Urteil des BSG vom 13.03.2017
BSG (aufenthalt, ausländer, natürliche person, kläger, zeitpunkt, bvg, körperliche unversehrtheit, bundesrepublik deutschland, versorgung, entschädigung)
BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 8.11.2007, B 9/9a VG 3/05 R
Gewaltopferentschädigung - Beschädigten-Grundrente - sonstige Ausländer nach § 1
Abs 5 OEG - rechtmäßiger Aufenthalt - humanitäre Gründe - maßgeblicher Zeitpunkt für
das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen
Leitsätze
Ein Ausländer, der die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 OEG erfüllt, hat bei entsprechender
Minderung der Erwerbsfähigkeit (§ 31 BVG) Anspruch auf Beschädigten-Grundrente, sobald
eine der besonderen Leistungsvoraussetzungen nach § 1 Abs 4 bis 6 OEG gegeben ist.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt Beschädigten-Grundrente für die Zeit vom 9.4.1998 bis 30.9.1998 nach
dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz
2 Der 1972 im Kosovo geborene Kläger ist als jugoslawischer Staatsangehöriger im Mai 1993
in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat hier politisches Asyl beantragt. Seit
der rechtskräftigen Ablehnung seines Asylantrags im Jahre 1995 hielt er sich aufgrund
ausländerrechtlicher Duldungen im Bundesgebiet auf.
3 Am 2.3.1997 wurde der Kläger durch einen Bauchschuss so schwer verletzt, dass zuletzt bis
Ende September 1998 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH vorlag.
4 Den Antrag des Klägers vom 9.4.1998, ihm wegen der Folgen dieser Gewalttat Versorgung
nach dem OEG zuzuerkennen, lehnte der Beklagte ab, weil sich dieser nicht rechtmäßig im
Bundesgebiet aufhalte. Die ausländerrechtlichen Duldungen seien lediglich erteilt worden,
weil eine Abschiebung wegen des Fehlens von Rückführungsdokumenten aus rechtlichen
und tatsächlichen Gründen nicht möglich sei. Auch wenn wegen der 1998 begonnenen
kriegerischen Ereignisse im Kosovo nunmehr eine Duldung aus humanitären Gründen und
damit ein rechtmäßiger Aufenthalt iS des § 1 Abs 5 Satz 2 OEG vorliege, so könne dies nicht
auf den Zeitpunkt der Schädigung zurückwirken (Bescheid vom 16.11.1998 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 12.4.1999).
5 Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Klage des Klägers unter Bezugnahme auf die
Gründe der Entscheidung des Beklagten abgewiesen (Urteil vom 16.10.2000).
6 In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen am
6.9.2005 ist folgende Erklärung protokolliert worden:
7 "Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass der Grundtatbestand des § 1 Abs 1 OEG erfüllt
ist und die im Gutachten des Dr. V. festgestellten Gesundheitsstörungen Folge der Gewalttat
sind. Sie sind sich weiterhin einig, dass die MdE ab Antragstellung bis September 1998 40
vH beträgt. Weiterhin besteht Einigkeit, dass der Aufenthalt des Klägers in dieser Zeit aus
humanitären Gründen rechtmäßig iS des § 1 Abs 5 Satz 2 OEG gewesen ist."
8 Das LSG hat dem Begehren des Klägers stattgegeben, die entgegenstehenden
Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen,
die festgestellten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen anzuerkennen und ihm
Versorgungsrente nach einer MdE um 40 vH für die Zeit vom 9.4.1998 bis 30.9.1998 zu
zahlen (Urteil vom 6.9.2005). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger sei am 2.3.1997
Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriffs geworden, der zu den vom
Sachverständigen Dr. V. festgestellten Gesundheitsstörungen geführt habe, die im streitigen
Zeitraum mit einer MdE um 40 vH zu bewerten seien. Der Kläger erfülle insoweit auch die
besonderen Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung eines Ausländers gemäß § 1
Abs 5 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 OEG in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung. Danach
erhielten Ausländer, die sich ununterbrochen rechtmäßig noch nicht drei Jahre im
Bundesgebiet aufhielten, einkommensunabhängige Leistungen. Ein rechtmäßiger Aufenthalt
liege ua auch dann vor, wenn der Aufenthalt eines Ausländers aus humanitären Gründen
geduldet werde. Zwar habe sich der Kläger im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses im
März 1997 noch nicht rechtmäßig im vorgenannten Sinne im Bundesgebiet aufgehalten.
Wegen der im Jahr 1998 eskalierenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Kosovo
habe sich sein unrechtmäßiger Aufenthalt jedoch in einen rechtmäßigen Aufenthalt
gewandelt; seit etwa Ende Februar 1998 habe er aus humanitären Gründen nicht mehr in
seine Heimat abgeschoben werden können. Dies habe zur Folge, dass für den streitigen
Zeitraum ein Anspruch auf Versorgung entstanden sei. Der Auffassung des Beklagten, der
Kläger müsse sich bereits zum Zeitpunkt der Schädigung iS des OEG rechtmäßig in der
Bundesrepublik aufgehalten haben, sei nicht zu folgen. Diese einschränkende Auslegung
ergebe sich weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch aus dessen
Bedeutungszusammenhang, dessen sachlicher Systematik oder aus dem Reglungszweck
des OEG. Die Möglichkeit des "Hineinwachsens" in eine Leistungsberechtigung werde auch
von der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gestützt.
9 Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung von
§ 1 Abs 5 Sätze 1 und 2 OEG in der hier maßgebenden Fassung des Gesetzes vom
21.7.1993. Der Auffassung des LSG, es genüge, wenn der Aufenthalt im Bundesgebiet in
dem Zeitraum, für den Versorgungsleistungen begehrt würden, aus humanitären Gründen
geduldet worden sei, könne nicht gefolgt werden. Aus den Gesetzesmaterialien und dem
Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Vorschriften ergäben sich deutliche Hinweise,
dass der Aufenthalt bereits im Zeitpunkt der Tat verfestigt und rechtmäßig gewesen sein
müsse.
10 Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 6.9.2005 aufzuheben und die Berufung des
Klägers gegen das Urteil des SG Dortmund vom 16.10.2000 zurückzuweisen.
11 Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
12 Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
13 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündlichen Verhandlung durch
Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
14 Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht
entschieden, dass die beim Kläger festgestellten Gesundheitsstörungen vom Beklagten als
Schädigungsfolgen anzuerkennen sind und dieser dem Kläger für die Zeit vom 9.4.1998 bis
30.9.1998 "Versorgungsrente" (gemeint ist damit Beschädigten-Grundrente nach § 31 Abs 1
BVG) nach einer MdE um 40 vH zu zahlen hat.
15
Gemäß § 40 Abs 1 SGB I entstehen Ansprüche auf Sozialleistungen, sobald ihre im Gesetz
oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Zu diesen
Ansprüchen gehören auch Ansprüche auf Versorgungsleistungen nach dem OEG als Teil
der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden (§§ 5, 24, 68 Nr 7 Buchst f SGB I). Ein
Anspruch eines Ausländers, wie hier des Klägers, auf Zahlung einer Beschädigten-
Grundrente nach dem OEG iVm dem BVG ist dem Grunde nach entstanden, wenn
-
die allgemeinen Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem OEG (§ 1
Abs 1 Satz 1) vorliegen (dazu unter 1),
-
die weiteren besonderen Leistungsvoraussetzungen für einen Ausländer (§ 1
Abs 4 bis 6 OEG) erfüllt sind (dazu unter 2) und
-
als weitere materiell-rechtliche Voraussetzung ein wirksamer Antrag (§ 1 Abs 1
Satz 1 OEG "auf Antrag") gestellt worden ist (dazu unter 3).
16 Aus der Wortwahl "sobald" in § 40 Abs 1 SGB I ergibt sich, dass die einzelnen
Tatbestandsvoraussetzungen nicht vom selben Zeitpunkt an vorliegen müssen, sondern
auch nacheinander erfüllt werden können. Ein Anspruch auf eine Sozialleistung (hier auf
Zahlung einer Beschädigten-Grundrente nach dem OEG iVm dem BVG) steht dem
Berechtigten allerdings erst dann zu, wenn - auch in zeitlicher Hinsicht - sämtliche im Gesetz
oder auf Grund eines Gesetzes geregelten materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen
vorliegen, hier also mit Eingang des Antrags des Klägers beim Beklagten am 9.4.1998.
17 1. Ein Anspruch auf Entschädigung (Versorgung) nach dem OEG setzt nach dessen § 1 Abs
1 Satz 1 voraus, dass eine natürliche Person ("wer") im (räumlichen) Geltungsbereich des
OEG, also im Bundesgebiet, oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug (zum
Territorialitätsprinzip: BSG, Urteil vom 18.6.1996 - 9 RVg 4/94) durch einen vorsätzlichen,
rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat.
18 Durch die Wortwahl "wer" wird hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs des OEG
nicht zwischen In- und Ausländern unterschieden. Die besonderen Bestimmungen für
Ausländer in § 1 Abs 4 bis 7 OEG (hierzu zuletzt: BSG, Urteil vom 28.4.2005 - 9a/9 VG 3/04
R, SozR 4-3800 § 1 Nr 9 RdNr 8 ff) regeln keine Einschränkungen des persönlichen
Anwendungsbereichs, sondern enthalten ua ergänzend weitere besondere
Leistungsvoraussetzungen für diesen Personenkreis, die zusätzlich zu erfüllen sind (näheres
unter 2.). Dies ergibt schon der Wortlaut dieser Vorschriften. Nach § 1 Abs 4 OEG haben
"Ausländer einen Anspruch auf Versorgung, ... wenn ..."; nach § 1 Abs 5 OEG erhalten
"sonstige Ausländer … Versorgung nach folgenden Maßgaben ...". Auch der von § 1 Abs 6
OEG erfasste Personenkreis bestimmter Ausländer erhält "Versorgung …, ... wenn ..." Der
Zweck dieser Regelungen, Ausländern nur unter bestimmten Voraussetzungen einen
Anspruch auf Versorgung einzuräumen, gebietet ebenfalls keine Auslegung, welche die
Entstehung eines (Stamm-)Rechts auf Entschädigung schlechthin ausschließt, wenn diese
Voraussetzungen bei Eintritt der Schädigung nicht vorliegen. Die besonderen
Leistungsvoraussetzungen für Ausländer stehen nur als vorläufiges rechtshemmendes
Hindernis der Durchsetzung dieses Rechts entgegen (so schon BSG, Urteil vom 13.8.1986 -
9a RVg 4/84, BSGE 60, 186, 187 ff = SozR 3800 § 1 Nr 8 S 24 f zum Gegenseitigkeitsprinzip
des § 1 Abs 4 OEG) . Aus diesem Recht erwachsen, solange die besonderen
Leistungsvoraussetzungen noch nicht erfüllt sind, ua keine monatlichen Zahlungsansprüche
auf Versorgungsrente (Grundrente).
19 Dass der Kläger diese allgemeinen Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem
OEG erfüllt, ergibt sich aus den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des
LSG (§ 163 SGG) . Dies ist auch nach der in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am
6.9.2005 protokollierten Erklärung zwischen den Beteiligten nicht mehr umstritten. Der
Kläger ist am 2.3.1997 durch einen Bauchschuss verletzt worden und hat infolge dieses
schädigenden Ereignisses die vom LSG festgestellten Gesundheitsstörungen erlitten, die
jedenfalls in dem hier streitigen Zeitraum eine MdE um 40 vH bedingten. Da diese MdE in
entsprechender Anwendung des § 31 Abs 1 Satz 1 BVG einen rentenberechtigenden Grad
erreicht, hat der Kläger auch die Voraussetzungen eines Zahlungsanspruchs auf
Beschädigten-Grundrente erfüllt.
20 2. Neben diesen allgemeinen Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem OEG
enthält dieses Gesetz in § 1 Abs 4 bis 7 in der hier maßgebenden bis 31.12.2004 geltenden
Fassung besondere Bestimmungen für Ausländer (hierzu zuletzt BSG, Urteil vom 28.4.2005
- B 9a/9 VG 3/04 R, SozR 4-3800 § 1 Nr 9 RdNr 8 ff), die in § 1 Abs 4 bis 6 OEG ergänzend
von diesem Personenkreis zusätzlich zu erfüllende Leistungsvoraussetzungen regeln, wobei
abhängig vom Aufenthaltsstatus und von der Aufenthaltsdauer auch hinsichtlich der Art und
des Umfangs der Versorgung differenziert wird.
21 Nach § 1 Abs 4 OEG haben "privilegierte" Ausländer einen Anspruch auf (umfassende)
Versorgung nach dem OEG in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wenn
sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften (EG) sind (Nr
1); Rechtsvorschriften der EG auf sie anwendbar sind, die eine Gleichbehandlung mit
Deutschen erforderlich machen (Nr 2; dazu näher: Kunz/Zellner, OEG, 4. Aufl 1999, § 1 RdNr
98 ff) oder wenn die Gegenseitigkeit gewährleistet ist (Nr 3; hierzu zuletzt: BSG, Urteil vom
28.4.2005 - B 9a/9 VG 3/04 R, SozR 4-3800 § 1 Nr 9 RdNr 9 mwN ). Es kann im
vorliegenden Fall offen bleiben, ob beim Kläger als früherem jugoslawischem
Staatsangehörigen die Gegenseitigkeit gewährleistet war, denn seine Berechtigung zum
Bezug der allein streitigen Beschädigten-Grundrente folgt bereits aus § 1 Abs 5 OEG (zur
fehlenden Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Jugoslawien: BSGE 78, 51, 53 f = SozR 3-3800
§ 10 Nr 1 S 4 f) .
22 Gemäß § 1 Abs 5 OEG ist Grundvoraussetzung für den Versorgungsanspruch eines "nicht
privilegierten" ("sonstigen") Ausländers, dass er sich nicht nur vorübergehend (längstens
sechs Monate) im Bundesgebiet aufhalten will und dass sein Aufenthalt rechtmäßig im Sinne
des Ausländergesetzes ist. Ausländer, die sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen
rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, sind Deutschen und EG-Bürgern gleichgestellt; sie
haben Anspruch auf (umfassende) Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG
(Satz 1 Nr 1). Demgegenüber haben Ausländer, die sich noch nicht drei Jahre
ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, Anspruch auf ausschließlich
einkommensunabhängige Leistungen in entsprechender Anwendung des BVG (Satz 1 Nr 2),
wozu auch die vom Kläger begehrte Beschädigten-Grundrente (§ 31 Abs 1 Satz 1 BVG)
gehört. Ein rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des OEG bestand nach der
Gleichstellungsregel des § 1 Abs 5 Satz 2 OEG in der bis zum 31.12.2004 geltenden
Fassung auch für Ausländer, deren Aufenthalt nur geduldet (also ausländerrechtlich illegal)
war, wenn "ein aus humanitären Gründen oder aus erheblichem öffentlichen Interesse
geduldeter Aufenthalt" vorlag (zu den nicht deckungsgleichen Begriffen des rechtmäßigen
Aufenthalts im Opferentschädigungsrecht und im Ausländerrecht: BSG, Urteil vom 18.4.2001
- B 9 VG 5/00 R, BSGE 88, 103, 106 = SozR 3-3800 § 1 Nr 19 S 78).
23 Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, dass der Kläger im streitigen Zeitraum zu dem
von § 1 Abs 5 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 OEG erfassten Personenkreis der "nicht privilegierten"
("sonstigen") Ausländer gehörte, die sich im Sinne des OEG rechtmäßig noch nicht drei
Jahre im Bundesgebiet aufhielten. In Anschluss an die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - ( BVerwG, Urteil vom 3.6.2003 - 5 C 32/02, NVwZ
2004, 491, 492 ) hat das LSG als humanitäre Gründe solche Gründe angesehen, die wegen
ihrer Eigenart und ihres Gewichts die (sofortige) Vollziehung aufenthaltsbeendender
Maßnahmen als unmenschlich erscheinen lassen. Zwar war der Aufenthalt des Klägers im
Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses im März 1997 noch nicht als ein "aus humanitären
Gründen geduldeter Aufenthalt" zu qualifizieren, denn seit dem rechtskräftigen Abschluss
des Asylverfahrens bestand für den Kläger nach dem Ausländerrecht eine Ausreisepflicht,
die nach den bindenden (§ 163 SGG) Tatsachenfeststellungen des LSG nur wegen des
Fehlens von Rückführungsdokumenten nicht vollzogen werden konnte (dazu auch BVerwG,
aaO). Seit den im Februar/März 1998 eskalierenden kriegerischen Auseinandersetzungen
im Kosovo war es jedoch unmenschlich geworden, den Kläger in seine Heimat
zurückzuführen. Das LSG hat somit zu Recht angenommen, dass der Aufenthalt des Klägers
seit diesem Zeitpunkt rechtmäßig iS des § 1 Abs 5 Satz 2 OEG war.
24 Zutreffend hat das LSG auch entschieden, dass entgegen der Auffassung des Beklagten die
weiteren besonderen Leistungsvoraussetzungen des OEG über den rechtmäßigen
Aufenthalt des Ausländers, die zusätzlich zu erfüllen sind, nicht bereits im Zeitpunkt der
Schädigung iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG vorliegen müssen, sondern dass bei einem
rechtmäßigen Aufenthalt von unter drei Jahren für die Entstehung des (eingeschränkten)
Anspruchs auf Versorgung nach § 1 Abs 5 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 OEG der Zeitpunkt
entscheidend ist, zu dem der Aufenthalt rechtmäßig geworden ist ( so auch Kunz/Zellner,
aaO, RdNr 106 ). Für die einschränkende Auslegung des Beklagten ergibt sich weder aus
dem Gesetzestext (a), noch der Entstehungsgeschichte (b), dem systematischen
Zusammenhang (c) oder dem Sinn und Zweck dieses Gesetzes (d) ein Anhalt.
25 a) Der Gesetzestext in der hier anzuwendenden bis 31.12.2004 geltenden Fassung verlangt
in § 1 Abs 5 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 OEG in zeitlicher Hinsicht nur, dass sich der Ausländer
"ununterbrochen rechtmäßig noch nicht drei Jahre im Bundesgebiet" aufhält, wobei ein aus
humanitären Gründen oder aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldeter Aufenthalt
(von unter drei Jahren) gleichgestellt ist. Diese Voraussetzung ist - unabhängig vom
schädigenden Ereignis - nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen bei einem Ausländer, der
sich nicht nur vorübergehend im Bundesgebiet aufhalten will, erfüllt, sobald sein Aufenthalt
rechtmäßig im Sinne des OEG ist. Ein rechtmäßiger Aufenthalt im Zeitpunkt des
schädigenden Ereignisses ist nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht erforderlich. Ab dem
Zeitpunkt, von dem an der Aufenthalt rechtmäßig im Sinne des OEG ist, sind (Zahlungs-
)Ansprüche auf einkommensunabhängige Leistungen in entsprechender Anwendung des
BVG entstanden, sofern auch die weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG
(Schädigung durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff mit
rentenberechtigender MdE; wirksamer Antrag) vorliegen (§ 40 Abs 1 SGB I) . Hält sich der
Ausländer mindestens drei Jahre rechtmäßig im Sinne des OEG im Bundesgebiet auf, so
stehen ihm von diesem Zeitpunkt an nicht nur eingeschränkt einkommensunabhängige
Leistungen zu, sondern er hat nach § 1 Abs 5 Satz 1 Nr 1 OEG mit Ablauf des Drei-Jahres-
Zeitraums wie ein Deutscher Anspruch auf umfassende Versorgung ( vgl BT-Drucks
12/4889, S 6; Kunz/Zellner, aaO, RdNr 107; Held/Wältermann, BArbBl 9/1993, 10; Behn, ZfS
1993, 289, 296, 299).
26 b) Auch der Entstehungsgeschichte (hierzu vor allem Behn, ZfS 1993, 289, 291 ff) lässt sich
nicht entnehmen, dass "nicht privilegierten" ("sonstigen") Ausländern nach § 1 Abs 5 Satz 1
Nr 2 und Satz 2 OEG ein (Zahlungs-)Anspruch auf einkommensunabhängige Leistungen in
entsprechender Anwendung des BVG nur zustehen sollte, wenn ihr Aufenthalt bereits im
Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses rechtmäßig im Sinne des OEG war.
27 § 1 Abs 4 bis 7 OEG ist, nachdem Gewalttaten gegen Ausländer in der Bundesrepublik
Deutschland zugenommen hatten (vgl BT-Drucks 12/4889, S 6; Kunz/Zellner, aaO, § 1 RdNr
95; Held/Wältermann, BArbBl 9/1993, 9) durch Art 1 Nr 1 des Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (2. OEG-ÄndG)
vom 21.7.1993 (BGBl I 1262) rückwirkend zum 1.7.1990 (Art 7 Satz 2) geändert bzw ergänzt
worden, wodurch in zeitlicher Hinsicht auch Gewalttaten zwischen Inkrafttreten und
Verkündung des 2. OEG-ÄndG erfasst wurden .
28 Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 10.5.1993 (BT-Drucks 12/4889, S 4)
sollten von § 1 Abs 5 OEG "sonstige Ausländer, die sich rechtmäßig nicht nur für einen
vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten im Bundesgebiet aufhalten oder
denen aus humanitären Gründen eine Duldung erteilt worden ist", erfasst werden, wobei
ausschließlich einkommensunabhängige Leistungen nach Satz 1 Nr 2 nur diejenigen
Ausländer erhalten sollten, "die sich ununterbrochen rechtmäßig oder geduldet noch nicht
drei Jahre im Bundesgebiet" aufhielten. Nachdem schon der Bundesrat dafür votiert hatte,
durch die Wortwahl "insbesondere aus humanitären Gründen" auch die übrigen in § 55 Abs
3 Ausländergesetz (damaliger Fassung) genannten Duldungsgründe zu erfassen (BT-
Drucks 12/4889, S 9), wurde auf Empfehlung des BT-Ausschusses für Arbeit und
Sozialordnung die Duldung "aus erheblichem öffentlichen Interesse" mit einbezogen. Diese
Gleichstellungsregel ("Rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne dieses Gesetzes ist auch ein aus
humanitären Gründen oder aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldeter Aufenthalt")
wurde Satz 2 (BT-Drucks 12/5182, S 6). Dadurch sollte deutlich gemacht werden, dass der
geduldete Aufenthalt kein rechtmäßiger Aufenthalt im ausländerrechtlichen Sinne ist (BT-
Drucks 12/5182, S 15).
29 c) Ein Blick auf den systematischen Zusammenhang von § 1 Abs 1 Satz 1 OEG und § 1 Abs
5 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 OEG führt zu keinem anderen Ergebnis. § 1 Abs 1 Satz 1 OEG
enthält die allgemeinen Voraussetzungen, einschließlich eines Antrags als weitere materiell-
rechtliche Voraussetzung (dazu unter 3.), für die Entstehung eines (Stamm-)Rechts auf
Entschädigung. Zu diesen allgemeinen Voraussetzungen gehört auch die Regelung über
den persönlichen Anwendungsbereich des OEG. Anspruchsberechtigt ist danach jede
natürliche Person ("wer"). § 1 Abs 4 bis 7 OEG enthalten besondere Bestimmungen für
Ausländer, welche die allgemeinen Vorschriften ergänzen und ua zusätzliche
Leistungsvoraussetzungen regeln, die Ausländer erfüllen müssen. Zu diesen Bestimmungen
gehört § 1 Abs 5 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 OEG. Für die Entstehung eines (Zahlungs-
)Anspruchs auf Versorgung nach dem OEG iVm dem BVG ist es nur erforderlich, dass
sowohl die allgemeinen als auch die besonderen Voraussetzungen vorliegen (§ 40 Abs 1
SGB I). Sie müssen nicht vom selben Zeitpunkt an erfüllt sein.
30 d) Schließlich gebieten Sinn und Zweck des OEG nicht die vom Beklagten vertretene
einschränkende Auslegung. Die öffentliche Hand soll für gesundheitliche Schäden des
durch eine Gewalttat verletzten Opfers dann einen Ausgleich gewähren, wenn es dem Staat
nicht gelungen ist, die Gewalttat zu verhindern, dh die Einhaltung seiner dem Schutz der
körperlichen Unversehrtheit (auch) des Opfers dienenden Rechtsnormen durchzusetzen (so
BSG, Urteil vom 4.2.1998 - B 9 VG 5/96 R, BSGE 81, 288, 291 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12 S
45) . Nach Art 2 Abs 2 Satz 1 GG ist Träger des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit
jede natürliche Person ("Jeder hat das Recht auf ... körperliche Unversehrtheit."), also auch
jeder Ausländer . Eine einschränkende Auslegung der besonderen
Leistungsvoraussetzungen für Ausländer nach dem OEG dahingehend, dass bereits im
Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses eine entsprechende Verfestigung des Aufenthalts
des Ausländers vorliegen muss, lässt sich mithin auch nicht aus Sinn und Zweck des OEG
herleiten.
31 3. Weitere materiell-rechtliche Voraussetzung für die Entstehung eines Anspruchs (Rechts)
auf Entschädigung nach dem OEG iVm dem BVG ist ein nach § 16 Abs 1 oder Abs 2 SGB I
wirksam gestellter Antrag ( zum Antrag auf Versorgung nach dem BVG als materiell-
rechtliche Entstehungsvoraussetzung schon BSG, Urteil vom 23.3.1956 - 10 RV 385/55,
BSGE 2, 289, 292 f; zum Antrag nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zuletzt BSG, Urteil vom
28.4.2005 - B 9a/9 VG 3/04 R, SozR 4-3800 § 1 Nr 9 RdNr 16). Nach § 16 Abs 1 Satz 1 SGB
I sind Sozialleistungen, also auch die hier streitige Rente wegen MdE (§ 24 Abs 1 Nr 3 SGB
I) , beim zuständigen Leistungsträger, hier also zum damaligen Zeitpunkt bei dem
Versorgungsamt Soest (§ 24 Abs 2 SGB I; § 6 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und Abs 2 OEG iVm der
Verordnung des Landes Nordrhein-Westfalen über die örtliche Zuständigkeit nach dem OEG
vom 18.10.1985, GVBl NRW, 609) , zu beantragen. Als einseitige empfangsbedürftige
öffentlich-rechtliche Willenserklärung ist der Antrag mit Eingang beim Leistungsträger
wirksam gestellt (hierzu BSG, Urteil vom 26.4.2007 - B 4 R 21/06 R, RdNr 23 , zur
Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Dies war hier am 9.4.1998 der Fall.
32 Da die allgemeinen Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem OEG und die
besonderen Leistungsvoraussetzungen für einen Ausländer bereits früher erfüllt waren, ist
gemäß § 40 Abs 1 SGB I der (Zahlungs-)Anspruch des Klägers auf
einkommensunabhängige Leistungen nach dem OEG iVm dem BVG, also auf die begehrte
Beschädigten-Grundrente nach einer MdE um 40 vH (§ 31 Abs 1 Satz 1 BVG) , mit der
Antragstellung am 9.4.1998 entstanden. Von diesem Zeitpunkt an beginnt nach § 60 Abs 1
Satz 1 BVG auch die Leistung.
33 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.