Urteil des BSG vom 16.07.2014

BSG: Krankenversicherung, häusliche Krankenpflege, An- und Ablegen eines Verbandes (hier Gilchristverband)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 16.7.2014, B 3 KR 2/13 R
Krankenversicherung - häusliche Krankenpflege - An- und Ablegen eines Verbandes (hier
Gilchristverband)
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 23.
Mai 2012 und des Sozialgerichts Leipzig vom 22. Januar 2010 geändert, der Bescheid der
Beklagten vom 26. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.
Februar 2008, der Bescheid vom 15. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
9. Oktober 2008 sowie der Bescheid vom 28. September 2007 aufgehoben und die Beklagte
verurteilt, an die Klägerin 664,45 Euro zu zahlen.
Die Beklagte hat der Klägerin 7/8 der außergerichtlichen Kosten in allen Rechtszügen zu
erstatten.
Tatbestand
1 Streitig ist, ob die beklagte Krankenkasse der Klägerin die Kosten für die von ihr in
Anspruch genommene häusliche Krankenpflege zum An- und Ablegen eines
Gilchristverbandes zu erstatten hat.
2 Nach einer stationären Behandlung wegen einer Luxation des rechten Schultergelenkes
erhielt die 1937 geborene, bei der Beklagten versicherte Klägerin am 24.9.2007
rückwirkend für die Zeit vom 1.7.2007 bis 30.9.2007 eine vertragsärztliche Verordnung
über häusliche Krankenpflege für das Anlegen von stützenden/stabilisierenden
Verbänden sowie für die hauswirtschaftliche Versorgung. Die Klägerin ist alleinstehend
und bezieht keine Leistungen der Pflegeversicherung. Zur Ruhigstellung des Schulter-
/Armbereichs trug sie einen sog Gilchristverband. Dabei handelt es sich um ein in
verschiedenen Größen erhältliches, vorgefertigtes Gurtsystem, bei dem der Unterarm
angewinkelt in fertige Schlingen gelegt wird, um den Schulter- und Armbereich zu
immobilisieren.
3 Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 26.9.2007, Widerspruchsbescheid vom
14.2.2008): Zur Behandlungspflege gehörten nur Pflegemaßnahmen, die durch eine
bestimmte Erkrankung verursacht seien, speziell auf den Gesundheitszustand der
Versicherten ausgerichtet seien und zum Erreichen der Behandlungsziele des § 27 Abs 1
S 1 SGB V beitragen sollten. Der Wechsel eines Gilchristverbandes diene jedoch nicht der
Krankenbehandlung, sondern erfolge lediglich, um die Körperpflege zu ermöglichen und
gehöre daher - ebenso wie das An- und Ablegen von Hilfsmitteln wie Prothesen, Orthesen,
Stützkorsetten, Bruchbändern uä - zur Grundpflege. Dies ergebe sich aus der Anlage zur
Richtlinie des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung
von häuslicher Krankenpflege nach § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 und Abs 7 SGB V (HKP-RL).
Hauswirtschaftliche Versorgung sei zur Sicherung des Zieles der ambulanten ärztlichen
Behandlung nicht verordnungsfähig. Die Klägerin könne in der zuständigen
Geschäftsstelle einen Antrag auf Haushaltshilfe stellen.
4 Auf eine erneute ärztliche Verordnung der gleichen Leistungen vom 26.9.2007 für den
anschließenden Zeitraum vom 1.10.2007 bis 4.11.2007 erging eine gleichlautende
Entscheidung (Bescheid vom 28.9.2007). Ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X vom
1.7.2008 blieb erfolglos (Bescheid vom 15.7.2008, Widerspruchsbescheid vom 9.10.2008).
5 Die Klägerin nahm für das An- und Ablegen des Gilchristverbandes einen
Krankenpflegedienst in Anspruch, der diese Leistung am 24.9.2007 einmal abends, in der
Zeit vom 25.9.2007 bis 31.10.2007 jeweils einmal morgens und abends und in der Zeit
vom 2.11.2007 bis 4.11.2007 noch dreimal erbrachte. Sie zahlte dafür insgesamt 760,50
Euro. Ihren Erstattungsanspruch beziffert sie - nach Abzug der gesetzlichen Zuzahlung -
zuletzt noch auf 664,45 Euro.
6 Die gegen beide Widerspruchsbescheide erhobenen Klagen hat das SG nach Verbindung
abgewiesen (Urteil vom 22.1.2010). Die Berufung hat das LSG zurückgewiesen (Urteil
vom 23.5.2012) und ausgeführt, beim An- und Ablegen des Gilchristverbandes handele es
sich nicht um eine Maßnahme der Behandlungspflege, sondern der Grundpflege.
Häusliche Krankenpflege könne dafür nicht verordnet werden. Die Grundpflege umfasse
pflegerische Leistungen nichtmedizinischer Art, zB Körperpflege und andere Maßnahmen
der Hygiene. Da ein Gilchristverband einfach anzulegen sei, handele es sich nicht um
eine den medizinischen Hilfeleistungen vergleichbare Maßnahme. Auch der
Richtliniengeber habe in der Anlage der HKP-RL die Maßnahme der Grundpflege
zugeordnet.
7 Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung
materiellen Rechts (§ 37 SGB V). Sie hält an ihrer Auffassung fest, das An- und Ablegen
eines Gilchristverbandes sei als verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Maßnahme -
vergleichbar mit dem An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen - vom Anspruch auf
häusliche Krankenpflege umfasst. Der Gilchristverband, einschließlich der Kontrolle über
seinen richtigen Sitz, diene in erster Linie der Stabilisierung des Schulter- und
Armbereiches und damit der Heilung einer Krankheit, auch wenn das Ablegen des
Verbandes die Körperpflege erleichtere. Der gesetzliche Leistungsanspruch eines
Versicherten könne durch die Richtlinien nicht eingeengt werden.
8 Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sächsischen Landessozialgericht vom 23.5.2012 und des Sozialgerichts
Leipzig vom 22.1.2010 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 26.9.2007 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.2.2008, den Bescheid vom 15.7.2008 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.10.2008 sowie den Bescheid vom 28.9.2007
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie 664,45 Euro zu zahlen.
9 Die Beklagte verteidigt die instanzgerichtlichen Urteile und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
10 Auf Nachfrage des Senats hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) mitgeteilt, der
Umfang verordnungsfähiger Leistungen der Behandlungssicherungspflege werde nicht
durch die zur Grundpflege gehörenden und dort aufgeführten Leistungen geschmälert.
Dies gelte auch für Überschneidungsbereiche. Das An- und Ablegen von stützenden und
stabilisierenden Verbänden diene der Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung und
sei nach Nr 31 der HKP-RL der Behandlungspflege zugeordnet, auch wenn diese
Leistung gleichzeitig der Grundpflege diene.
Entscheidungsgründe
11 Die zulässige Revision ist in dem zuletzt - nach Abzug der nach § 37 Abs 5 und § 61 S 3
SGB V zu leistenden Zuzahlung - noch geltend gemachten Umfang begründet; der
Klägerin steht der Kostenerstattungsanspruch in dieser Höhe zu.
12 Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Kostenerstattung ist für die in der Zeit vom 24.9.2007
bis 26.9.2007 in Anspruch genommene häusliche Krankenpflege zum An- und Ablegen
des Gilchristverbandes (5 x 9,75 Euro = 48,75 Euro) § 37 Abs 4 SGB V (der durch das
Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom 20.12.1988, BGBl I 2477,
geschaffen worden und seit dem Inkrafttreten am 1.1.1989 unverändert geblieben ist) iVm
§ 6 Abs 6 HKP-RL (dazu 1.) und für die in der Zeit vom 27.9.2007 bis 4.11.2007
angefallenen Kosten (73 x 9,75 Euro = 711,75 Euro) § 13 Abs 3 S 1 SGB V (ebenfalls in
der unverändert gebliebenen Fassung des GRG, aaO ). Von diesen Beträgen ist
die von der Klägerin nach § 37 Abs 5 SGB V iVm § 61 S 3 SGB V zu leistende Zuzahlung
abzuziehen (dazu 3.).
13 1. Nach § 37 Abs 4 SGB V sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft
in angemessener Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse keine Kraft stellen kann oder
Grund besteht, davon abzusehen. Nach § 6 Abs 6 HKP-RL übernimmt die Krankenkasse
bis zur Entscheidung über die Genehmigung die Kosten für die vertragsärztlich
verordneten und vom Pflegedienst erbrachten Leistungen entsprechend der vereinbarten
Vergütung nach § 132a Abs 2 SGB V, wenn die Verordnung spätestens an dem dritten der
Ausstellung folgenden Arbeitstag der Krankenkasse vorgelegt wird.
14 Der Anspruch auf Kostenerstattung setzt grundsätzlich voraus, dass in demselben Umfang
ein Sachleistungsanspruch auf häusliche Krankenpflege bestand (dazu a). Die
Krankenkasse konnte für die häusliche Krankenpflege der Klägerin in der Zeit vom
24.9.2007 bis 26.9.2007 keine Kraft stellen (dazu b) und die Kosten für die von der
Klägerin selbstbeschaffte Kraft sind angemessen (dazu c).
15 a) Nach § 37 Abs 2 S 1 SGB V (idF des am 1.4.2007 in Kraft getretenen GKV-
Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26.3.2007, BGBl I 378) erhalten
Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort,
insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem
Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen als häusliche Krankenpflege
Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung
erforderlich ist. Der Anspruch umfasst verrichtungsbezogene krankheitsspezifische
Pflegemaßnahmen auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung
der Pflegebedürftigkeit nach §§ 14 und 15 des SGB XI zu berücksichtigen ist.
16 Die Klägerin führt einen eigenen Haushalt, in dem die häusliche Krankenpflege erbracht
werden kann. Sie ist alleinstehend, sodass die Pflege nicht von einer in ihrem Haushalt
lebenden Person geleistet werden kann (§ 37 Abs 3 SGB V).
17 Das Tragen des Gilchristverbandes ist zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung
erforderlich. Das im Rahmen der Körperpflege und beim An- und Auskleiden erforderliche
An- und Ablegen des Gilchristverbandes ist eine verrichtungsbezogene
krankheitsspezifische Pflegemaßnahme, zu deren Leistung in erster Linie die gesetzliche
Krankenversicherung (GKV) verpflichtet ist (dazu aa bis cc). Die Leistung war in dem
ärztlich verordneten und von der Klägerin in Anspruch genommenen Umfang erforderlich
(dazu dd).
18 aa) Der Begriff der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen ist
von der Rechtsprechung entwickelt und vom Gesetzgeber aufgegriffen worden. Danach
sind krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen solche, die durch eine bestimmte Krankheit
verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind
und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder
Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen
typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Heilberufe
oder auch von Laien erbracht werden (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 2, 9, 11 und 18).
Verrichtungsbezogen sind solche krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen, wenn sie
untrennbarer Bestandteil einer der in § 14 Abs 4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen sind
oder mit einer solchen Verrichtung objektiv notwendig in untrennbarem zeitlichen und
sachlichen Zusammenhang durchzuführen sind (BSGE 106, 173 = SozR 4-2500 § 37 Nr
11).
19 Das BSG hat den Begriff der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen
Pflegemaßnahme in einem Fall geprägt, in dem es um das An- und Ausziehen von
Kompressionsstrümpfen ging (BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 3). Es hat die hierbei
erforderliche Hilfe zunächst in die ausschließliche Zuständigkeit der Pflegeversicherung
verwiesen. Daraufhin fügte der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Modernisierung der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGBl I
2190) dem § 37 Abs 2 S 1 SGB V den Halbsatz hinzu: "Der Anspruch umfasst das
Anziehen und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse 2 auch in
den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach
den §§ 14 und 15 SGB XI zu berücksichtigen ist." Damit hat der Gesetzgeber diese
verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme in Abkehr von der
damaligen Rechtsprechung ausdrücklich der Leistungspflicht der GKV im Rahmen der
Behandlungssicherungspflege unterworfen. Um aufgrund dieser doppelten Zuständigkeit
für dieselben Leistungen Doppelleistungen zu vermeiden, hat die Rechtsprechung
anschließend den Versicherten ein Wahlrecht zugestanden, ob sie die Maßnahme als
Leistung der GKV im Rahmen der Behandlungssicherungspflege (§ 37 Abs 2 SGB V)
beanspruchen oder eine Berücksichtigung im Rahmen von Leistungen der
Pflegeversicherung vorziehen. Die Rechtsprechung hat dieses Wahlrecht den
Versicherten nicht nur im Hinblick auf das An- und Ausziehen von
Kompressionsstrümpfen, sondern bei allen verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen
Pflegemaßnahmen zuerkannt (BSGE 94, 192, RdNr 31 ff = SozR 4-2500 § 37 Nr 3). Das
Wahlrecht der Versicherten hat der Gesetzgeber zum 1.4.2007 durch das GKV-WSG
(GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I S 378) wieder beseitigt, die zu den
Kompressionsstrümpfen getroffene Regelung gleichzeitig aber entsprechend der
Rechtsprechung auf sämtliche verrichtungsbezogenen Maßnahmen der
Behandlungspflege ausgeweitet (vgl dazu BT-Drucks 16/3100, insbesondere zu Nr 22 b,
S 104 ff). Zugleich hat er eine damit korrespondierende Regelung in § 15 Abs 3 S 2 SGB
XI geschaffen: "Bei der Feststellung des Zeitaufwandes ist ein Zeitaufwand für
erforderliche verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen zu
berücksichtigen; dies gilt auch dann, wenn der Hilfebedarf zu Leistungen nach dem SGB
V führt." Die Definition der "verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen
Pflegemaßnahmen" entspricht der oben beschriebenen langjährigen Rechtsprechung des
erkennenden Senats; sie findet sich seit dem 1.4.2007 - insoweit nur als Klarstellung
gedacht - in § 15 Abs 3 S 3 SGB XI. Dem GBA wurde die Aufgabe übertragen, in
Richtlinien nach § 92 SGB V das Nähere über Art und Inhalt der verrichtungsbezogenen
krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen nach § 37 Abs 2 S 1 SGB V zu bestimmen (§
37 Abs 6 S 2 SGB V).
20 Damit hat der Gesetzgeber für alle verrichtungsbezogenen Maßnahmen der
Behandlungssicherungspflege eine Doppelzuständigkeit von Krankenkassen und
Pflegekassen geschaffen. Diese Rechtsentwicklung lässt erkennen, dass der Gesetzgeber
den Anspruch aus § 37 Abs 2 S 1 SGB V sogar bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von
Leistungen nach dem SGB XI möglichst ungeschmälert erhalten wissen will. Dies
entspricht zum einen dem in § 31 SGB XI niedergelegten Grundsatz, dass die
medizinische Rehabilitation gegenüber der Pflege Vorrang hat, und zum anderen dem
Zweck der Regelungen der sozialen Pflegeversicherung, die Leistungen der GKV zu
ergänzen, sie aber prinzipiell nicht - ganz oder teilweise - zu verdrängen. Dies hat der
erkennende Senat für den Bereich der Hilfsmittel (§ 33 SGB V) und Pflegehilfsmittel (§ 40
SGB XI) bereits grundlegend ausgeführt (BSGE 99, 197 = SozR 4-2500 § 33 Nr 16). Die
Parallelität und Gleichrangigkeit der Ansprüche gegen die Krankenkasse und die
Pflegekasse kommt auch in der Vorschrift des § 13 Abs 2 SGB XI zum Ausdruck, wonach
die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V unberührt bleiben.
21 Klarstellend hat die Rechtsprechung im Folgenden zur Abgrenzung von
krankheitsspezifischen verrichtungsbezogenen Pflegemaßnahmen den Begriff der "reinen
Grundpflege" geprägt. Die "reine Grundpflege", bei der keine verrichtungsbezogenen
krankheitsspezifischen Leistungen erbracht werden, obliegt der Pflegekasse (BSGE 106,
173 = SozR 4-2500 § 37 Nr 11, RdNr 28 ff).
22 bb) Das An- und Ablegen des Gilchristverbandes ist eine krankheitsspezifische
verrichtungsbezogene Pflegemaßnahme, die im Rahmen der
Behandlungssicherungspflege von den Krankenkassen zu leisten ist. Die Klägerin erhielt
den Gilchristverband nach ihrer stationären Behandlung wegen einer Luxation ihres
rechten Schultergelenkes. Das Tragen des Verbandes beruht mithin ursächlich auf dieser
Krankheit, soll dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten
und Krankheitsbeschwerden zu lindern und ist zur Sicherung des Ziels der ärztlichen
Behandlung erforderlich. Das An- und Ablegen des Gilchristverbandes ist untrennbarer
Bestandteil sowohl der Körperpflege beim Waschen/Baden/Duschen als auch im Bereich
der Mobilität beim An- und Auskleiden. Bei längerem Tragen ist das regelmäßige Ablegen
des Verbandes zur angemessenen Körperpflege erforderlich. Da der Gilchristverband
regelmäßig zumindest teilweise über der Kleidung getragen wird, ist er auch für das An-
und Auskleiden jeweils zu entfernen und danach wieder anzulegen.
23 Unerheblich ist, ob der Verband auch aus medizinischen Gründen regelmäßig an- und
abzulegen ist und daher schon der Vorgang des An- und Ablegens selbst der
Krankenbehandlung dient. Denn der Gilchristverband kann nicht getragen werden, wenn
er nicht zur Durchführung der genannten Verrichtungen iS des § 14 Abs 4 SGB XI an- und
abgelegt wird. Das An- und Auskleiden sowie eine elementare Körperpflege sind
unabdingbare Grundbedürfnisse. Der Gilchristverband kann daher nur getragen werden,
wenn er zur Körperpflege und zum An- und Auskleiden an- und abgelegt werden kann und
nach diesen Verrichtungen ggf eingetretene Verschiebungen korrigiert werden. Deshalb
ist das An- und Ablegen untrennbar mit dem Tragen des Gilchristverbandes, das der
Behandlungssicherung dient, verbunden und keiner gesonderten Bewertung zugänglich.
24 cc) Dem stehen die Regelungen der HKP-RL einschließlich der das Leistungsverzeichnis
beinhaltenden Anlage nicht entgegen. Nach § 37 Abs 6 S 2 SGB V bestimmt der GBA in
Richtlinien nach § 92 SGB V das Nähere über Art und Inhalt der verrichtungsbezogenen
krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen nach § 37 Abs 2 S 1 SGB V.
Dementsprechend regelt § 2 Abs 4 der HKP-RL, dass verrichtungsbezogene
krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen als Behandlungspflege im Rahmen der
Sicherungspflege auch dann verordnet werden können, wenn dieser Hilfebedarf bei der
Feststellung der Pflegebedürftigkeit in der Pflegeversicherung bereits berücksichtigt
worden ist. Zudem zählt § 2 Abs 6 HKP-RL beispielhaft einige verrichtungsbezogene
krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen auf, wie etwa das Einreiben mit Dermatika bei
der Verrichtung des Waschens/Duschens/Badens. Die HKP-RL enthält als Anlage ein
Leistungsverzeichnis mit den verordnungsfähigen Leistungen. Danach sind alle
Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung des Verzeichnisses
ausschließlich im Rahmen der Krankenhausvermeidungspflege nach § 37 Abs 1 SGB V
oder als Satzungsleistung zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung nach § 37
Abs 2 SGB V verordnungsfähig. Die enthaltenen Aussagen zur Dauer der Verordnung und
zur Häufigkeit der Verrichtungen sind Empfehlungen für den Regelfall, von denen in
begründeten Fällen abgewichen werden kann. Bei den Leistungen der Grundpflege und
der hauswirtschaftlichen Versorgung ist unter der Nr 4 des Leistungsverzeichnisses die
Körperpflege aufgeführt, die danach ua das An- und/oder Auskleiden einschließlich
konfektionierter/teilkonfektionierter/maßgefertigter Bandagen beinhaltet, ohne Angaben zu
Dauer und Häufigkeit der Maßnahme. Zu den Leistungen der Behandlungspflege gehört
nach Nr 31 des Leistungsverzeichnisses ua das Anlegen von stützenden und
stabilisierenden Verbänden zur unterstützenden Funktionssicherung der Gelenke zB bei
Distorsion, Kontusion, Erguss. Zu Dauer und Häufigkeit der Maßnahme ist angegeben: bis
zu 2 Wochen jeweils 1 x täglich.
25 Diese Regelungen sind nicht - wie die Beklagte und die Vorinstanzen meinen - so zu
verstehen, dass die bei der Grundpflege aufgeführten Maßnahmen als Maßnahmen der
Behandlungspflege von vornherein nicht in Betracht kommen. Denn eine solche
Auslegung der HKP-RL würde gegen die ausdrückliche gesetzliche Bestimmung des § 37
Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB V verstoßen, mit welcher der Gesetzgeber klargestellt hat, dass
verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen vom Anspruch auf
Behandlungssicherungspflege umfasst sind. Darauf nimmt auch § 2 Abs 4 HKP-RL
ausdrücklich Bezug. Bei den grundpflegerischen Maßnahmen kann es daher
Überschneidungsbereiche geben, wenn diese zugleich krankheitsspezifisch sind und der
Behandlungssicherung dienen. Für die Verordnungsfähigkeit von Maßnahmen der
Behandlungssicherungspflege sind die die Grundpflege betreffenden Ausführungen im
Leistungsverzeichnis der HKP-RL unerheblich.
26 Das An- und Ablegen eines Gilchristverbandes lässt sich den unter Nr 31 des
Leistungsverzeichnisses zur HKP-RL genannten Leistungen der Behandlungspflege
zuordnen, denn der Gilchristverband ist ein stützender und stabilisierender Verband zur
unterstützenden Funktionssicherung der Gelenke zB bei Distorsion, Kontusion, Erguss.
Unerheblich ist, dass im Leistungsverzeichnis nur das Anlegen des Verbandes
ausdrücklich genannt wird. Wie oben dargelegt, ist das Tragen des Verbandes notwendig
damit verbunden, dass er zum An- und Auskleiden und zur Körperpflege an- und abgelegt
wird. Wird der Verband nicht abgenommen, erübrigt sich auch das Anlegen, und gerade
das Ablegen des Verbandes ermöglicht die genannten Verrichtungen der Körperpflege
und des An- und Auskleidens. Daher ist das Ablegen des Verbandes nicht anders zu
bewerten als das Anlegen.
27 Zudem stellen die HKP-RL keinen abschließenden Leistungskatalog über die zu
erbringenden Leistungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege dar. Die in § 37 Abs 6
S 2 SGB V normierte Ermächtigung des GBA, das Nähere über Art und Inhalt der
verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen zu bestimmen,
beschränkt sich - wie es dem Wesen von Richtlinien entspricht - im Rahmen der
gesetzlichen Vorgaben auf die Konkretisierung und Interpretation des
Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 2 Abs 4, § 12 Abs 1, § 70 Abs 1 SGB V) für die Regelfälle im
Hinblick auf Art und Inhalt verrichtungsbezogener krankheitsspezifischer
Pflegemaßnahmen der häuslichen Krankenpflege. Für eine Ausgrenzung notwendiger
Leistungen aus dem Versorgungsauftrag der Krankenkassen, ihre Zuweisung zum
Aufgabenbereich der Pflegekassen oder in die Eigenverantwortung der Versicherten (dh
Selbstbeteiligung; dazu Peters in: Kasseler Kommentar, § 2 SGB V RdNr 3) hat der GBA
keine Ermächtigung. Demzufolge bleiben Maßnahmen der Behandlungspflege, die im
Einzelfall erforderlich und wirtschaftlich sind, auch außerhalb der HKP-RL in der
Leistungsverpflichtung der Krankenkassen (vgl BSG SozR 4-2500 § 37 Nr 7 RdNr 21,
zustimmend Flint in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 37 RdNr 156 ff; vgl auch Nolte in: Kasseler
Kommentar, § 37 SGB V RdNr 20a).
28 dd) Die Leistung war in dem ärztlich verordneten Umfang zweimal täglich über den
verordneten Zeitraum hinweg notwendig. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel
geäußert. Aufgrund des Alters der Klägerin und ihrer Erkrankung ergeben sich auch keine
Anhaltspunkte für ernsthafte Zweifel an der Notwendigkeit der ärztlichen Verordnung, die
weitere Ermittlungen erforderlich machen würden. Die Empfehlung zur Dauer und
Häufigkeit der Maßnahme nach der HKP-RL betrifft nur einen nicht näher bezeichneten
Regelfall. Bezüglich der Dauer der Maßnahme kann schon aufgrund des Alters der
Klägerin und der damit verbundenen Heilungsverzögerung nicht vom Regelfall
ausgegangen werden. Die Notwendigkeit, den Gilchristverband zweimal täglich an- und
abzulegen, ergibt sich unmittelbar daraus, dass es beim Tragen des Verbandes
unumgänglich ist, diesen zur elementaren Körperpflege und zum An- und Auskleiden
jeweils an- und abzulegen und diese Verrichtungen regelmäßig morgens und abends
anfallen.
29 b) Die Krankenkasse konnte der Klägerin für die Zeit vom 24.9.2007 bis 26.9.2007 keine
Kraft stellen. In Konkretisierung dieser Vorschrift regelt § 6 Abs 6 HKP-RL die
Kostenübernahme durch die Krankenkasse für die vertragsärztlich verordneten und vom
Pflegedienst erbrachten Leistungen entsprechend der vereinbarten Vergütung nach §
132a Abs 2 SGB V bis zur Entscheidung über die Genehmigung, wenn die Verordnung
spätestens an dem dritten der Ausstellung folgenden Arbeitstag der Krankenkasse
vorgelegt wird.
30 Diese Regelung ist ermächtigungskonform. Nach § 92 Abs 1 S 1 SGB V beschließt der
GBA die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die
Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der
Versicherten. Er soll insbesondere Richtlinien beschließen über ua die Verordnung von
Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung, häuslicher
Krankenpflege und Soziotherapie (§ 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB V). Nach § 92 Abs 7 S 1 SGB
V (idF des GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I S 378) ist in den Richtlinien "insbesondere"
zu regeln (1.) die Verordnung der häuslichen Krankenpflege und deren ärztliche
Zielsetzung, (2.) Inhalt und Umfang der Zusammenarbeit des verordnenden Vertragsarztes
mit dem jeweiligen Leistungserbringer und dem Krankenhaus sowie (3.) die
Voraussetzungen für die Verordnung häuslicher Krankenpflege und für die Mitgabe von
Arzneimitteln im Krankenhaus im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt. Danach
erstreckt sich der Auftrag an den GBA darauf, in Richtlinien das Wirtschaftlichkeitsgebot für
die Regelfälle der häuslichen Krankenpflege zu interpretieren und zu konkretisieren (vgl
BSG SozR 4-2500 § 37 Nr 7 RdNr 21). § 6 Abs 6 HKP-RL überschreitet diesen
gesetzlichen Auftrag nicht. Zwar wird häusliche Krankenpflege grundsätzlich nur auf
Antrag gewährt (§ 19 SGB IV, vgl auch BSG SozR 2200 § 185 Nr 4). Sozialrechtlich sind
aber Leistungen für kurze Zeiträume vor der Antragstellung durchaus bekannt, auch wenn
der Anspruch antragsabhängig ist (vgl zB Pflegeleistungen ab Beginn des Monats der
Antragstellung, § 33 Abs 1 S 3 SGB XI). Für den Anspruch auf häusliche Krankenpflege ist
die medizinische Notwendigkeit der Leistung entscheidend. Häusliche Krankenpflege wird
im Regelfall im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der ärztlichen Verordnung
erforderlich, sodass es in der Praxis kaum möglich wäre, zuvor die Genehmigung der
Krankenkasse einzuholen und auf eine von dieser gestellten Pflegekraft zu warten. Diesen
praktischen Erfordernissen und damit auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot dienen die
Regelungen des § 37 Abs 4 SGB V iVm § 6 Abs 6 HKP-RL. Solange die Krankenkasse
noch keine Pflegekraft stellen konnte und keine Entscheidung über die Genehmigung
getroffen hat, übernimmt sie die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener
Höhe. Eine nach § 132a Abs 2 SGB V vereinbarte Vergütung ist regelmäßig angemessen.
31 Die Klägerin hat die ärztliche Verordnung vom 24.9.2007 am nächsten Tag bei der
Beklagten vorgelegt. Diese konnte in der Zeit bis zur Entscheidung über die Genehmigung
(Bescheid vom 26.9.2007) keine Kraft für die häusliche Krankenpflege stellen.
32 c) Die Kosten für die von der Klägerin selbstbeschaffte Kraft sind mit 9,75 Euro je Einsatz
in diesem Sinne angemessen. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
33 2. Für die Zeit vom 27.9.2007 bis zum 4.11.2007 hat die Klägerin einen Anspruch auf
Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 S 1 SGB V. Danach sind Kosten für selbstbeschaffte
Leistungen, soweit die Leistung notwendig war, in der entstandenen Höhe zu erstatten,
wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte
oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten Kosten
entstanden sind.
34 Es kann dahingestellt bleiben, ob die häusliche Krankenpflege in der Zeit, für die eine
Kostenerstattung geltend gemacht wird, eine unaufschiebbare Leistung war. Daran
bestehen Zweifel, weil die häusliche Krankenpflege der Klägerin erstmals am 24.9.2007,
dann aber rückwirkend für die Zeit ab 1.7.2007 verordnet wurde. Dies kann aber
offenbleiben, weil der Anspruch für die Zeit vom 24.9.2007 bis 26.9.2007 bereits nach § 37
Abs 4 SGB V iVm § 6 Abs 6 HKP-RL gegeben ist und die Beklagte die Leistung für die
Zeit ab 27.9.2007 zu Unrecht abgelehnt hat, denn der Klägerin war entsprechend der
ärztlichen Verordnung häusliche Krankenpflege zum An- und Ablegen des
Gilchristverbandes zu gewähren. Durch die zu Unrecht erfolgte Ablehnung sind der
Klägerin ab 27.9.2007 Kosten für die selbstbeschaffte Leistung in Höhe von 711,75 Euro
(73 x 9,75 Euro) abzüglich der Zuzahlung entstanden.
35 3. Nach § 37 Abs 5 SGB V iVm § 61 S 3 SGB V hat die Klägerin eine Zuzahlung in Höhe
von 96,05 Euro zu leisten, nämlich für jede der beiden Verordnungen 10 Euro und 10 vom
Hundert der Kosten für die häusliche Krankenpflege. Diese betrugen insgesamt 760,50
Euro; 10 vom Hundert davon sind 76,05 Euro. Die Belastungsgrenze war noch nicht
erreicht (§ 62 SGB V). Die Klägerin hatte im Jahr 2007 für andere medizinische
Maßnahmen Zuzahlungen in Höhe von 145,49 Euro erbracht. Bei jährlichen
Bruttoeinnahmen in Höhe von 14 921,46 Euro lag die zweiprozentige Belastungsgrenze (§
62 Abs 1 S 2 SGB V) für die Klägerin bei 298,43 Euro, sodass die Zuzahlung in Höhe von
96,05 Euro ungekürzt zu leisten war. Daraus ergibt sich der jetzt noch geltend gemachte
Zahlungsbetrag in Höhe von 664,45 Euro.
36 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG unter Berücksichtigung der
Klagerücknahme in der Revisionsinstanz in Höhe der von der Klägerin zu leistenden
Zuzahlung.