Urteil des BSG vom 11.09.2012

BSG: Krankenversicherung, Krankenbehandlung, Anspruch auf Versorgung mit einer beidseitigen Mamma-Augmentationsplastik bei Mann-zu-Frau Transsexualität

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 11.9.2012, B 1 KR 9/12 R
Krankenversicherung - Krankenbehandlung - Anspruch auf Versorgung mit einer beidseitigen
Mamma-Augmentationsplastik bei Mann-zu-Frau Transsexualität - Annäherung an das
Erscheinungsbild des anderen Geschlechts
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8.
Dezember 2011 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit einer Mamma-
Augmentationsplastik (MAP).
2 Die 1949 als Mann geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin
wird infolge eines Mann-zu-Frau-Transsexualismus seit März 2005 mit weiblichen
Hormonen behandelt. Die Beklagte bewilligte der Klägerin eine geschlechtsangleichende
Genitaloperation, die im Oktober 2007 erfolgte, lehnte aber eine MAP ab (Bescheide vom
28.6.2007 und 14.8.2008, Widerspruchsbescheid vom 8.12.2008). Die Brustgröße der
Klägerin stelle keinen regelwidrigen Körperzustand dar. Der psychische Leidensdruck der
Klägerin sei psychiatrisch oder psychotherapeutisch zu behandeln. Das SG hat die Klage
abgewiesen (Urteil vom 24.3.2010). Mit ihrer Berufung hat die Klägerin geltend gemacht,
trotz der Hormonbehandlung wirke ihre Brust eher männlich. Das LSG hat die Berufung
zurückgewiesen: Der Leidensdruck, der Klägerin, abweichend vom biologischen
Geschlecht als Angehöriger des anderen Geschlechts erkannt und anerkannt zu werden,
sei eine behandlungsbedürftige Krankheit. Das Behandlungsziel einer nach dem gesamten
Erscheinungsbild deutlichen Annäherung an das empfundene Geschlecht sei aber bei dem
schlanken Erscheinungsbild der Klägerin mit einer natürlich wirkenden Brust insgesamt
erreicht. Für diese auf einen Befundbericht und die Wahrnehmung in der mündlichen
Verhandlung gestützte Einschätzung habe es keines medizinischen Fachwissens und
keines Sachverständigenbeweises bedurft (Urteil vom 8.12.2011).
3 Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 27 Abs 1 S 1 SGB V und des § 103
SGG. Ihr Anspruch auf Krankenbehandlung wegen Transsexualismus umfasse aufgrund
der gegebenen medizinischen Indikation auch eine MAP. Sie könne nicht auf die
Verwendung von Hilfsmitteln wie zB BH-Einlagen verwiesen werden. Das LSG hätte - wie
beantragt - zum Erscheinungsbild ihrer Brust Beweis durch Sachverständige erheben
müssen.
4 Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Dezember 2011 und das Urteil des
Sozialgerichts Kassel vom 24. März 2010 aufzuheben sowie die Bescheide der Beklagten
vom 28. Juni 2007 und 14. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.
Dezember 2008 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin mit einer
beidseitigen Mamma-Augmentationsplastik zu versorgen,
hilfsweise,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Dezember 2011 aufzuheben und
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückzuverweisen.
5 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
6 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
7 Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das
LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Das
angefochtene LSG-Urteil ist aufzuheben, denn es verletzt materielles Recht. Die
unangegriffenen, den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG reichen nicht
aus, um abschließend über den geltend gemachten Anspruch auf Versorgung mit einer
MAP aus § 27 Abs 1 S 1 SGB V zu entscheiden. Der von der Klägerin bereits durch die
Hormonbehandlung erreichte Brustumfang steht nicht fest, so dass der Senat nicht die
Erforderlichkeit der von der Klägerin begehrten MAP beurteilen kann.
8 Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, dass transsexuelle Versicherte nach § 27
Abs 1 SGB V Anspruch auf geschlechtsangleichende Behandlungsmaßnahmen
einschließlich chirurgischer Eingriffe in gesunde Organe zur Minderung ihres psychischen
Leidensdrucks haben können, um sich dem Erscheinungsbild des angestrebten anderen
Geschlechts deutlich anzunähern (dazu 1.). Die Reichweite des Anspruchs auf
geschlechtsangleichende Behandlung bestimmt sich auf der Basis der allgemeinen und
besonderen Voraussetzungen des Anspruchs auf Krankenbehandlung nach
medizinischen Kriterien (dazu 2.). Die Entscheidung des LSG erweist sich weder ganz
noch teilweise aus anderen Gründen als zutreffend. Das LSG wird nunmehr das noch
Erforderliche aufzuklären haben (dazu 3.).
9 1. Versicherte - wie die Klägerin - haben nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V Anspruch auf
Krankenbe-handlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen,
ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Klägerin
leidet an Transsexualismus in Gestalt einer psychischen Krankheit, deren Behandlung
notwendig ist (dazu a). Obwohl der Anspruch auf Krankenbehandlung psychischer
Krankheiten grundsätzlich nicht körperliche Eingriffe in intakte Organsysteme erfasst,
können zur notwendigen Krankenbehandlung des Transsexualismus - als Ausnahme von
diesem Grundsatz - operative Eingriffe in den gesunden Körper zwecks Veränderung der
äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmale gehören (dazu b). Die genannten operativen
Eingriffe in den gesunden Körper müssen medizinisch erforderlich sein (dazu c).
10 a) Grundvoraussetzung des Anspruchs Versicherter auf Krankenbehandlung ist, dass sie
an einer Krankheit leiden. Krankheit iS von § 27 Abs 1 S 1 SGB V ist ein regelwidriger,
vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der
ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (stRspr, vgl nur
BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 10 mwN - Zisidentität; zu Bestrebungen, den
Transsexualismus zu "entpathologisieren", vgl LSG Baden-Württemberg Urteil vom
25.1.2012 - L 5 KR 375/10 - Juris RdNr 44). Die Klägerin leidet in diesem Sinne an einer
Krankheit, nämlich an behandlungsbedürftigem Transsexualismus.
11 Transsexualismus ist nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse eine psychische Krankheit. Transsexuelle leben in dem irreversiblen und
dauerhaften Bewusstsein, dem Geschlecht anzugehören, dem sie aufgrund ihrer äußeren
körperlichen Geschlechtsmerkmale zum Zeitpunkt der Geburt nicht zugeordnet wurden
(vgl BVerfGE 128, 109 = NJW 2011, 909, RdNr 34 mwN). Für die Diagnose entscheidend
ist die Stabilität des transsexuellen Wunsches, der vollständigen psychischen
Identifikation mit dem anderen, dem eigenen Körper widersprechenden Geschlecht (vgl
BVerfGE 128, 109 = NJW 2011, 909, RdNr 35 unter Hinweis auf
Becker/Berner/Dannecker/Richter-Appelt, Zf Sexualforschung 2001, S 258, 260; Pichlo, in:
Groß/Neuschaefer-Grube/Steinmetzer, Transsexualität und Intersexualität, Medizinische,
ethische, soziale und juristische Aspekte, 2008, S 121). Die ICD-10-GM Version 2012
ordnet Transsexualismus mit dem Schlüssel F64.0 (Störungen der Geschlechtsidentität)
dem Kapitel V zu (Psychische und Verhaltensstörungen ). F64.0 spricht von
dem "Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu
werden".
12 Die Rechtsordnung erkennt Transsexualismus nicht nur personenstandsrechtlich, sondern
auch als behandlungsbedürftige Krankheit an. Der Gesetzgeber hat bereits durch
Schaffung des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der
Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz ) vom
10.9.1980 (BGBl I 1654; zuletzt geändert durch Beschluss des BVerfG vom 11.1.2011 - 1
BvR 3295/07 - BGBl I 224 = BVerfGE 128, 109 = NJW 2011, 909) bestätigt, dass der
Befund des Transsexualismus eine außergewöhnliche rechtliche Bewertung rechtfertigt
(BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 11; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr
17). Inzwischen erstreckt das SGB V ausdrücklich die ambulante spezialfachärztliche
Versorgung auf die Diagnostik und Behandlung komplexer, schwer therapierbarer
Krankheiten, die je nach Krankheit eine spezielle Qualifikation, eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit und besondere Ausstattungen erfordern. Hierzu gehört ua
Transsexualismus als seltene Erkrankung (vgl § 116b Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst i SGB V idF
durch Art 1 Nr 44 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen
Krankenversicherung vom 22.12.2011,
BGBl I 2983; vgl dazu BT-Drucks 17/6906 S 81; vgl zuvor Anlage 2
Fehlbildungen> Nr 9 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über
die ambulante Behandlung im Krankenhaus nach § 116b SGB V idF vom 18.10.2005,
BAnz Nr 7 S 88 vom 11.1.2006, zuletzt geändert am 15.12.2011, BAnz Nr 197 S 4655, in
Kraft getreten am 31.12.2011; zur erstmaligen Berücksichtigung des Transsexualismus als
seltene Erkrankung im Rahmen des § 116b SGB V aF vgl die Bekanntmachung des GBA
über eine Ergänzung des Katalogs nach § 116b Abs 3 SGB V vom 16.3.2004, BAnz Nr 88
S 10 177).
13 b) Das Spektrum medizinisch indizierter Krankenbehandlung des Transsexualismus ist
mittlerweile - anknüpfend an den Erkenntnisfortschritt über die Erkrankung - weit gefächert.
Für erforderlich werden individuelle therapeutische Lösungen erachtet, die von einem
Leben im anderen Geschlecht ohne somatische Maßnahmen über hormonelle
Behandlungen bis hin zur weitgehenden operativen Geschlechtsangleichung reichen
können (vgl BVerfGE 128, 109 = NJW 2011, 909, RdNr 36 unter Hinweis auf Pichlo in
Groß/Neuschaefer-Grube/Steinmetzer, Transsexualität und Intersexualität, Medizinische,
ethische, soziale und juristische Aspekte, 2008, 119, 122; Rauchfleisch, Transsexualität -
Transidentität, 2006, 17; Becker in Kockott/Fahrner, Sexualstörungen, 2004, 153, 180,
181).
14 Während notwendige Krankenbehandlung des Transsexualismus auf psychischer Ebene
nach den allgemeinen Grundsätzen zur Ermöglichung und Stützung eines Lebens im
anderen Geschlecht ohne somatische Maßnahmen unproblematisch von § 27 Abs 1 S 1
SGB V erfasst ist, versteht sich dies für hormonelle Behandlungen bis hin zur
weitgehenden operativen Geschlechtsangleichung nicht in gleicher Weise beinahe von
selbst. Der erkennende Senat erachtet dennoch solche Ansprüche weiterhin für möglich.
15 Die ständige Rechtsprechung des für diese Frage allein zuständigen erkennenden Senats
verneint grundsätzlich eine Behandlungsbedürftigkeit psychischer Krankheiten mittels
angestrebter körperlicher Eingriffe, wenn diese Maßnahmen nicht durch körperliche
Fehlfunktionen oder durch Entstellung, also nicht durch einen regelwidrigen
Körperzustand veranlasst werden (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 13 -
Zisidentität; BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 16; BSGE 93, 252 = SozR 4-
2500 § 27 Nr 3, RdNr 5; BSGE 82, 158, 163 f = SozR 3-2500 § 39 Nr 5 S 29 f, jeweils
mwN). In Bezug auf Operationen am - krankenversicherungsrechtlich betrachtet -
gesunden Körper, die psychische Leiden beeinflussen sollen, lässt sich ausgehend von
der aufgezeigten Rechtsprechung grundsätzlich eine Behandlungsbedürftigkeit nicht
begründen (näher dazu BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 13 mwN - Zisidentität).
16 Auch allein das subjektive Empfinden eines Versicherten vermag die Regelwidrigkeit und
die daraus abgeleitete Behandlungsbedürftigkeit seines Zustandes nicht zu bestimmen.
Maßgeblich sind vielmehr objektive Kriterien, nämlich der allgemein anerkannte Stand der
medizinischen Erkenntnisse (§ 2 Abs 1 S 3, § 28 Abs 1 S 1 SGB V; vgl zur Gesetz- und
Verfassungsmäßigkeit BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 23 mwN) und - bei
der Frage, ob eine Entstellung besteht - der objektive Zustand einer körperlichen
Auffälligkeit von so beachtlicher Erheblichkeit, dass sie die Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft gefährdet (BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14 LS und RdNr 13 f).
Andernfalls würde der Krankheitsbegriff über Gebühr relativiert und an Konturen verlieren.
Es würde nicht gezielt gegen die eigentliche Krankheit selbst vorgegangen, sondern nur
mittelbar die Besserung eines an sich einem anderen Bereich zugehörigen
gesundheitlichen Defizits angestrebt (vgl zum Ganzen BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr
14 mwN - Zisidentität). Daran hält der Senat fest.
17 Der Senat hat allerdings bisher unter Hinweis auf die Regelungen des TSG eine
Ausnahme von den dargestellten Grundsätzen in dem hier betroffenen Bereich im Falle
einer besonders tief greifenden Form des Transsexualismus gemacht. Er hat in diesen
Fällen einen Anspruch auf medizinisch indizierte Hormonbehandlung und
geschlechtsangleichende Operationen bejaht (vgl zum Ganzen BSG SozR 4-2500 § 27 Nr
20 RdNr 15 - Zisidentität), zugleich aber auch - neben § 27 Abs 1 S 1 SGB V - dem
Regelungskonzept des TSG Grenzen der Reichweite des Anspruchs auf
Krankenbehandlung entnommen (vgl BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 17 -
Zisidentität). Die Ansprüche auf geschlechtsangleichende Operationen sind danach
beschränkt auf einen Zustand, bei dem aus der Sicht eines verständigen Betrachters eine
deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts eintritt (vgl BSG
SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 15 unter Hinweis ua auf § 8 Abs 1 Nr 4 TSG).
18 Der erkennende Senat führt seine Rechtsprechung im Kern trotz der Entscheidung des
BVerfG fort, § 8 Abs 1 Nr 4 TSG mit Art 2 Abs 1 und Art 2 Abs 2 iVm Art 1 Abs 1 GG für
nicht vereinbar und bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung für nicht
anwendbar zu erklären (vgl BVerfGE 128, 109 = NJW 2011, 909). Das BVerfG zielt mit
seiner Entscheidung nämlich nur darauf ab, Transsexuelle vor unverhältnismäßigen
Belastungen zu schützen. Es sieht - nach näherer Maßgabe der Entscheidungsgründe -
die von § 8 Abs 1 Nr 4 TSG zum Erreichen personenstandsrechtlicher Änderungen
zwingend vorgegebene deutliche Annäherung der transsexuellen Person an die
körperliche Erscheinung des angestrebten anderen Geschlechts im Sinne einer
genitalverändernden Operation angesichts der damit verbundenen gesundheitlichen
Risiken als unzumutbar an. Es ist danach unzumutbar, von einem Transsexuellen zu
verlangen, dass er sich derartigen risikoreichen, mit möglicherweise dauerhaften
gesundheitlichen Schädigungen und Beeinträchtigungen verbundenen Operationen
unterzieht, wenn sie medizinisch nicht indiziert sind, um damit die Ernsthaftigkeit und
Dauerhaftigkeit seiner Transsexualität unter Beweis zu stellen und die
personenstandsrechtliche Anerkennung im empfundenen Geschlecht zu erhalten
(BVerfGE 128, 109, 131 f = NJW 2011, 909, RdNr 70). Die operativen Eingriffe als solche
stellen dagegen bei wirksamer Einwilligung des Transsexuellen keinen Verstoß gegen
seine Menschenwürde, sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das
Sittengesetz dar (vgl zu Letzterem bereits BVerfGE 49, 286, 299 f). Unverändert kann bei
Transsexuellen eine Operation zur Herbeiführung einer deutlichen Annäherung an das
Erscheinungsbild des anderen Geschlechts eine gebotene medizinische Maßnahme sein
(BVerfGE 128, 109, 132 = NJW 2011, 909, RdNr 66; vgl auch zur Gesetzesentwicklung
und zu § 116b Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst i SGB V idF des GKV-VStG oben II 1 a).
19 c) Ein Anspruch Versicherter auf geschlechtsangleichende Operationen am -
krankenversicherungsrechtlich betrachtet - gesunden Körper zur Behandlung des
Transsexualismus bedarf danach zunächst der medizinischen Indikation. Die
geschlechtsangleichende Operation muss zudem zur Behandlung erforderlich sein. Daran
fehlt es, wenn zum Erreichen der in § 27 Abs 1 S 1 SGB V genannten Therapieziele
Behandlungsmaßnahmen ausreichen, die ein Leben im anderen Geschlecht ohne
somatische Maßnahmen unterstützen oder sich auf hormonelle Behandlungen ohne
Operationen beschränken. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen kann nicht losgelöst von
der inneren Reichweite des Anspruchs überprüft werden (dazu 2.).
20 2. Die Reichweite des Anspruchs Transsexueller auf Krankenbehandlung (§ 27 Abs 1 S 1
SGB V) im Sinne von geschlechtsangleichender Behandlung kann nach der dargelegten
Rechtsprechung des BVerfG nicht mehr unter Rückgriff auf Wertungen des § 8 Abs 1 Nr 4
TSG eingegrenzt werden. Das Ausmaß des Anspruchs Transsexueller auf
geschlechtsangleichende Behandlung bestimmt sich nunmehr unter Einbeziehung der
Wertungen des § 116b Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst i SGB V idF des GKV-VStG auf der Basis
der allgemeinen und besonderen Voraussetzungen des Anspruchs auf
Krankenbehandlung (vgl dazu Hauck, NZS 2007, 461) nach den medizinischen Kriterien
des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse (dazu a). Für das
erforderliche Ausmaß der Behandlung ist dagegen nicht auf das Erscheinungsbild des
Betroffenen im gesellschaftlichen Alltag in dem Sinne abzustellen, dass dem Anspruch
bereits mit der Behebung einer Entstellung Genüge getan ist (dazu b).
21 a) Besteht eine Indikation für eine begehrte geschlechtsangleichende Operation
transsexueller Versicherter, bestimmen vornehmlich objektivierte medizinische Kriterien
das erforderliche Ausmaß. Hierbei ist vor allem die Zielsetzung der Therapie zu
berücksichtigen, den Leidensdruck der Betroffenen durch solche operativen Eingriffe zu
lindern, die darauf gerichtet sind, das körperlich bestehende Geschlecht dem
empfundenen Geschlecht anzunähern, es diesem näherungsweise anzupassen.
22 Die Begrenzung auf eine bloße Annäherung des körperlichen Erscheinungsbildes an das
gefühlte Geschlecht ergibt sich nicht nur aus den faktischen Schranken, die hormonelle
Therapie und plastische Chirurgie setzen. Die Einräumung von Ansprüchen für
transsexuelle Versicherte führen unverändert nicht dazu, Betroffenen Anspruch auf
jegliche Art von geschlechtsangleichenden operativen Maßnahmen im Sinne einer
optimalen Annäherung an ein vermeintliches Idealbild und ohne Einhaltung der durch das
Recht der GKV vorgegebenen allgemeinen Grenzen einzuräumen (vgl schon bisher BSG
SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 15 - Zisidentität; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3,
RdNr 11). Die Ansprüche sind vielmehr beschränkt auf einen Zustand, der aus der Sicht
eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des anderen Geschlechts deutlich
angenähert ist.
23 Der Anspruch auf Krankenbehandlung hat sich nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V iVm § 2 Abs 1
S 3, § 2 Abs 4, § 12 Abs 1 SGB V daran auszurichten, welche Behandlung unter
Beachtung des umfassenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit notwendig und
ausreichend ist, um das angestrebte, in § 27 Abs 1 S 1 SGB V bezeichnete
Behandlungsziel zu erreichen. Hierzu ist unter Berücksichtigung des allgemein
anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse nicht nur dem Grunde nach, wie
das LSG insoweit zutreffend ausgeführt hat, sondern auch dem Umfang nach zu ermitteln,
welche Reichweite der Therapie indiziert ist.
24 In Abkehr von den bisherigen Überlegungen, Transsexuellen zum Erreichen
personenstandsrechtlicher Änderungen nach § 8 Abs 1 Nr 4 TSG (bisherige Fassung)
eine genitalverändernde Operation abzuverlangen, können sich hierbei die gebotenen
individuellen operativen Therapieansätze lediglich auf MAP ohne genitalverändernde
Operationen beschränken. Denn neuere wissenschaftliche Erkenntnisse stützen die
Relativierung des Operationswunsches in seiner Bedeutung für Diagnose und Therapie
Transsexueller (vgl BVerfGE 128, 109 = NJW 2011, 909, RdNr 35 mwN). Insoweit muss
aber medizinisch abgeklärt sein, dass die begehrte Therapie - MAP - geeignet,
ausreichend und erforderlich, im Rahmen gleichwertiger Alternativen zudem im engeren
Sinne wirtschaftlich ist. Auch der Operationswunsch hinsichtlich einer MAP darf nicht eine
Lösungsschablone für etwa verborgene andere psychische Störungen oder Unbehagen
mit etablierten Geschlechtsrollenbildern sein, sondern muss aufgrund des
Transsexualismus indiziert sein.
25 Ist - wie hier - bereits eine genitalverändernde Operation durchgeführt worden, ist
vorbehaltlich besonderer Umstände eine erneute Prüfung entbehrlich, ob die Linderung
des aus dem Transsexualismus resultierenden psychischen Leidensdrucks allein durch
nicht operative Behandlungsmaßnahmen noch in ausreichendem Umfang möglich ist.
Dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG sind derartige besondere
Umstände nicht zu entnehmen. Davon zu unterscheiden ist die nach rechtlichen
Maßstäben zu beantwortende Frage, ob eine MAP im Sinne der Annäherung an das
Erscheinungsbild des angestrebten anderen Geschlechts noch objektiv erforderlich ist
(näher dazu unter II. 3.).
26 b) Der gegenüber der bisherigen Rechtslage geänderte rechtliche Ausgangspunkt des
Anspruchs Transsexueller auf geschlechtsangleichende Behandlung schließt es aus, die
Reichweite des Anspruchs primär anhand von Kriterien des Behandlungsanspruchs
wegen Entstellung zu umreißen. Eine Entstellung begründet einen Anspruch auf
Krankenbehandlung wegen einer körperlichen, nicht psychischen Krankheit (vgl zum
Ganzen grundlegend BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 13 f mwN). Innerer
Grund des Anspruchs Transsexueller auf geschlechtsangleichende Operationen ist es
dagegen nicht, eine Entstellung zu heilen oder zu lindern. Ein solcher Anspruch, der bei
Entstellung für alle Versicherte, auch für transsexuelle Versicherte besteht, bleibt hiervon
unberührt.
27 3. Das LSG-Urteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend. Es steht
nicht fest, dass die Klägerin einen Brustumfang hat, der eine MAP nicht mehr erforderlich
macht.
28 Ansprüche Transsexueller auf geschlechtsangleichende Behandlung im Sinne
medizinisch indizierter MAP sind zusätzlich durch das objektive Erscheinungsbild des
Brustumfangs begrenzt. Die hierdurch gezogenen Grenzen sind allerdings weiter, als sie
durch die oben dargelegte Rechtsprechung zur Entstellung gezogen sind. Wer als Mann-
zu-Frau-Transsexueller - etwa aufgrund einer Hormontherapie - einen Brustansatz
entwickelt hat, der die für konfektionierte Damenoberbekleidung vorgesehene Größe A
nach DIN EN 13402 bei erfolgter Ausatmung im Rahmen normaler Messung ohne weitere
Mittel voll ausfüllt, kann keine MAP beanspruchen (vgl zu DIN EN 13402:
Größenbezeichnung von Bekleidung (2001) http://www.beuth.de/langanzeige/DIN-EN-
13402-1/de/38031428). Das damit erreichte körperliche Erscheinungsbild bewegt sich
nämlich - trotz der großen Vielfalt der Phänotypen bei Männern und Frauen - in einem
unzweifelhaft geschlechtstypischen Bereich.
29 Die Grenze trägt auch dem Gleichbehandlungsgebot gemäß Art 3 Abs 1 GG Rechnung.
Die Grenzziehung vermeidet es, transsexuellen Versicherten einen umfassenden
leistungsrechtlichen Zugang zu kosmetischen Operationen zu eröffnen, der nicht
transsexuellen Versicherten von vornherein versperrt ist (vgl dazu zB BSGE 100, 119 =
SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 13 mwN).
30 Das LSG hat hierzu - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine Feststellungen
getroffen. Die Klägerin bestreitet die Entwicklung eines Brustansatzes, der nach den
dargelegten Kriterien einen Anspruch auf eine MAP ausschließt. Danach wird das LSG
festzustellen haben, dass die Klägerin keinen Brustansatz entwickelt hat, der nach den
dargelegten Kriterien einen Anspruch auf eine MAP ausschließt.
31 4. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.