Urteil des BSG vom 15.12.2009

BSG: verwaltung, bindungswirkung, erlass, unvereinbarkeit, sozialstaatsprinzip, öffentlich, mitverschulden, wohnung, presse, internet

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Kassel, den 15. Dezember 2009
Terminbericht Nr. 71/09 (zur Terminvorschau Nr. 71/09)
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 15. Dezember
2009.
Der Senat hat der von der Bundesrepublik Deutschland gegen das Land Berlin erhobenen
Klage lediglich in Höhe von 13.143.000 Euro nebst Zinsen stattgegeben, im Übrigen hat er
sie abgewiesen. Das BSG ist für die Klage zuständig, denn es hat - wie hier - im ersten und
letzten Rechtszug über Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund
und den Ländern in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu entscheiden
( § 39 Abs 2 Satz 1 iVm § 51 Abs 1 Nr 4a SGG). Dass eine Anspruchsgrundlage aus dem
Grundgesetz inhaltlich zu prüfen ist und der Beklagte sich auf ein aus seiner Sicht
vermeintlich vorrangig durchzuführendes Mängelrügeverfahren stützt, macht aus der Sache
noch keine verfassungsrechtliche Streitigkeit.
Die Klägerin kann Zahlung von (nur) 13.143.000 Euro nebst Zinsen verlangen. Sie hat gegen
den Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz in dieser Höhe unmittelbar aus Art 104a
Abs 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist eröffnet. Die
Regelung sieht eine Haftung im Verhältnis zwischen Bund und Ländern vor, die auf das
Auseinanderfallen von Verwaltungs- und Finanzierungszuständigkeit zugeschnitten ist. Sie
zielt auf eine sachgerechte Zuordnung der Verantwortung für die durch eine nicht
ordnungsmäßige Verwaltung entstandenen Schäden. Bund und Länder haften hiernach im
Verhältnis zueinander ohne nähere Einschränkung "für eine ordnungsmäßige Verwaltung",
die sämtliche staatliche Aufgaben dieser Gebietskörperschaften umfasst. Hierzu gehört auch
die vorliegende Form der Mischverwaltung durch die Arbeitsgemeinschaften (ARGEn), die
das BVerfG für verfassungswidrig und nur vorübergehend, längstens bis Ende 2010 für
anwendbar erklärt hat. Die gesetzliche Finanzierungsverantwortung trifft hier teilweise die
Klägerin. Die Verwaltungsverantwortung ist dagegen - im betroffenen Bereich der Kosten der
Unterkunft (KdU) - dem Beklagten zugeordnet. Der Beklagte trägt insbesondere allein die
Verwaltungsverantwortung für die von ihm erlassene AV-Wohnen. Er konnte sich selbst - wie
nach dem Berliner AG-SGB II geschehen - zum kommunalen Träger für die Gewährung der
KdU-Leistungen nach dem SGB II bestimmen. Er konnte Ausführungsvorschriften zur
Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II mit Bindungswirkung für
die ARGEn im Land Berlin erlassen, ohne dass die Klägerin dies hätte mit ihr zumutbaren
Mitteln verhindern können.
Die Bindungswirkung rechtfertigt sich trotz Unvereinbarkeit der Regelung über ARGEn mit
dem Grundgesetz daraus, dass das BVerfG eine vorübergehende Anwendung der Regelung
zugelassen hat. Es wollte damit Rechtsunsicherheit verhindern und eine wirkungsvolle,
durch das Sozialstaatsprinzip gebotene Aufgabenwahrnehmung ermöglichen, zumal es für
die Vielzahl betroffener SGB II-Leistungsberechtigter regelmäßig um existenzielle Leistungen
geht. Deshalb ist es den ARGEn in der vom BVerfG bestimmten Übergangszeit rechtlich und
faktisch zu ermöglichen, ihre Aufgaben wirkungsvoll wahrzunehmen. Dazu gehört es, in den
jeweils betroffenen Leistungsbereichen den zuständigen Trägern auch tatsächlich im
Interesse eines effektiven Verwaltungsvollzugs die im Gesetz angelegte, für die
Verwaltungspraxis unerlässliche Möglichkeit einzuräumen, allgemeine
Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die die ARGEn binden, ohne dass der jeweils andere
Träger dies verhindern kann. Andernfalls könnten die ARGEn bei einem Streit zwischen den
Trägern von einem der Träger letztlich lahmgelegt werden, obwohl die Leistungsberechtigten
dringend auf die Leistungen angewiesen sind. Daran hat sich auch schon die bisherige
Verwaltungspraxis ausgerichtet.
Der Beklagte hat durch den Erlass der AV-Wohnen vorsätzlich und schwerwiegend seine
Pflicht verletzt, höherrangiges Recht beim Erlass von Verwaltungsvorschriften zu beachten.
Er hat mit Nr 4 Abs 3 AV-Wohnen eine Jahresbestandsschutzregelung getroffen, die offen
gesetzeswidrig war. Es fand sich keinerlei Ansatzpunkt, der den planmäßigen und
dauerhaften Verstoß des Beklagten gegen Bundesrecht hätte rechtfertigen oder
entschuldigen können. Nach der klaren gesetzlichen Regelung ( § 22 Abs 1 SGB II) sind die
Aufwendungen für die Unterkunft, soweit sie den der Besonderheit des Einzelfalles
angemessenen Umfang übersteigen, als Bedarf nur so lange zu berücksichtigen, wie es dem
Betroffenen nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch
Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, "in der Regel jedoch
längstens für sechs Monate". Die Bestandsschutzregelung in der AV-Wohnen ließ die
gesetzliche Sechs-Monats-Regel demgegenüber erst nach Ablauf eines vollen Jahres
eingreifen, sodass in diesem ersten Jahr systematisch ungeprüft selbst gänzlich
unangemessene KdU gezahlt wurden.
Der Klägerin ist hierdurch ein Schaden von schätzungsweise rund 13.143.000 Euro
entstanden. Der Gesamtbetrag überhöhter Zahlungen, die die Klägerin dem Beklagten trotz
unangemessener KdU für die Zeit vom 1.10.2005 bis 31.12.2008 gezahlt hat, beläuft sich auf
54.761.913 Euro. Der Zeitraum vom 1.10.2005 - dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der
rechtswidrigen und von den ARGEn im Land Berlin umgesetzten AV-Wohnen - bis zum
Ablauf des 31.12.2008 ist zugrunde zu legen, da ohne den Jahresbestandsschutz (nur)
angemessene KdU bewilligt worden wären. Von diesem Betrag sind - geschätzt - lediglich
rund 24% als Schaden der Klägerin einzustufen und nicht 80%, wie sie meint. Es ist nämlich
ein Abzug für die sog Nichtabsenkungsfälle vorzunehmen, in denen es den
Leistungsbeziehern auch nach Ablauf der gesetzlichen Sechs-Monats-Frist nicht möglich
oder zumutbar war, ihre unangemessen hohen KdU auf ein angemessenes Maß zu senken.
In den Nichtabsenkungsfällen wirkte sich der Jahresbestandsschutz nicht schädigend zu
Lasten der Klägerin aus. Vielmehr waren andere Umstände für den weiteren Bezug
unangemessener KdU ursächlich als die AV-Wohnen. Das muss zu Gunsten des Beklagten
schadensmindernd Berücksichtigung finden. Die Klägerin hat die für die auffällige Höhe der
Abzüge verantwortliche Verwaltungspraxis der ARGEn in Berlin im Rahmen ihrer Klage
selbst nicht angegriffen. Sie muss sich kein anspruchsminderndes Mitverschulden
entgegenhalten lassen. Ihr Zinsanspruch ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung
der § § 291, 288 Abs 1 BGB. Weitergehende Ansprüche der Klägerin gegenüber dem
Beklagten bestehen nicht, auch nicht aus einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch.
Bundessozialgericht - B 1 AS 1/08 KL -