Urteil des BSG vom 15.06.2010
BSG: schweigen des gesetzes, treu und glauben, öffentlich, auszahlung, verwaltungsakt, tod, geldleistung, abgabe, zessionar, berufskrankheit
Bundessozialgericht
Urteil vom 15.06.2010
Sozialgericht Freiburg S 2 KNU 642/07
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 4 U 3728/08
Bundessozialgericht B 2 U 26/09 R
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Oktober 2009
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen. Der Streitwert wird auf 14.854,26 Euro festgesetzt.
Gründe:
I
1
Die Klägerin begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) die Zahlung von 14.852,26 Euro.
2
Die Klägerin und die Beigeladene zu 2) sind die leiblichen Töchter und je zur Hälfte die gesetzlichen Erbinnen des F.
S. (im Folgenden: S.). Die Beigeladene zu 1) ist die Tochter der zuvor verstorbenen Ehefrau des S., jedoch nicht
seine leibliche Tochter, der Beigeladene zu 3) der Ehemann der Beigeladenen zu 1). S. war in den Jahren von 1947
bis 1989 zum Teil unter Tage bei der W. AG beschäftigt und bezog eine Altersrente der gesetzlichen
Rentenversicherung sowie eine Rente der Norddeutschen Metall-BG (NMBG). Aufgrund einer ärztlichen Anzeige über
den Verdacht einer Berufskrankheit (BK) wegen eines Bronchialkarzinoms bei S. leitete die Rechtsvorgängerin der
Beklagten (im Folgenden: die Beklagte) ein Feststellungsverfahren ein. In diesem teilte S. der Beklagten ua mit, er
habe die Beigeladene zu 1) bevollmächtigt, ihn in dieser Angelegenheit zu vertreten, und sich für weitere Rückfragen
an diese zu wenden. Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 19.12.2001 die BK Nr 2402 nach der Anlage der
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) bei S. fest und bewilligte ihm aufgrund eines Versicherungsfalls vom 16.5.2001
eine Verletztenrente ab 17.5.2001 in Höhe der Vollrente.
3
Wegen des Zeitpunktes des Versicherungsfalls erhob S. Widerspruch in einem Schreiben, das seinen Briefkopf trug
und mit seiner persönlichen Unterschrift versehen war. Mit weiterem Bescheid vom 14.2.2003 half die Beklagte dem
Widerspruch ab, nahm den Bescheid vom 19.12.2001 teilweise zurück, erkannte als Zeitpunkt des Versicherungsfalls
den 20.10.1998 an und bewilligte S. ab dem 21.10.1998 die Vollrente. Den Nachzahlungsbetrag für die Verletztenrente
für die Zeit vom 21.10.1998 bis zum 16.5.2001 in Höhe von 20.813,25 Euro behielt sie zunächst ein. Nachdem der
Beklagten von der Beigeladenen zu 1) der am 15.3.2003 eingetretene Tod des S. mitgeteilt worden war, bat die
Beklagte die Beigeladene zu 1), die Namen aller Erben mitzuteilen und einen Erbschein zu beantragen. Am 25.3.2003
legte die Beigeladene zu 1) der Beklagten ein mit "F. S. " unterzeichnetes Schriftstück vom 25.12.2001 vor, das die
Überschrift "Abtretungserklärung" und ua den Satz enthält: "Sämtliche Ansprüche, die sich aus dem
Widerspruchsverfahren gegen den Termin der Anerkennung meiner Berufskrankheit nach Nr 2402 ergeben, trete ich in
vollem Umfang an meine Tochter, M. T. , und an meinen Schwiegersohn, Herrn H. T. , ab."
4
Am 4.4.2003 überwies die Beklagte an die NMBG zur Erfüllung des von dieser geltend gemachten
Erstattungsanspruchs in Höhe von 5.960,99 Euro. Nachdem die Beklagte nochmals um die Vorlage eines Erbscheins
gebeten und ua mitgeteilt hatte, die Auszahlung könne nur aufgrund einer gemeinsamen Erklärung aller Erben
erfolgen, verwies die Beigeladene zu 1) auf die vorgelegte "Abtretungserklärung" und darauf, dass sie und ihr
Ehemann die Betreuungs- und Fürsorgeleistungen an S. erbracht hätten. Daraufhin sah die Beklagte die Auszahlung
des restlichen Nachzahlungsbetrags in Höhe von 14.852,26 Euro (im Folgenden: Auszahlungsanspruch) an die
Beigeladene zu 1) nicht als ermessensfehlerhaft an. Eine erste Überweisung des Betrags am 14.5.2003 auf das Konto
des S. wurde von der Beklagten erfolgreich zurückgefordert, nachdem die Beigeladene zu 1) mitgeteilt hatte, sie habe
auf das Konto keinen Zugriff mehr und das Konto werde aufgelöst.
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Am 23.5.2003 erkundigte sich die Klägerin telefonisch bei der Beklagten nach dem Stand der Sache und machte mit
Schreiben vom 30.5.2003 für sich und die Beigeladene zu 2) als Erben Ansprüche geltend. Am 16.6.2003 überwies
die Beklagte den Auszahlungsbetrag auf das Konto der Beigeladenen zu 1), das ihr von dieser angegeben worden
war. In einem Telefongespräch am 18.6.2003 und einem Schreiben vom 20.6.2003 wiederholte die Klägerin ihr
Begehren, wies darauf hin, dass die Beigeladene zu 1) kein leibliches Kind von S. sei, und äußerte Zweifel an der
Richtigkeit der "Abtretungserklärung" und der Echtheit der Unterschrift des S.
6
Nach weiterem Schriftwechsel hat die Klägerin am 5.10.2006 Klage erhoben. Das SG hat die Beklagte verurteilt, an
die Klägerin und deren erst im Berufungsverfahren zu 2) beigeladene Schwester zur gesamten Hand einen Betrag in
Höhe von 14.854,26 Euro zu zahlen (Urteil vom 11.4.2008). Das LSG hat die Berufungen der Beklagten und der
Beigeladenen zu 1) zurückgewiesen (Urteil vom 30.10.2009) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die
Berufungen seien unbegründet, weil der Klägerin und der Beigeladenen zu 2) als gesetzlichen Erben des S. ein
Anspruch auf Auszahlung des sich aus dem Bescheid der Beklagten vom 14.2.2003 ergebenden
Nachzahlungsbetrags nach § 58 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zustehe und Sonderrechtsnachfolger
nach § 56 SGB I nicht vorhanden seien. Die Klägerin und die Beigeladene zu 2) seien Gläubiger des
Nachzahlungsanspruchs, weil die Abtretung an die Beigeladene zu 1) nicht wirksam erfolgt sei.
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Die Übertragung eines solchen Anspruchs auf eine Geldleistung nach § 53 Abs 2, 3 SGB I erfordere wie die Abtretung
nach §§ 398 ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) einen Vertrag. Selbst wenn davon ausgegangen werde, dass
zwischen S. und der Beigeladenen zu 1) ein Vertrag über die Abtretung zustande gekommen sei, sei dieser nicht
wirksam, weil die notwendige Schriftform nicht eingehalten worden sei. Bei einem solchen Abtretungsvertrag handele
es sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag iS des § 53 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X),
da ein Anspruch auf Sozialleistung Gegenstand des Vertrages sei, auch wenn er zwischen zwei Privatpersonen
abgeschlossen werde. Ein öffentlich-rechtlicher Vertrag sei nach § 56 SGB X schriftlich abzuschließen; bei öffentlich-
rechtlichen Verträgen zwischen Privatpersonen sei die Vorschrift entsprechend anzuwenden. Die nach § 56 SGB X
iVm § 126 Abs 2 BGB erforderliche Schriftform sei nicht gewahrt, weil die "Abtretungserklärung" nur von S., nicht aber
von der Beigeladenen zu 1) unterschrieben sei.
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Unabhängig von der Frage, ob § 151 Satz 1 BGB vorliegend überhaupt anwendbar sei, könne er nicht über die
fehlende Unterschrift der Beigeladenen zu 1) auf der "Abtretungserklärung" hinweghelfen, weil dessen
Voraussetzungen nicht vorlägen. Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB folge nichts anderes,
auch könne die Beklagte sich nicht auf § 409 Abs 1 Satz 2 BGB berufen. Dies folge zum einen aus dem Fehlen der
Voraussetzung des § 151 Satz 1 BGB und zum anderen habe S. die "Abtretungserklärung" vom 25.12.2001 nicht
willentlich in Verkehr gebracht, sondern selbst am 30.12.2001 Widerspruch eingelegt und begründet, sodass die
Erklärung vom 25.12.2001 insofern widersprüchlich sei. Auch obliege dem Leistungsträger im Hinblick auf § 17 Abs 1
SGB I eine erhöhte Prüfungspflicht hinsichtlich der Wirksamkeit der Abtretung.
9
Die Beklagte hat Revision eingelegt und rügt: Die Klägerin und die Beigeladene zu 2) hätten keinen Anspruch auf
diesen Betrag, weil dieser von S. wirksam an die Beigeladene zu 1) abgetreten worden sei. Die alleinige Unterschrift
des S. auf der "Abtretungserklärung" stehe dem nicht entgegen, weil § 151 Satz 1 BGB auf öffentlich-rechtliche
Verträge anzuwenden sei und S. auf die Annahme der Abtretung verzichtet habe. Außerdem könne sie - die Beklagte
- sich auf die Schuldnerschutzvorschrift des § 409 Abs 1 Satz 2 BGB berufen, deren Voraussetzungen erfüllt seien.
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Die Beklagte beantragt die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Oktober 2009 und des
Sozialgerichts Freiburg vom 11. April 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
11
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
12
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
13
Die Beigeladene zu 1) hat keinen Antrag gestellt, aber die familiären Hintergründe aus ihrer Sicht dargestellt. Die
Beigeladene zu 2) hat sich nicht und der im Laufe des Revisionsverfahrens mit seiner Zustimmung Beigeladene zu 3)
hat sich nur in einem persönlichen Schreiben geäußert.
II
14
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung des
Rechtsstreits an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Das Urteil des LSG verletzt
zum einen Bundesrecht und zum anderen reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine den Rechtsstreit
abschließende Entscheidung des BSG nicht aus.
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Die von der Klägerin erhobene allgemeine Leistungsklage ist die richtige Klageart. Nach § 54 Abs 5 SGG kann mit der
Klage die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein
Verwaltungsakt nicht zu ergehen hat. Die allgemeine, reine Leistungsklage zielt auf eine Verurteilung zu einem Tun,
Dulden oder Unterlassen ab, wenn der Kläger einen Anspruch auf die Leistung hat und ein Verwaltungsakt nicht zu
ergehen hat, zB wenn die Verwaltung ihrer Verpflichtung aus einem Verwaltungsakt nicht nachkommt, da ein solcher
nicht zugunsten des Bürgers vollstreckbar ist und nur so der Bürger einen vollstreckbaren Titel (vgl § 199 Abs 1 SGG)
erwirken kann (vgl nur BSG vom 15.12.1994 - 4 RA 67/93 - BSGE 75, 262, 265 = SozR 3-8560 § 26 Nr 2; BSG vom
30.4.1986 - 2 RU 15/85 - BSGE 60, 87 = SozR 1200 § 53 Nr 6).
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Diese Voraussetzungen sind gegeben, da von der Klägerin die Auszahlung eines durch Verwaltungsakt festgestellten
Geldbetrages durch die Beklagte begehrt wird. Hierüber ist nach den Feststellungen des LSG zumindest gegenüber
der Klägerin und der Beigeladenen zu 2) kein Verwaltungsakt seitens der Beklagten ergangen und ein solcher braucht
auch nicht zu ergehen.
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Die Revision der Beklagten ist materiell-rechtlich im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der
Zurückverweisung der Sache begründet. Die Revision der Beklagten wäre in vollem Umfang begründet, wenn das LSG
zu Unrecht ihre Berufung gegen das Urteil des SG zurückgewiesen hätte, in dem sie verurteilt wurde, an die Klägerin
und deren erst im Berufungsverfahren zu 2) beigeladene Schwester zur gesamten Hand einen Betrag in Höhe von
14.854,26 Euro zu zahlen.
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Als Rechtsgrundlage für den Zahlungsanspruch der Klägerin und der Beigeladenen zu 2) als gesetzliche Erbinnen des
S. kommt vorliegend nur § 58 Satz 1 SGB I in Betracht, nach dem fällige Ansprüche auf Geldleistungen nach den
Vorschriften des BGB vererbt werden, soweit sie nicht nach den §§ 56 und 57 SGB I einem Sonderrechtsnachfolger
zustehen.
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend insofern erfüllt, als es sich bei dem Auszahlungsanspruch hinsichtlich der
festgestellten Nachzahlung der Verletztenrente des S. um einen Anspruch auf eine Geldleistung handelte, der am
Todestag des S., dem 15.3.2003, fällig war (vgl §§ 41, 40 Abs 1 SGB I), weil die im Siebten Buch Sozialgesetzbuch -
Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) bestimmten Voraussetzungen für eine Verletztenrente vorlagen, wie sich
aus dem Bescheid der Beklagten vom 14.2.2003 ergibt. Der vorrangige Anspruch eines Sonderrechtsnachfolgers nach
§ 56 SGB I scheidet aus, da S. allein lebte und auch nicht festgestellt wurde, dass jemand von ihm überwiegend
unterhalten wurde. Die Klägerin und die Beigeladene zu 2) sind die nach den Vorschriften des BGB berechtigten Erben
des S., wie sich aus dem von ihnen vorgelegten Erbschein ergibt (vgl § 2365 BGB). Zum Erbe gehört das gesamte
Vermögen des Verstorbenen (vgl § 1922 Abs 1 BGB) und es umfasst auch einen Anspruch auf Nachzahlung einer
Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
20
Dem Zahlungsanspruch könnte jedoch entgegenstehen - und würde zum Erfolg der Revision der Beklagten führen -,
wenn S., dem der Auszahlungsanspruch ursprünglich zustand, diesen wirksam an die Beigeladene zu 1) und den
Beigeladenen zu 3) aufgrund der "Abtretungserklärung" nach § 53 SGB I übertragen hätte. Dann wäre die Forderung
bei seinem Tod nicht in die Erbmasse gefallen und daher nicht auf seine leiblichen Töchter und Erbinnen - die Klägerin
und die Beigeladene zu 2) - übergegangen (dazu 1.). Außerdem könnte, selbst wenn keine wirksame Übertragung
erfolgt ist, die Beklagte durch ihre Zahlung an die Beigeladene zu 1) aufgrund der vorgelegten "Abtretungserklärung"
des S. nach dem grundsätzlich auch im Sozialrecht anwendbaren Rechtsgedanken des § 409 Abs 1 Satz 2 BGB
gegenüber den Erbinnen von ihrer Zahlungspflicht frei geworden sein (dazu 2.). Hinsichtlich keiner der beiden
Varianten ist mangels entsprechender Feststellungen des LSG eine endgültige Entscheidung möglich.
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1. Die Übertragung von Ansprüchen auf Geldleistungen ist in § 53 Abs 2 ff SGB I geregelt. Die Vorschrift entspricht
der aus dem Zivilrecht bekannten Abtretung nach §§ 398 ff BGB. Ziel des § 53 SGB I, der bei seinem Inkrafttreten mit
der Schaffung des SGB I nur die heutigen Absätze 1 bis 3 umfasste, ist es, einerseits die Verkehrsfähigkeit von
Sozialleistungen zu erhöhen, andererseits aber auch den notwendigen sozialen Schutz der Leistungsberechtigten zu
wahren (vgl die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 7/868 S 32).
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Ähnlich wie eine Abtretung nach § 398 BGB erfordert die Übertragung eines Anspruchs auf eine Geldleistung nach §
53 SGB I einen Vertrag zwischen dem bisherigen Gläubiger (= Zedent) und dem neuen Gläubiger (= Zessionar), durch
den der Zedent auf den Zessionar eine Forderung überträgt. Ebenso wie die Abtretung ist die Übertragung ein
Verfügungsgeschäft und daher von dem schuldrechtlichen Grundgeschäft (zB Forderungskauf) zu unterscheiden. Da
Gegenstand des Vertrages die Übertragung eines Anspruchs auf Sozialleistungen ist, wie vorliegend der Anspruch auf
Auszahlung einer Verletztenrente nach §§ 56 ff SGB VII, ist sie ein öffentlich-rechtlicher Vertrag (BSG vom
27.11.1991 - 4 RA 80/90 - BSGE 70, 37 = SozR 3-1200 § 53 Nr 2; Becker in Hauck/Noftz, SGB X, § 53 RdNr 58).
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a) Ein wirksamer Übertragungsvertrag zwischen S. und der Beigeladenen zu 1) und dem Beigeladenen zu 3) scheitert
entgegen der Auffassung des LSG nicht schon an der mangelnden Einhaltung der Schriftform.
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Für den öffentlich-rechtlichen Vertrag über die Übertragung eines Anspruchs auf eine Geldleistung nach § 53 SGB I
besteht entgegen der Ansicht des LSG kein Schriftformerfordernis. Denn der Gesetzgeber hat sich mit der Frage
eines solchen Formerfordernisses für Übertragungsverträge iS des § 53 SGB I beschäftigt und es ausdrücklich
verneint (vgl BT-Drucks 11/1004 S 4, 9, 11; BT-Drucks 11/2460 S 6, 15).
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Im Entwurf zum Ersten SGB-Änderungsgesetz vom 20.7.1988 (BGBl I S 1046), das zur Einführung der heutigen
Absätze 4 und 5 des § 53 SGB I führte, war ein Formerfordernis vorgesehen, nach dem die Übertragung nur wirksam
sein sollte, wenn sie auf einem amtlichen Vordruck erfolgte (BT-Drucks 11/1004 S 4, 9, 11). Im
Gesetzgebungsverfahren wurde diese Regelung gemäß der Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für
Arbeit und Sozialordnung gestrichen, "um Erschwernisse im Rechtsverkehr zu vermeiden", die entsprechend
heranzuziehenden Regelungen des bürgerlichen Rechts wurden als ausreichend angesehen, um den Schuldner vor
einer doppelten Inanspruchnahme zu schützen (BT-Drucks 11/2460 S 6, 15).
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Angesichts dieser Gesetzgebungsgeschichte kann entgegen Auffassungen in der Literatur (vgl nur Pflüger in
jurisPraxiskommentar SGB I § 53 RdNr 27) ein Schriftformerfordernis für einen Übertragungsvertrag nach § 53 SGB I
nicht im Wege der Analogie begründet werden, zumal die in der Gesetzesbegründung für das Schriftformerfordernis
nach § 56 SGB X genannten Gründe - Vertrag als atypische Regelung und die wechselnden handelnden Personen auf
Behördenseite (BT-Drucks 7/910 S 81) - für einen öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen Privaten nicht "passen" (im
Ergebnis ebenso Häusler in Hauck/Noftz, SGB I, § 53 RdNr 7).
27
Vielmehr liegt insoweit in § 53 SGB I ein "beredtes Schweigen" des Gesetzes für diesen speziellen Vertragstyp vor,
das den Rückgriff auf die allgemeinen Regeln über öffentlich-rechtliche Verträge in §§ 53 ff SGB X ausschließt,
unabhängig davon, ob sie auf Übertragungsverträge direkt oder analog anwendbar sind.
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b) Ob ein mündlicher Vertrag zwischen S. und den Beigeladenen zu 1) und 3) über eine Übertragung des
Auszahlungsanspruchs zustande gekommen ist und dieser vor dem Tod des S. wirksam wurde, hat das LSG - aus
seiner Sicht zu Recht - dahingestellt sein lassen. Dies wird es im Rahmen des wiedereröffneten Berufungsverfahrens
zu klären haben und dabei ua prüfen müssen, ob ein Vertrag durch Angebot und Annahme mündlich (uU konkludent)
vor, bei oder nach der Unterzeichnung der "Abtretungsurkunde" durch den Versicherten geschlossen wurde.
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Sollten die Beigeladenen zu 1) und 3) keine Annahmeerklärung abgegeben haben, muss das LSG feststellen, ob S.
auf die Abgabe der beiden Annahmeerklärungen verzichtet hatte. In diesem Fall könnte der Übertragungsvertrag auch
ohne Abgabe der Annahmeerklärungen zustande gekommen sein, ferner dann, wenn die Abgabe dieser Erklärungen
nach den vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätzen zur Verkehrssitte gemäß § 151 Satz 1 BGB nicht zu
erwarten war.
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2. Unabhängig von der Wirksamkeit eines Übertragungsvertrages hätte die Revision Erfolg gehabt, wenn die Beklagte
sich auf den Rechtsgedanken der Schuldnerschutzvorschrift des § 409 Abs 1 Satz 2 BGB hätte stützen können (vgl
zu deren Anwendung vor Schaffung des SGB I: BSG vom 8.7.1959 - 4 RJ 115/58 - BSGE 10, 160 = NJW 1959, 2087;
BSG vom 11.11.1959 - 11 RV 696/58 - BSGE 11, 60 = NJW 1960, 264; zu einer Übertragung nach § 53 Abs 3 SGB I:
BSG vom 29.6.1995 - 11 RAr 109/94 - BSGE 76, 184 = SozR 3-1200 § 53 Nr 8).
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Gegen einen Schuldnerschutz zugunsten der Beklagten im vorliegenden Verfahren bei Anwendung des
Rechtsgedankens der Vorschrift sprechen aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG: Der Beklagten war schon
unmittelbar nach dem Tod des S. bekannt, dass es als mögliche Anspruchsinhaber neben der Beigeladenen zu 1)
auch Erben gab. Die Beklagte hat zunächst um die Vorlage eines Erbscheins gebeten, dann zugunsten der
Beigeladenen zu 1) hierauf verzichtet, obwohl die Klägerin den Auszahlungsbetrag für sich und die Beigeladene zu 2)
beansprucht hatte. Die erste Überweisung des Auszahlungsbetrags auf das bisherige Konto des S. wurde
zurückgerufen, weil die Beigeladene zu 1) keinen Zugriff auf das Konto hatte. Anschließend erkundigte sich die
Klägerin telefonisch bei der Beklagten nach dem Stand der Sache und machte für sich und die Beigeladene zu 2) als
Erben Ansprüche geltend. Zwei Tage nach der Ingangsetzung der Überweisung auf das dann von der Beigeladenen zu
1) angegebene Konto äußerte die Klägerin Zweifel an der Richtigkeit der "Abtretungserklärung" und der Echtheit der
Unterschrift des S. Die Beklagte unternahm jedoch nun keinen Versuch das Geld zurückzurufen. Gründe, warum
seitens der Beklagten eine umgehende Auszahlung erfolgen musste und keine Zeit zur Klärung des Sachverhalts war,
sind den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen.
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Des Weiteren ist zu beachten, dass die sinngemäße Anwendung des § 409 Abs 1 Satz 2 BGB die Maßgeblichkeit
zwingenden Sozialverwaltungsrechts nicht beeinträchtigen darf und nach § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I die Beklagte
verpflichtet ist, darauf hinzuwirken, dass der "Berechtigte" die Leistung erhält. Es widersprach ihrer Sorgfaltspflicht,
bei ungeklärter Inhaberschaft an der Forderung an eine der streitenden Beteiligten zu zahlen oder die Zahlung, falls
noch möglich, nicht rückgängig zu machen.
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Mit der Frage, ob eine wirksame Übertragung iS des § 53 SGB I vorliegend an weitere Voraussetzungen geknüpft ist,
hat das LSG sich - aus seiner Sicht zu Recht - ebenfalls nicht auseinandergesetzt und dazu keine Feststellung
getroffen. Dies wird es ebenfalls nachzuholen haben.
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Dabei wird zu bedenken sein, ob die von den Beteiligten erörterte Feststellung des wohlverstandenen Interesses des
Berechtigten durch den Leistungsträger nach § 53 Abs 2 Nr 2 SGB I in allen Fällen zu erfolgen hat, in denen es sich -
wie hier - nicht um laufende Geldleistungen iS des § 53 Abs 3 SGB I oder um eine Übertragung nach § 53 Abs 2 Nr 1
SGB I handelt (in diesem Sinne wohl: BSG vom 14.8.1984 - 10 RKg 19/83 - SozR 1200 § 53 Nr 2; BSG vom 6.4.2000
- B 11 AL 47/99 R - SozR 3-1200 § 53 Nr 9), oder ob eine solche Feststellung nur als eine Art
"Unbedenklichkeitsbescheinigung" zur Vorbereitung einer entsprechenden Übertragung eingeholt werden kann. Denn
bei der zuerst angeführten Auslegung würde an der Rechtslage vor dem SGB I festgehalten, die zB nach dem
früheren § 119 Abs 2 Reichsversicherungsordnung die Übertragung von Sozialversicherungsansprüchen von einer
Genehmigung des Versicherungsamts abhängig machte, während durch § 53 SGB I die "Verkehrsfähigkeit" von
Sozialleistungen erhöht werden sollte (vgl die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 7/868 S 32). Dem ebenfalls als
notwendig angesehenen sozialen Schutz dient die Pfändungsfreigrenze, während eine andere Auslegung an der
früheren Abhängigkeit des Sozialleistungsempfängers von der Beurteilung des Leistungsträgers festhalten würde.
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Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. Eine Streitwertfestsetzung ist notwendig, da die Klägerin nicht
zum Personenkreis nach § 183 SGG gehört. Die Höhe des Streitwerts folgt aus § 63 Abs 2, § 52 Abs 3
Gerichtskostengesetz und entspricht dem Betrag, zu dessen Zahlung die Beklagte verurteilt wurde.