Urteil des BSG vom 11.12.2003

BSG: gleichstellung, gleichbehandlungsgebot, ewr, gemeinschaftsrecht, freizügigkeit, kritik, kreis, bevölkerung, gesetzesmaterialien, ausschluss

Bundessozialgericht
Urteil vom 11.12.2003
Sozialgericht Münster S 1 EG 7/99
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 13 EG 33/00
Bundessozialgericht B 10 EG 4/02 R
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Oktober 2002
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch der Klägerin auf Erziehungsgeld (Erzg) für die ersten sechs Lebensmonate
ihres am 28. August 1996 geborenen Sohnes Lucca-Daniel.
Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige, sie wohnt mit ihrer Familie in Belgien und ist in Deutschland als
Krankengymnastin in eigener Praxis selbstständig tätig. Weder sie noch ihr Ehemann waren seinerzeit in der
gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig oder in einer Versicherung der selbstständig Erwerbstätigen
für den Fall des Alters beitragspflichtig.
Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Erzg für Lucca-Daniel mit folgender Begründung ab (Bescheid vom 3.
Juli 1997; Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1998): Die Klägerin wohne im Ausland und sei in Deutschland auch nicht
beschäftigt (§ 1 Abs 1 Nr 1 und Abs 4 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG)). Aus europäischem
Gemeinschaftsrecht ergebe sich ebenfalls kein Anspruch, zumal auch der Ehemann der Klägerin keine
versicherungspflichtige Tätigkeit ausübe.
Das Sozialgericht Münster (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Juli 2000); das Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 25. Oktober 2002). Es hat ausgeführt: Nach
dem BErzGG stehe der Klägerin Erzg nicht zu, weil sie weder in Deutschland wohne noch hier beschäftigt sei. Dieses
Ergebnis sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Aus der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 über die Anwendung der
Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb
der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWGV 1408/71) lasse sich nichts herleiten, weil weder die Klägerin noch ihr
Ehemann Selbstständige im Sinne der dortigen Vorschriften über Familienleistungen seien. Ein Anspruch auf Erzg
ergebe sich schließlich auch nicht aus den im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EGVtr)
verbürgten Freiheiten zur Niederlassung und Freizügigkeit.
Die Klägerin macht mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision im Wesentlichen geltend: § 1 Abs 1 und 4 BErzGG
verstießen gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot in Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG). Der Gesetzgeber habe
verfassungswidrig den Anknüpfungspunkt zwischen Steuererhebung und Leistungsberechtigung gewechselt; es gebe
auch keinen sachlich gerechtfertigten Grund für die unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern und
Selbstständigen mit Auslandswohnsitz. Nach europäischem Gemeinschaftsrecht habe sie Anspruch auf Erzg unter
den Gesichtspunkten Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit für Unionsbürger (Art 39, 43,
18 EGVtr).
Die Klägerin beantragt (sinngemäß), die Urteile des SG Münster vom 25. Juli 2000 und des LSG Nordrhein-Westfalen
vom 25. Oktober 2002 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Juli 1997 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 1998 zu verurteilen, ihr Erzg für die ersten sechs Lebensmonate
ihres am 28. August 1996 geborenen Sohnes Lucca-Daniel zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin hat in dem Sinne Erfolg, dass das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das LSG
zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Nach dem BErzGG in der hier anzuwendenden - neu bekannt gemachten - Fassung vom 31. Januar 1994 (BGBl I S
180) hat Anspruch auf Erzg, wer - neben anderen Voraussetzungen - einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen
Aufenthalt in Deutschland hat (§ 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG aF). Obwohl die Klägerin nicht im Inland wohnte und - soweit
ersichtlich - sich hier auch nicht gewöhnlich aufhielt (vgl zu den - strengen - Anforderungen BSG SozR 3-7833 § 8 Nr
4 und zur Kritik Irmen in Hambüchen, Kindergeld, Erziehungsgeld, Elternzeit, Stand Juni 2001, § 1 BErzGG RdNr 33),
muss ihr Anspruch auf Erzg daran nicht scheitern. Denn das Gesetz bezieht ausdrücklich auch außerhalb
Deutschlands wohnende Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften - wie die Klägerin - in
den Kreis der Erzg-Berechtigten ein, sofern sie ein Arbeitsverhältnis in Deutschland haben, bei dem die wöchentliche
Arbeitszeit die Grenze für geringfügige Beschäftigungen gemäß § 8 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV)
übersteigt (§ 1 Abs 4 Nr 1 BErzGG aF). Zu Unrecht haben der Beklagte und die Instanzgerichte dem im Gesetz
genannten Arbeitsverhältnis eine selbstständige Tätigkeit nicht gleichgestellt.
Zwar spricht der Wortlaut der Vorschrift gegen eine solche Gleichstellung, weil dort nur ein Arbeitsverhältnis erwähnt
ist, das - trotz aller Abgrenzungsschwierigkeiten im konkreten Einzelfall - begrifflich von einer selbstständigen
Tätigkeit zu unterscheiden ist (vgl § 7 f SGB IV; dazu zB BSGE 87, 53 = SozR 3-2400 § 7 Nr 15; allg auch BFHE
169, 524; BAGE 86, 170; BGH, NJW 1999, 648). Zu diesem Ergebnis kommt denn auch ohne weitere Erörterung die -
einhellige - Kommentarliteratur (vgl nur Irmen aaO, Stand Oktober 2003, § 1 BErzGG RdNr 84; Buchner/Becker,
Mutterschutzgesetz, Erziehungsgeldgesetz, 6. Aufl 1998, § 1 BErzGG RdNr 23). Dabei bleibt zunächst unbeachtet,
dass § 1 Abs 4 Nr 1 BErzGG aF auf § 8 SGB IV verweist, der seinerseits in Abs 3 Satz 1 anordnet, dass die
"geringfügige Beschäftigung" betreffenden Abs 1 und 2 dieser Vorschrift entsprechend gelten, soweit eine
"selbstständige Tätigkeit" ausgeübt wird. Ebenso wenig wird darüber Auskunft gegeben, welcher sachliche
Gesichtspunkt es vor dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot (Art 3 Abs 1 GG) rechtfertigen könnte, die
Leistungen eines steuerfinanzierten, die gesamte Bevölkerung erfassenden Sozialleistungssystems nur im Inland
beschäftigten Arbeitnehmern mit Auslandswohnsitz zu gewähren, Selbstständige in gleicher Lage aber
auszuschließen, dh, der Klägerin Erzg zu versagen, es aber einer in ihrer Praxis beschäftigten Krankengymnastin mit
belgischem Wohnsitz zu gewähren. Solche verfassungsrechtlichen Erwägungen legen eine weite Interpretation des §
1 Abs 4 Nr 1 BErzGG aF nahe, die eine in Deutschland ausgeübte selbstständige Tätigkeit nicht geringfügigen
Umfangs ebenso genügen lässt, wie ein entsprechendes im Inland bestehendes abhängiges
Beschäftigungsverhältnis.
Zu dieser Auslegung sieht sich der erkennende Senat insbesondere auch im Hinblick auf die Regelung des § 1 Abs 7
Satz 2 BErzGG idF des Dritten Gesetzes zur Änderung des BErzGG vom 12. Oktober 2000 (BGBl I 1426) veranlasst,
der bestimmt, dass bei EU-/EWR-Bürgern mit Wohnsitz im EU/EWR-Ausland dem mehr als geringfügigen
Arbeitsverhältnis in Deutschland "eine mehr als geringfügige selbstständige Tätigkeit (§ 8 des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch) gleichgestellt" ist. Diese Fassung ist zwar erst am 1. Januar 2001 in Kraft getreten (Art 5 Abs 1
Gesetz vom 12. Oktober 2000), auch sollen für die vor dem 1. Januar 2001 geborenen Kinder die Vorschriften des
BErzGG in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung weiter angewendet werden (§ 24 Abs 1 Satz 1
BErzGG nF). Das hindert jedoch eine Auslegung des zuvor geltenden Rechts iS einer Gleichstellung von
selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung nicht. Es ist nämlich davon auszugehen, dass der
Ausschluss einer Anwendung des neuen Rechts auf in der Vergangenheit liegende Fälle in erster Linie für die mit dem
Gesetz vom 12. Oktober 2000 gebrachten substantiellen Änderungen (zB die Einbeziehung von Beamten mit
Wohnsitz im EG-Ausland), nicht jedoch für bloße redaktionelle Klarstellungen gelten soll. Um eine solche Klarstellung
handelt es sich hier. Denn nach den Gesetzesmaterialien soll § 1 Abs 7 Satz 2 BErzGG nF klarstellen, "dass die
nicht geringfügige selbstständige Tätigkeit insoweit ebenfalls anspruchsbegründend ist" (BT-Drucks 14/3118, S 14).
Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat verwehrt, weil das Berufungsgericht wegen seiner anderen
Rechtsauffassung weder den Umfang der von der Klägerin im streitigen Zeitraum ausgeübten selbstständigen
Tätigkeit ermittelt, noch tatsächliche Feststellungen zu den Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen getroffen hat. Die
danach erforderliche Sachverhaltsaufklärung kann im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden (vgl § 163 SGG).
Insofern ist eine Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz geboten (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden
haben.