Urteil des BSG vom 13.09.2005

BSG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, arglistige täuschung, unternehmen, zusammenlegung, beschwerdefrist, verwaltungsakt, bekanntmachung, wiederholungsgefahr, mangel, prozessvoraussetzung

Bundessozialgericht
Urteil vom 13.09.2005
Sozialgericht Mannheim S 7 U 1438/99
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 7 U 1398/03
Bundessozialgericht B 2 U 21/04 R
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Juni 2004 wird
zurückgewiesen.
Die Klägerin hat den Beigeladenen deren außergerichtliche Kosten im Revisionsverfahren zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Gültigkeit der Wahl zur Vertreterversammlung der beklagten Berufsgenossenschaft
(BG) in der Gruppe der Versicherten anlässlich der Sozialversicherungswahlen im Jahre 1999.
Die Klägerin, die Gewerkschaft N. , war seit dem Jahre 1987 ununterbrochen mit mindestens einem Vertreter in der
Vertreterversammlung der beklagten BG repräsentiert. Zu den für den 26. Mai 1999 anberaumten
Sozialversicherungswahlen reichte sie eine Vorschlagsliste ein; Listenvertreter war Herr B. (B). Eine weitere
Vorschlagsliste wurde von dem Beigeladenen zu 1., dem D. Verband, gemeinsam mit dem Beigeladenen zu 2., dem
C. Gewerkschaftsbund Deutschlands, eingereicht. Die 1846 Unterschriften auf den Unterstützerlisten für diese Liste
stammten bis auf 26 Unterschriften alle von Beschäftigten des Unternehmens M. (M). Nach mehreren Sitzungen des
Wahlausschusses bei der Beklagten, in denen die Zulässigkeit der Listen, die Kosten einer Wahl und die
Zusammenlegung der Listen erörtert wurden, vereinbarten die Klägerin und die Beigeladenen am 22. Dezember 1998
die Zusammenlegung ihrer Listen unter dem Kennwort "Gewerkschaftsliste gemäß Vereinbarung vom 22.12.1998".
Zum Listenvertreter wurde B bestimmt, zu seinem Stellvertreter Herr S. von Seiten der Beigeladenen. Auf der
gemeinsamen Liste kandidierte für die Beigeladenen Herr K. (K). In seiner Sitzung am 30. Dezember 1998 entschied
der Wahlausschuss diese gemeinsame Liste zur Wahl der Gruppe der Versicherten zuzulassen. Gleichzeitig wurde
festgestellt, dass keine Wahlhandlung stattfinde, weil nur eine Vorschlagsliste eingereicht worden sei. Diese
Entscheidung wurde der Klägerin mit Schreiben vom selben Tag bekannt gegeben mit dem Hinweis, dass bis zum 12.
Januar 1999 Beschwerde bei dem Wahlausschuss eingelegt werden könne.
Da auch für die Gruppe der Arbeitgeber nur eine Vorschlagsliste zugelassen worden war, erfolgte am 6. Februar 1999
die Bekanntmachung des vorläufigen Wahlergebnisses im Bundesanzeiger Nr 25; die Bekanntmachung des
endgültigen Wahlergebnisses erfolgte im Bundesanzeiger Nr 221 vom 23. November 1999.
Mit Schreiben vom 9. April 1999, das den Briefkopf der Klägerin trug, legte B unter Bezugnahme auf seine Funktion
als Listenvertreter der "Gewerkschaftsliste gemäß Vereinbarung vom 22.12.1998" beim Bundeswahlausschuss
Beschwerde gegen die Zulassung dieser Liste ein. Die Liste sei ungültig, weil die Voraussetzungen für die
Zusammenlegung der Listen der Klägerin und der Beigeladenen nicht gegeben gewesen seien. Denn die ursprüngliche
Vorschlagsliste der Beigeladenen sei ungültig gewesen, weil die Unterstützerunterschriften nicht von den
Beigeladenen sondern von dem Unternehmen M gesammelt worden seien, um mit K einen Vertreter des
Unternehmens auf Versichertenseite in der Vertreterversammlung zu platzieren und die gesetzlich vorgeschriebene
Parität zu durchbrechen. Der Fristablauf stehe der Wirksamkeit der Beschwerde nicht entgegen, da die Beigeladenen
die Anerkennung ihrer ursprünglichen Liste nur durch arglistige Täuschung erreicht hätten. Auch die Erklärung vom 23.
Dezember 1998 wurde von B im Namen der Klägerin mit Schreiben an die Beigeladenen angefochten. Die Vorsitzende
des Bundeswahlausschusses wies die Beschwerde nach § 23 Abs 3 der Wahlordnung für die Sozialversicherung vom
28. Juli 1997 (BGBl I 1946 - SVWO) als unzulässig zurück, weil sie nach Ablauf der Beschwerdefrist eingegangen sei
(Beschluss vom 30. April 1999).
In der am 4. Juni 1999 vor dem Sozialgericht (SG) Mannheim erhobenen Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit
der Wahl wandte die Klägerin sich insbesondere gegen die Wahl von K, den das Unternehmen M schon unter grober
Verletzung betriebsverfassungsrechtlicher Regeln als Gesamtbetriebsratsvorsitzenden durchgesetzt habe. Zur
Begründung legte sie außerdem ein Schreiben des Personalleiters B. des Unternehmens M über die Sammlung der
Unterstützerunterschriften vor, von dem sie erst im März 1999 erfahren und dessen Authentizität erst im April 1999
festgestanden habe. Das SG sah die Klage als zulässig an, weil die Beschwerdefrist auf Grund der Fehlerhaftigkeit
der Rechtsbehelfsbelehrung in dem Schreiben vom 30. Dezember 1998 noch nicht abgelaufen gewesen sei; sie sei
jedoch unbegründet, weil eine Wahlbeeinflussung durch das Unternehmen M nicht nachgewiesen werden könne (Urteil
vom 16. Dezember 2002).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage als unzulässig abgewiesen (Urteil vom 17. Juni 2004) und zur
Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Nach § 57 Abs 4 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) sei eine
Klage unzulässig, soweit von dem Recht, gegen eine Entscheidung des Wahlausschusses den hierfür vorgesehenen
Rechtsbehelf einzulegen, kein Gebrauch gemacht worden sei. Habe keine beschwerdeberechtigte Person gegen die
Zulassung eines Wahlvorschlags Beschwerde eingelegt, könne niemand mit dem Ziel, die Zulässigkeit der
Vorschlagslisten und damit die Wahl selbst für ungültig erklären zu lassen, eine zulässige Wahlanfechtungsklage
erheben. Die Beschwerde des Listenvertreters B sei nach Ablauf der Beschwerdefrist beim
Beschwerdewahlausschuss eingegangen und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht.
Im Übrigen sei die Klage auch unbegründet. Die gerügten Mängel seien im Hinblick auf die Wirksamkeit der
Wahlhandlung unbeachtlich. Die Rüge, die eingereichten Unterstützungsunterschriften für die ursprüngliche
Vorschlagsliste der Beigeladenen könnten nicht gezählt werden, weil sie nicht von diesen, sondern von dem
Unternehmen M gesammelt worden seien, greife nicht durch. Auf Grund der nach der SVWO weitgehend
formalisierten Prüfung der Unterstützerlisten und den engen Zeitvorgaben des Wahlverfahrens seien die näheren
Umstände, unter denen die Unterschriften gesammelt worden seien, nicht im Wahlanfechtungsverfahren zu
überprüfen. Im Übrigen sei die erforderliche Gesamtzahl von 1000 Unterschriften mit 1846 Unterschriften deutlich
überschritten worden.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts und macht ua geltend: § 57 Abs 4 SGB IV
enthalte keine in jedem Fall zu erfüllende Voraussetzung für eine Wahlanfechtungsklage, denn andernfalls würde das
durch § 57 Abs 3 Satz 3 SGB IV gerade ausgeschlossene Vorverfahren indirekt eingeführt. Die Beschwerde durch
den Listenführer B sei fristgerecht erfolgt. Die Klage sei auch begründet, weil das LSG § 48 SGB IV und den
Grundsatz der Parität verkannt habe. Es liege eine Verletzung der freien richterlichen Beweiswürdigung, der
Denkgesetze und der Amtsermittlungspflicht vor. Die Annahme des LSG, die Umstände, unter denen die
Unterschriften gesammelt worden seien, seien im Wahlanfechtungsverfahren nicht zu überprüfen, sei fehlerhaft. Die
Beschwerde des Listenvertreters beziehe sich nicht nur auf die Sozialversicherungswahlen 1999, sondern habe auch
Rechtsfolgen für die späteren Wahlen, weil eine Organisation, die in einer Vertreterversammlung vertreten sei, für die
folgenden Wahlen keine Unterschriftenlisten benötige.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß), festzustellen, dass die Wahl 1999 zur Vertreterversammlung der Beklagten in der
Gruppe der Versicherten ungültig war und dass die Beigeladenen bei der nächsten Sozialwahl gemäß § 48 Abs 2 SGB
IV Vorschlagslisten mit Stützunterschriften einreichen müssen.
Die Beklagte und die Beigeladenen zu 1. und 2. beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Für die zwischenzeitlich durchgeführte Sozialversicherungswahl im Jahre 2005 haben die Beigeladenen für ihre
Vorschlagsliste keine Unterstützerunterschriften gesammelt und die Klägerin und die Beigeladenen haben ihre Listen
wiederum zusammengelegt (vgl Bundesanzeiger Nr 28 vom 10. Februar 2005).
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet, denn ihre Klage ist unzulässig. Die ursprüngliche Wahlanfechtungsklage
hat sich durch Zeitablauf erledigt und für eine Fortsetzungsfeststellungsklage fehlt das Feststellungsinteresse.
Die Zulässigkeit der Klage ist als Prozessvoraussetzung auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen. Bei
einer zulässigen Revision ist, bevor über die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen des streitigen Anspruchs
entschieden wird, zu prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens
als Ganzes abhängt. Insbesondere sind solche Mängel zu berücksichtigen, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer
Prozessvoraussetzungen ergeben, gleichgültig ob der Mangel nur das Revisionsverfahren oder schon das Klage- und
Berufungsverfahren betrifft. Hierzu gehört auch die Zulässigkeit der Klage. Sie ist von Amts wegen zu prüfen, da
anderenfalls das Revisionsverfahren einer entscheidenden Grundlage entbehrt (stRspr: BSGE 2, 225 ff; BSG SozR
1500 § 150 Nr 18).
Ob die ursprüngliche Wahlanfechtungsklage der Klägerin nach § 57 SGB IV gegen die umstrittene Wahl zur
Vertreterversammlung der beklagten BG in der Gruppe der Versicherten anlässlich der Sozialversicherungswahlen im
Jahre 1999 zulässig war - so das SG - oder nicht - so das LSG - kann dahingestellt bleiben, weil die Klage sich durch
die zwischenzeitliche Neuwahl im Jahre 2005 erledigt hat und damit unzulässig geworden ist. Eine derartige
Erledigung, die zum Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses für die Ausgangsklage führt, liegt bei einer
Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt vor, wenn dieser durch ein im Laufe des Gerichtsverfahrens
eingetretenes Ereignis gegenstandslos wird und von ihm für die Zukunft keine nachteiligen Wirkungen mehr zu
erwarten sind (BSGE 42, 212, 216 = SozR 1500 § 131 Nr 3; BSG SozR 3-1500 § 131 Nr 5). Dies gilt für eine
Wahlanfechtungsklage entsprechend und ist insbesondere zu prüfen, wenn zwischenzeitlich eine Neuwahl
durchgeführt wurde.
Vorliegend hat sich die Klage gegen die Wahl im Jahre 1999 durch die zwischenzeitlich durchgeführte Neuwahl im
Jahre 2005 erledigt. Denn es ist nicht zu erkennen, welche Wirkungen die Wahl aus dem Jahre 1999 - abgesehen von
dem auslaufenden Restmandat der Vertreterversammlung - noch entfaltet. Auch von der Klägerin wurde mit
Ausnahme der noch zu erörternden Auswirkungen auf die nachfolgenden Wahlen nichts derartiges - auch nicht
hinsichtlich des Restmandats der Vertreterversammlung - vorgetragen.
Eine Fortsetzungsfeststellungsklage ist ebenfalls unzulässig. Hat sich der Verwaltungsakt durch Zurücknahme oder
anders erledigt, spricht das Gericht nach § 131 Abs 1 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf Antrag des
Klägers aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser
Feststellung hat. Die Regelungen über die Fortsetzungsfeststellungsklage sind für die Wahlanfechtungsklage
entsprechend anzuwenden, weil es sich um eine vergleichbare Prozesssituation handelt und der Kläger auch nach
Erledigung der ursprünglichen Wahlanfechtungsklage ein Interesse an einer bestimmten Feststellung hinsichtlich der
angefochtenen Wahl haben kann (zur weiten Handhabung des § 131 Abs 1 Satz 3 SGG vgl BSGE 73, 244, 245 f =
SozR 3-1500 § 88 Nr 1; BSGE 78, 243, 249 = SozR 3-2500 § 109 Nr 2). Voraussetzung für eine
Fortsetzungsfeststellungsklage ist ua ein berechtigtes Feststellungsinteresse, das typischerweise gegeben ist bei
Wiederholungsgefahr oder absehbaren Folgewirkungen des angefochtenen Verwaltungsaktes bzw hier der
angefochtenen Wahl (vgl nur Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 131 RdNr 10 ff).
Beide Voraussetzungen können vorliegend nicht festgestellt werden. Für eine Wiederholungsgefahr sind mangels
eines dahingehenden Vortrags der Klägerin keine Anhaltspunkte ersichtlich.
Die umstrittene Wahl im Jahre 1999 hat auch keine unmittelbaren Auswirkungen mehr auf zukünftige Wahlen, zB im
Jahre 2011. Zwar können bestimmte Fehler bei früheren Wahlen sich auf die zukünftigen Wahlen auswirken (vgl
BSGE 39, 244, 246 = SozR 5334 Art 3 § 1 Nr 1). Eine dieser Auswirkungen einer vorangehenden Wahl ist der
Umstand, dass eine Liste, die aufgrund dieser Wahl in der Vertreterversammlung vertreten ist, bei der nachfolgenden
Wahl, keine Unterstützerunterschriften vorlegen muss (vgl § 48 Abs 4 SGB IV). Dementsprechend war die
Wirksamkeit der umstrittenen Wahl im Jahre 1999 für die Wahl der Versichertenvertreter bei der beklagten BG im
Jahre 2005 von Bedeutung, weil davon abhing, ob die Beigeladenen für die von ihnen eingereichten Listen
Unterstützerunterschriften vorlegen mussten oder sich auf das von ihnen gestellte Mitglied K in der
Vertreterversammlung beziehen konnten. Vorliegend ist aber die Wahl im Jahre 2005 nicht umstritten, da diese bereits
stattgefunden hat und von keiner Seite vorgetragen wurde, dass diese angefochten worden ist.
Auf zukünftige Wahlen, etwa im Jahre 2011, kann sich eine mögliche Täuschung der Beigeladenen und ein darauf
beruhender Irrtum der Klägerin nicht mehr auswirken. Anders als bei der Wahl im Jahre 1999, als die Klägerin den
umstrittenen Mangel zunächst nicht kannte und die Bildung einer gemeinsamen Liste später wegen arglistiger
Täuschung angefochten hat, hat die Klägerin für die Wahl im Jahre 2005 in Kenntnis der gesamten Umstände erneut
mit den Beigeladenen eine Zusammenlegung der Vorschlagslisten vereinbart und gegen deren Zulassung keinen
Rechtsbehelf eingelegt. Bei dieser Sachlage sind die Beigeladenen bei der nächsten Wahl gemäß § 48 Abs 4 SGB IV
von der Notwendigkeit der Beibringung von Unterstützerunterschriften für ihre Vorschlagsliste befreit. Denn die
gewählten Vertreter dieser von der Klägerin nicht beanstandeten zusammengelegten Liste gehören der
Vertreterversammlung jedenfalls nicht mehr unberechtigt an, weil ihre Wahl im Jahre 2005 nicht angefochten wurde.
Wie unter diesen Umständen der für die Wahl im Jahre 1999 behauptete Unwirksamkeitsgrund zB auf die Wahl im
Jahre 2011 oder später fortwirken soll, ist nicht ersichtlich.
Auch hinsichtlich des weiteren Antrags festzustellen, dass die Beigeladenen bei der nächsten Sozialwahl gemäß § 48
Abs 2 SGB IV Vorschlagslisten mit Stützunterschriften einreichen müssen, ist die Klage unzulässig, weil die Klägerin
ua nicht vorgetragen hat, woraus sich vor dem Hintergrund des oben Gesagten heute ein derartiges
Feststellungsinteresse ihrerseits ergeben könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch
anzuwendenden Fassung (vgl BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 24).