Urteil des BSG vom 28.04.2005

BSG: gesetzlicher vertreter, unverschuldetes hindernis, eheliche gemeinschaft, verschulden, eltern, handlungsfähigkeit, versorgung, halle, stiefvater, erfüllung

Bundessozialgericht
Urteil vom 28.04.2005
Sozialgericht Halle (Saale) S 1 (4) VG 13/02
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt L 7 (5) VG 22/02
Bundessozialgericht B 9a/9 VG 1/04 R
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 13. November 2003 wird
zurückgewiesen. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Revisionsverfahren zu
erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über den Beginn von Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm
dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die im Oktober 1983 geborene Klägerin wurde über Jahre hinweg von ihrem Stiefvater sexuell schwer missbraucht.
Am 4. Februar 1998 verließ sie die elterliche Wohnung; seither lebt sie in einem Jugendheim. Der Stiefvater wurde im
Dezember 1998 angezeigt und am 16. Juni 1999 vom Landgericht Halle wegen vier konkreter Taten, davon einer
letzten am 3. Februar 1998, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Am 3. April 2000 beantragte die Klägerin Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Der Beklagte erkannte eine
"Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend sensitiven, depressiven und katatonen Zügen" als Schädigungsfolge an und
bewilligte ab 1. April 2000 Beschädigtengrundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH
(Bescheid vom 24. Oktober 2000; Widerspruchsbescheid vom 23. April 2002).
Das Sozialgericht (SG) Halle hat die auf einen Leistungsbeginn bereits ab 1. Februar 1998 gerichtete Klage
abgewiesen (Urteil vom 8. Oktober 2002). Dabei hat es darauf abgestellt: Nach dem im Opferentschädigungsrecht
entsprechend anwendbaren § 60 Abs 1 Satz 1 BVG beginne die Beschädigtenversorgung frühestens mit dem
Antragsmonat, hier also am 1. April 2000. Die Ausnahmetatbestände nach § 60 Abs 1 Sätze 2 und 3 BVG lägen nicht
vor. Das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) hat den Beklagten verurteilt, Grundrente nach einer MdE um 60
vH auch für die Zeit vom 1. Februar 1998 bis zum 31. März 2000 zu gewähren. Es hat sein Urteil vom 13. November
2003 auf folgende Erwägungen gestützt: Versorgung sei nach § 60 Abs 1 Satz 2 BVG bereits für die Zeit vor der
Antragstellung zu gewähren, vorausgesetzt, der Antrag werde innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung
gestellt. Diese Frist habe die Klägerin selbst nicht versäumt. Die mit Vollendung des 15. Lebensjahres im Oktober
1998 eingetretene sozialrechtliche Handlungsfähigkeit wirke ausschließlich begünstigend, führe also nicht zu
Nachteilen für die Klägerin. Die Frist verlängere sich für die gesetzliche Vertreterin der Klägerin - ihre Mutter - , deren
Verschulden sie sich zurechnen lassen müsse, um die Zeit vom 4. Februar 1998 bis zum 24. Juni 1999 (Rechtskraft
des Strafurteils). Während dieses Zeitraums sei die Mutter durch Interessenkonflikt unverschuldet gehindert gewesen,
Beschädigtenversorgung zu beantragen (§ 60 Abs 1 Satz 3 BVG).
Der Beklagte macht mit seiner Revision geltend: Das Berufungsgericht habe § 60 BVG verletzt. Die Klägerin sei mit
ihrem 15. Geburtstag am 11. Oktober 1998 sozialrechtlich handlungsfähig geworden, hätte also innerhalb der
Jahresfrist nach dem Anfang Februar 1998 abgeschlossenen schädigenden Vorgang Versorgung beantragen können.
Jedenfalls müsse sie sich das Verschulden ihrer Mutter als gesetzlicher Vertreterin zurechnen lassen. Die Mutter
möge sich zunächst zwar in einem Konflikt zwischen den Interessen ihres Ehemannes (des Täters) und der Tochter
befunden haben. Ein solcher Konflikt habe aber seit Aufnahme der strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Täter im
Dezember 1998 nicht mehr bestanden.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 13. November 2003 aufzuheben und die Berufung
der Klägerin gegen das Urteil des SG Halle vom 8. Oktober 2002 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angegriffene Berufungsentscheidung.
II
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Beschädigtenrente auch für die Zeit
von Februar 1998 bis März 2000.
Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG iVm § 60 Abs 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in
dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat, hier also mit April 2000. Verzögert sich die
Antragstellung um längstens ein Jahr nach Eintritt der Schädigung, so ist das nach § 60 Abs 1 Satz 2 BVG
unschädlich: Versorgung ist in diesem Fall auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten. Aus dieser Vorschrift
allein kann die Klägerin nichts für sich herleiten, weil die Schädigung nach der unangegriffenen Feststellung des LSG
im Februar 1998 eingetreten, die Jahresfrist also - lange vor Antragstellung - im Februar 1999 abgelaufen war. Nach §
60 Abs 1 Satz 3 BVG verlängert sich die Jahresfrist aber um den Zeitraum, während dessen der Beschädigte ohne
sein Verschulden verhindert war, Versorgung zu beantragen. Das LSG hat zu Recht eine für den geltend gemachten
Anspruch hinreichende Fristverlängerung angenommen.
Bei der Prüfung, inwiefern hinsichtlich der verspäteten Antragstellung ein unverschuldetes Hindernis vorlag, ist ab
Oktober 1993 nicht allein auf die mit Vollendung des 15. Lebensjahres iS von § 36 Abs 1 Erstes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB I) handlungsfähig gewordene Klägerin abzustellen, sondern grundsätzlich auch auf ihre
personensorgeberechtigte Mutter (vgl § 2, §§ 1626 ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)), die insoweit auch ihre
gesetzliche Vertreterin war (vgl § 1629 Abs 1 Satz 2 BGB). Soweit sein gesetzlicher Vertreter die rechtzeitige
Antragstellung unterlassen hat, muss sich der Berechtigte die dadurch verursachten Folgen entsprechend der in § 27
Abs 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) getroffenen Regelung sowie den zu § 67 Abs 1 Satz 2 SGG
von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zurechnen lassen (vgl BSG SozR 3-3100 § 60 Nr 3 S 5). Dabei
geht der Senat davon aus, dass die sozialrechtliche Handlungsfähigkeit in ihrem sachlichen Geltungsbereich die
Befugnisse des gesetzlichen Vertreters nicht verdrängt (aA allerdings zB Coester, FamRZ 1985, 982, 983 f; Gitter, in
Bochumer Komm, § 36 SGB I RdNr 34; Krauskopf/Baier, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, § 36
SGB I RdNr 4; Mrozynski, SGB I, 3. Aufl 2003, § 36 RdNr 4; von Wulffen, SGB X, § 11 RdNr 7); vielmehr tritt sie
nach Maßgabe des § 36 SGB I ergänzend neben die gesetzliche Vertretungsmacht (ebenso zB Fastabend, in
Hauck/Noftz, SGB I, § 36 RdNr 7 f; Grüner/Dalichau, SGB I, § 36 Anm III.1; Heinke/Marburger, in Koch/Hartmann,
Die Rentenversicherung im SGB, § 36 SGB I RdNr 26; Jahn/Klose, SGB I, § 36 RdNr 15; Kunz, ZfJ 1984, 392, 394;
Robbers, DVBl 1987, 709, 715; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Komm, § 36 SGB I RdNr 3;
Wannagat/Thieme, SGB I, § 36 RdNr 7).
Das Gesetz regelt die Stellung des gesetzlichen Vertreters im Wesentlichen mit Blick auf den Fall, dass der
Minderjährige von seiner Handlungsfähigkeit Gebrauch gemacht hat. Der Leistungsträger soll ihn dann über die
Antragstellung und die erbrachten Sozialleistungen unterrichten (vgl § 36 Abs 1 Satz 2 SGB I). Das wiederum gibt
dem gesetzlichen Vertreter die Möglichkeit, die Handlungsfähigkeit des Minderjährigen ggf durch schriftliche Erklärung
gegenüber dem Leistungsträger einzuschränken (vgl § 36 Abs 2 Satz 1 SGB I). Darüber hinaus bedürfen die
Rücknahme von Anträgen, der Verzicht auf Sozialleistungen und die Entgegennahme von Darlehen der Zustimmung
des gesetzlichen Vertreters (vgl § 36 Abs 2 Satz 2 SGB I). Welche Befugnisse der gesetzliche Vertreter hat, wenn
der Minderjährige bewusst oder unbewusst eine Antragstellung unterlässt, ist im Gesetz nicht ausdrücklich bestimmt.
Da die Vorverlagerung der Handlungsfähigkeit Minderjähriger einen Eingriff in das elterliche Sorgerecht nach Art 6 Abs
2 Grundgesetz (GG) darstellt, spricht mehr dafür, dieses gesetzgeberische Schweigen dahin zu deuten, dass die
Eltern eines "passiven" 15jährigen uneingeschränkt für diesen Sozialleistungsanträge stellen und verfolgen können
(vgl dazu Robbers aaO).
Von dem Grundsatz, dass dem Minderjährigen ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters bei der verspäteten
Antragstellung zuzurechnen ist, hat der erkennende Senat dann eine Ausnahme gemacht, wenn ein Gewalttäter als
alleiniger gesetzlicher Vertreter des minderjährigen Hinterbliebenen seines Opfers für dieses keinen
Versorgungsantrag nach dem OEG stellt (BSGE 59, 40, 42 = SozR 3800 § 1 Nr 5): Es darf sich nicht nachteilig auf
den Versorgungsanspruch eines Gewaltopfers auswirken, dass sein gesetzlicher Vertreter den Widerspruch zwischen
seinen Eigeninteressen (als Täter unentdeckt zu bleiben) und den Interessen der von ihm gesetzlich vertretenen
Hinterbliebenen zu Lasten letzterer löst. In einem solchen Fall lässt sich das pflichtwidrige Unterlassen des Vertreters
dem Vertretenen ausnahmsweise nicht zurechnen.
Entsprechendes gilt - wie das LSG zu Recht angenommen hat - auch für den vorliegenden Fall. Der vom Senat
aufgestellte Rechtsgrundsatz ist zu erweitern: Nach dem Schutzzweck des OEG darf es auch nicht in der Hand von
sorgeberechtigten Eltern, die dem Gewalttäter familiär und durch gleich gelagerte Interessen eng verbunden sind,
liegen, ihr Kind als Opfer einer Gewalttat von zügiger Entschädigung nach dem OEG auszuschließen (vgl zum
Parallelproblem der Verjährung im Zivil- und Strafrecht § 208 BGB, § 78b Strafgesetzbuch). Die Eltern stehen in
einem Interessenkonflikt. Einerseits darf die Tat nicht offenbar werden, weil damit zumindest - auch eigener -
empfindlicher Ansehensverlust verbunden wäre und dem gewalttätigen Familienangehörigen Kriminalstrafe bis zum
Freiheitsentzug droht. Andererseits müssten sie in Erfüllung ihrer Pflichten dem Kind gegenüber für dieses einen
Versorgungsantrag stellen und hätten dabei grundsätzlich Tat und Täter anzugeben. Auch nach Einleitung
staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen kann eine solche Konfliktlage fortbestehen. Dies ist insbesondere anzunehmen,
wenn es den persönlichen Interessen der Eltern (oder des personensorgeberechtigten Elternteils) zuwiderläuft, an der
vollständigen Aufdeckung des Tatgeschehens irgendwie mitzuwirken; sei es, dass dabei auch eine Vernachlässigung
eigener elterlicher Aufsichts- und Fürsorgepflichten ans Licht kommen kann, sei es, weil ein entsprechendes
Vorgehen, insbesondere auch eine Antragstellung nach dem OEG, zum Bruch der ihnen wichtigen Beziehungen zu
dem straffällig gewordenen Familienangehörigen führen könnte. Räumen Eltern in einer solchen Situation ihren
eigenen und den damit eng verflochtenen Interessen des Gewalttäters den Vorrang ein, so scheitern sie zwangsläufig
bei der Erfüllung ihres, auch grundgesetzlich statuierten Auftrags (Art 6 Abs 2 Satz 1 GG), für ihr Kind zu "sorgen".
Dem kindlichen Gewaltopfer ist ein solches tatbestimmtes und täterbezogenes Versagen ihrer gesetzlichen Vertreter
im Rahmen des § 60 Abs 1 BVG nicht als Verschulden anzulasten.
Nach den Umständen dieses Falles hat die personensorgeberechtigte Mutter der Klägerin über den Beginn der
strafrechtlichen Ermittlungen im Dezember 1998 hinaus in einem Konflikt der beschriebenen Art gestanden. Sie hatte
ein starkes Interesse, nichts zur Aufklärung der Missbrauchshandlungen ihres Ehemannes beizutragen; auch nicht
durch einen Antrag auf Entschädigung der Klägerin nach dem OEG und dadurch ausgelöste Ermittlungen einer
weiteren Behörde. Zum einen musste sie den Vorwurf einer Verletzung ihrer mütterlichen Pflichten fürchten, weil sie
die innerfamiliäre Straftat nicht verhindert hatte. Zum anderen wollte sie die eheliche Gemeinschaft mit dem Täter
offensichtlich nicht gefährden. Das ergibt sich schon aus ihrer vom LSG dokumentierten Verhaltensweise: Sie hat
ihren Ehemann während der Untersuchungshaft häufig besucht und lebt seit seiner Freilassung wieder mit ihm
zusammen.
Die Klägerin war nach Erreichen sozialrechtlicher Handlungsfähigkeit im Oktober 1998 unverschuldet gehindert,
Beschädigtenrente innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung zu beantragen (§ 60 Abs 1 Satz 3 BVG). An
Verschulden fehlt es, weil die Klägerin die nach den Umständen des Falles zu erwartende zumutbare Sorgfalt
beachtet hat. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Zu berücksichtigen sind insbesondere
Geisteszustand, Reife, Alter, Bildungsgrad und Geschäftsgewandtheit (vgl BSG SozR 3-3100 § 60 Nr 3). Bei
Verletzungen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts - wie hier - ist außerdem entscheidend auf die Überlegungen
des Gesetzgebers abzustellen, die dem - vom LSG in diesem Zusammenhang bereits genannten - § 208 BGB zu
Grunde liegen: Die Verjährung von Ansprüchen Minderjähriger ist auch nach Eintritt der vollen Geschäftsfähigkeit mit
18 Jahren bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gehemmt, weil die Opfer emotional häufig nicht in der Lage sind,
ihre Ansprüche wegen solcher Taten selbst zu verfolgen (BT-Drucks 14/7052, S 182). Dieses Defizit wurde hier auch
nicht durch verständnisvollen Rat und situationsangemessene Unterstützung ausgeglichen, wie sie Kindern von ihren
Eltern regelmäßig zuteil werden. Denn die Klägerin befand sich in der Lage eines minderjährigen, durch den eigenen
Stiefvater missbrauchten Gewaltopfers, dessen gesetzliche Vertreterin wegen des bestehenden Interessekonflikts
gerade im Hinblick auf die OEG-Antragstellung außer Stande war, für ihr Kind zu sorgen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.