer Verletzung des "§ 75 Abs 5 SGG" durch den Kläger geht ins Leere, denn
diese Vorschrift, die die Möglichkeit der Verurteilung Beigeladener in bestimmten
Angelegenheiten regelt, ist hier ersichtlich nicht einschlägig. Sofern der Kläger zugleich
sinngemäß die Verletzung des § 75 Abs 2 SGG (notwendige Beiladung) gerügt hat, ist diese
Rüge unbegründet. Diese Bestimmung schreibt unter den dort genannten weiteren
Voraussetzungen die Beiladung "Dritter" oder eines "anderen Versicherungsträgers" vor.
Der Landrat ist indes im Verhältnis zum beklagten Kreis offensichtlich nicht Dritter, sondern -
wie erwähnt - dessen gesetzlicher Vertreter bzw mag durch landesrechtliche Ermächtigung
als Behörde für den Beklagten handeln.
23 Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der
Sache an das LSG, denn der Senat kann aufgrund der bisherigen tatsächlichen
Feststellungen nicht abschließend über die Klage, also darüber entscheiden, ob der Kläger
Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 hat.
24 Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von 50 ist § 69
Abs 1 und 3 SGB IX für die Zeit ab 1.5.2004 idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606),
und zwar eingebettet in das auf § 48 Abs 1 SGB X beruhende
Verschlimmerungsantragsverfahren. Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die
Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in
einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB
werden dabei nach § 69 Abs 2 Satz 3 SGB IX (ab 1.5.2004: Satz 4) die Auswirkungen auf
die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß
§ 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX (ab 1.5.2004: Satz 5) gelten die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG
festgelegten Maßstäbe entsprechend (zu den Folgen dieser Verweisung s BSG, Urteil vom
24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - RdNr 22 mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen,
SGb 2009, 168) . Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen
der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen
Beziehungen festgestellt.
25
Mit seinem Urteil vom 24.4.2008 (aaO) hat der erkennende Senat nach Beweisaufnahme zu
den allgemeinen medizinischen Erkenntnissen über die Auswirkungen des Diabetes
mellitus auf die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft entschieden, dass die
diese Krankheit betreffenden Nr 26.15 der AHP 1996 und 2004 nur mit gewissen Maßgaben
dem höherrangigen Recht und dem Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht. Bei
der dort behandelten GdB-Bewertung ist neben der Einstellungsqualität auch der
Therapieaufwand zu berücksichtigen, soweit er sich auf die Teilhabe des behinderten
Menschen am Leben in der Gesellschaft nachteilig auswirkt. Der GdB wird relativ niedrig
anzusetzen sein, wenn mit geringem Therapieaufwand eine ausgeglichene
Stoffwechsellage erreicht wird. Mit (in beeinträchtigender Weise) wachsendem
Therapieaufwand und/oder abnehmendem Therapieerfolg (instabilerer Stoffwechsellage)
wird der GdB höher einzuschätzen sein. Dabei sind jeweils - im Vergleich zu anderen
Behinderungen - die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in
Betracht zu ziehen (aaO, RdNr 40) . Dagegen kommt es für die GdB-Bewertung auf die
Unterscheidung nach dem Typ I und dem Typ II des Diabetes mellitus nicht an (aaO, RdNr
36) . Angesichts dieser Entscheidung des BSG ist der Ärztliche Sachverständigenbeirat
"Versorgungsmedizin" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) inzwischen
in eine erneute Expertenanhörung eingetreten und empfiehlt bis zur abschließenden
Klärung die Anwendung der folgenden Tabelle (s Rundschreiben des BMAS vom
22.9.2008 - IV C 3-48064-3 - an die zuständigen obersten Landesbehörden) :
Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)
mit Diät allein (ohne blutzuckerregulierende Medikamente)
mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung nicht erhöhen
10
mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung erhöhen
20
unter Insulintherapie, auch in Kombination mit anderen blutzuckersenkenden
Medikamenten, je nach Stabilität der Stoffwechsellage (stabil oder mäßig
schwankend)
30-
40
unter Insulintherapie instabile Stoffwechsellage einschließlich gelegentlicher
schwerer Hypoglykämien
50
Häufige, ausgeprägte oder schwere Hypoglykämien sind zusätzlich zu bewerten.
Schwere Hypoglykämien sind Unterzuckerungen, die eine ärztliche Hilfe erfordern.
26 Diese vorläufige Neufassung der AHP hat die Nr 26.15 der AHP in den Ausgaben seit 1996
ersetzt, die Gegenstand des Senatsurteils vom 24.4.2008 (aaO) waren. Allerdings ist sie wie
die Fassungen der AHP seit 1996 nicht abschließende Grundlage der Beurteilung des GdB,
denn sie erfasst den aufgrund § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX zwingend zu berücksichtigenden
Therapieaufwand nicht (s BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a SB 4/07 R -).
27 Seit dem 1.1.2009 ist die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1
und des § 35 Abs 1 BVG vom 10.12.2008 (BGBl I 2412
VersMedV ->) in Kraft, die aufgrund der Bezugnahme in § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX auch für
das Verfahren der Feststellung einer Behinderung und des GdB gilt. Diese aufgrund des §
30 Abs 17 BVG durch das BMAS im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der
Verteidigung erlassene Rechtsverordnung ersetzt nunmehr die bis dahin der
Rechtsanwendung zugrunde liegenden AHP. Als Rechtsverordnung bindet sie Verwaltung
und Gerichte.
28 In Teil B Nr 15 der VersMedV finden sich die Regelungen zur Feststellung des Grades der
Schädigungsfolgen bzw des GdB bei Störungen des Stoffwechsels sowie der inneren
Sekretion. Der Diabetes mellitus ist konkret in der Nr 15.1 des Teils B erfasst. Der dortige
Abschnitt ist im Wortlaut identisch mit der (oben zitierten) vorläufigen Neufassung der AHP
2008 durch das Rundschreiben des BMAS vom 22.9.2008 (IV C 3.48064-3-) , sodass nach
wie vor allein die Einstellungsqualität des Diabetes und - noch - nicht ein die Teilhabe
beeinträchtigender Therapieaufwand berücksichtigt ist.
29 Obgleich es sich bei der VersMedV um eine Rechtsverordnung und damit eine
untergesetzliche Rechtsnorm handelt, bindet sie in diesem speziellen Fall die
Rechtsanwender nicht, denn sie verstößt gegen § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX. Der medizinisch
notwendige Aufwand für die Therapie einer Dauererkrankung wie des Diabetes mellitus
kann je nach Art und notwendigen Zeitaufwand "Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben
in der Gesellschaft" haben. In diesem Fall ist er gesetzlich zwingend zu berücksichtigen.
30 Da es sich bei der VersMedV um eine untergesetzliche Rechtsnorm handelt, ist das BSG
nicht nur befugt, inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - hier § 69 Abs 1
Satz 4 SGB IX - festzustellen. Das Gericht ist anders als bei formellen Gesetzen (s Art 100
Abs 1 GG) auch berechtigt, die Rechtswirkungen dieses Verstoßes gegen das höherrangige
Recht festzustellen und den Einzelfall danach unmittelbar zu entscheiden (s BVerfGE 1, 184,
189 ff, 201; 17, 208, 210; 23, 276, 286). Gegen höherrangiges Recht verstoßende
Rechtsnormen sind rechtswidrig und, anders als etwa Verwaltungsakte, die nur unter den
besonderen Voraussetzungen des § 40 SGB X nichtig sind, nichtig. Allerdings führt die
Nichtigkeit einer oder mehrerer Vorschrift(en) einer Rechtsverordnung nicht stets zur
Nichtigkeit der gesamten Verordnung. Nach den Grundsätzen der Teilnichtigkeit von
Rechtsgeschäften (§ 139 BGB) ist bei Nichtigkeit einer einzelnen Vorschrift die
Rechtsverordnung insgesamt nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass sie auch ohne den
nichtigen Teil erlassen worden wäre. Das ist indes hier nicht der Fall. Da die VersMedV den
gesamten Bereich dauerhafter, die Teilhabe beeinträchtigender Erkrankungen des
Menschen erfasst bzw erfassen will, muss angenommen werden, dass sie auch ohne die in
Teil B Nr 15.1 enthaltenen Normierungen zum Diabetes mellitus erlassen worden wäre. Von
der hier getroffenen Entscheidung bleiben daher die übrigen Vorschriften dieser
Rechtsverordnung unberührt.
31 Bis zu einer mit § 69 Abs 2 Satz 3 und 4 SGB IX in Einklang stehenden Neufassung der
Bestimmungen über den Diabetes mellitus ist dieser Bereich durch Verwaltung und Gerichte
nach den Grundsätzen des Urteils des erkennenden Senats vom 24.4.2008 (aaO) zu prüfen
und zu entscheiden.
32 Aufgrund der derzeit vorliegenden tatsächlichen Feststellungen des LSG kann indes nicht
abschließend beurteilt werden, ob der Gesamt-GdB des Klägers mit 50 zu bemessen ist.
Abgesehen davon, dass die bisherigen Prüfungen durch den Beklagten und die
Instanzgerichte sich an den nicht mehr anwendbaren Fassungen der Nr 26.15 der AHP 2004
und 2008 - insbesondere an der dort noch getroffenen Differenzierung nach Typ I und Typ II -
orientiert haben und sich an der VersMedV - wegen des dort nicht berücksichtigten
Kriteriums des Therapieaufwands - insoweit allein nicht orientieren dürfen, fehlen
ausreichende Feststellungen des LSG zu Art und etwaigen Besonderheiten des Diabetes
des Klägers. Das LSG ist davon ausgegangen, dass es sich um einen Diabetes Typ I
handelt, und hat untersucht, ob dieser Diabetes "gut" oder "schwer" einstellbar ist. Mit den
Folgen des Tragens einer Insulindosierpumpe durch den Kläger hat sich das LSG zwar im
Rahmen dieser Prüfung beschäftigt, es aber - aus seiner damaligen Sicht konsequent -
unterlassen, die entsprechenden Folgen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unter
dem Gesichtspunkt des Therapieaufwandes zu prüfen. Diese Feststellungen wird das LSG
nachzuholen haben.
33 Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.