Urteil des BSG vom 09.02.2000

BSG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, zustellung, berufungsfrist, behörde, taubheit, minderung, erwerbsfähigkeit, berufungsschrift, vertretung, empfangsbestätigung

Bundessozialgericht
Urteil vom 09.02.2000
Sozialgericht Stuttgart
Landessozialgericht Baden-Württemberg
Bundessozialgericht B 9 V 29/98 R
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Juni 1997
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-
Württemberg zurückverwiesen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG)
zu gewähren ist.
Der 1922 geborene und in Polen wohnhafte Kläger war Angehöriger der ehemaligen Deutschen Wehrmacht. Im August
1990 beantragte er die Gewährung von Beschädigtenversorgung, da seine Taubheit durch wehrdienstbedingte
Einwirkungen entstanden sei. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 27. Mai 1994 und
Widerspruchsbescheid vom 2. September 1994 ab. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Stuttgart (SG)
durch Urteil vom 28. Juni 1995 abgewiesen und das deutsche Generalkonsulat in Breslau um Zustellung ersucht.
Dieses übersandte aber trotz wiederholter Mahnung keine Zustellungsbescheinigung iS des § 14 Abs 4
Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG). Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit einem bei dem SG am 2. November
1995 eingegangenen Schreiben Berufung eingelegt. In der Berufungsschrift teilte er mit, er habe am 31. Juli 1995
durch das Generalkonsulat Breslau Nachricht von der Klageabweisung erhalten. Nach erneuter Beweisaufnahme
erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 30. September 1996 - unter Abänderung des Bescheides vom 27. Mai 1994 -
eine "Taubheit links nach Radikaloperation des linken Ohres" iS einer - einmalig abgrenzbaren - Verschlimmerung an.
Diese Schädigungsfolge bedinge jedoch keine Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 25 vH. Einen Abdruck
dieses Bescheides sandte der Beklagte unter Hinweis auf § 96 und § 153 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an das
Landessozialgericht (LSG). Mit Schreiben vom 14. März und 21. Mai 1997 wies dieses den Kläger darauf hin, daß die
Frist für die Einlegung der Berufung am 31. Oktober 1995 abgelaufen sei und das LSG unter bestimmten, hier in
Betracht kommenden Voraussetzungen die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückweisen
könne. Die Beteiligten hatten insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme.
Mit Beschluss vom 18. Juni 1997 verwarf das LSG die Berufung als unzulässig. Der Kläger habe die dreimonatige
Berufungsfrist versäumt. Da das Urteil des SG dem Kläger am 31. Juli 1995 zugestellt worden sei, sei die Frist am
31. Oktober 1995 und damit vor Eingang der Berufungsschrift abgelaufen. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand lägen nicht vor.
Auf die vom Senat zugelassene Revision rügt der Kläger als Verfahrensmangel, das LSG habe zu Unrecht das
erstinstanzliche Urteil als zugestellt und deshalb die Berufung als unzulässig angesehen. Das SG habe zwar das
Deutsche Generalkonsulat in Breslau um Zustellung ersucht. Der Zustellungsversuch sei aber fehlgeschlagen, denn
es fehle an der gemäß § 14 Abs 4 VwZG für den Nachweis der Zustellung erforderlichen Bescheinigung der ersuchten
Behörde. Zudem habe das LSG durch Beschluss und nicht durch Urteil entschieden, obwohl die Voraussetzungen des
§ 153 Abs 4 SGG nicht vorgelegen hätten. Insbesondere hätte das LSG über den Verwaltungsakt des Beklagten vom
30. September 1996, der gemäß § 96, § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sei, nicht im
Beschlusswege und nicht ohne sachliche Prüfung entscheiden dürfen.
Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Juni 1997 sowie das Urteil des Sozialgerichts
Stuttgart vom 28. Juni 1995 und den Bescheid des Beklagten vom 27. Mai 1994 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 2. September 1994 aufzuheben und dem Kläger unter Abänderung des Bescheides des
Beklagten vom 30. September 1996 Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von 30 vH
ab 1. August 1990 zu gewähren, hilfsweise, den Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18.
Juni 1997 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124
Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 158 Satz 3 iVm § 160 Abs 1 SGG). Der Kläger hat sie form- und
fristgerecht eingelegt und begründet.
Im Hilfsantrag erweist sie sich auch als begründet. Der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat zu den umstrittenen tatsächlichen Fragen
keinerlei Feststellungen getroffen. Das war aber notwendig, da die Berufung - entgegen der Ansicht des LSG -
zulässig, insbesondere rechtzeitig eingelegt war, und somit - wie die vor dem LSG gemäß § 153 Abs 1 iVm § 96 SGG
anhängige Klage gegen den Bescheid vom 30. September 1996 - eine Entscheidung in der Sache erforderte. Da es
dem Senat verwehrt ist, eigene tatsächliche Feststellungen zu treffen (§ 163 SGG), kann er über den Rechtsstreit
nicht selbst abschließend entscheiden. Außerdem rügt die Revision zu Recht, daß das LSG über die Berufung nicht
hätte durch Beschluss entscheiden dürfen, denn weder die Voraussetzungen des § 158 Satz 2 SGG noch die des §
153 Abs 4 SGG waren erfüllt.
Das LSG hat verfahrensfehlerhaft die Berufung als unzulässig zurückgewiesen, anstatt eine Sachentscheidung zu
treffen. Darin liegt ein Verfahrensfehler (vgl BSGE 34, 236, 237; 39, 200, 201; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, RdNr
16a zu § 160). Auf diesem Verfahrensfehler beruht die Entscheidung des LSG auch, wie sich bereits aus ihrem Tenor
ergibt. Entgegen der Ansicht des LSG hatte der Kläger die Berufungsfrist nicht versäumt. Die Berufungsfrist wird
durch Zustellung des Urteils in Lauf gesetzt (§ 151 Abs 1 SGG). Sie beträgt - wovon das LSG zutreffend
ausgegangen ist - entgegen dem Wortlaut des § 151 Abs 1 SGG hier drei Monate, weil das angefochtene
sozialgerichtliche Urteil im Ausland zugestellt worden ist; das ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des §
87 Abs 1 Satz 2 SGG (BSG SozR § 151 Nr 11; SozR 1500 § 151 Nr 4). Diese Frist hat hier indessen nicht zu laufen
begonnen, weil das sozialgerichtliche Urteil nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist. Das SG hat die Zustellung
des Urteils vergebens durch Ersuchen des Deutschen Generalkonsulats in Breslau zu bewirken versucht. Diese Art
der Zustellung war an sich nach § 63 Abs 2 SGG iVm § 14 Abs 1 VwZG zulässig. Danach wird im Ausland entweder
mittels Ersuchen der zuständigen Behörde des fremden Staates oder der in diesem Staate befindlichen
konsularischen oder diplomatischen Vertretung des Bundes zugestellt. Nach § 14 Abs 4 VwZG wird die Zustellung
durch die Bescheinigung der ersuchten Behörde oder des ersuchten Beamten, daß zugestellt ist, nachgewiesen. Wie
sich aus den beigezogenen Akten des SG ergibt, hat das SG kein solches Zustellungszeugnis erhalten. Angesichts
der Formstrenge des Zustellungsverfahrens ist eine solche Bescheinigung aber unverzichtbar, der Beweis der
Zustellung kann nur mittels einer solchen Bescheinigung geführt werden (vgl BVerwG Urteil vom 20. Mai 1999, Az: 3
C 7/98; BFHE 179, 202, 205); denn diese dient ua dem Nachweis, daß die nach ausländischem Recht maßgebenden
Formalitäten bzw Gepflogenheiten der Zustellung beachtet sind. Nach § 9 Abs 2 VwZG sind Zustellungsmängel ua
dann nicht heilbar, wenn mit der Zustellung eine Berufungsfrist beginnt. So liegt der Fall hier. Die eigene Angabe des
Klägers, daß er das Urteil vom Generalkonsulat erhalten habe, ersetzt daher nicht die ordnungsgemäße Zustellung.
Unerheblich ist, inwieweit das Fehlen der Zustellungsbescheinigung darauf zurückzuführen ist, daß der Kläger keine
Empfangsbestätigung an das Generalkonsulat in Breslau gesandt hat. Denn es ist weder ersichtlich noch rechtlich
relevant (vgl BGH NJW 1978, 426), warum dies nicht geschehen ist.
Über die zulässige Berufung durfte das LSG nicht gemäß § 158 Satz 2 SGG durch Beschluss entscheiden. Für eine
Zurückweisung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG hätte es der Annahme des LSG bedurft, daß die Berufung
zulässig war, da eine Entscheidung nach dieser Bestimmung nur wegen Unbegründetheit erfolgen darf.
Ein zusätzlicher Verfahrensfehler lag darin, daß das LSG über den Bescheid des Beklagten vom 30. September 1996
nicht sachlich - nämlich überhaupt nicht - entschieden hat. Da das LSG diesen Bescheid weder im Tenor noch in den
Entscheidungsgründen, sondern nur im Tatbestand seines Beschlusses erwähnt, wollte es offenbar - trotz des
ausdrücklichen Hinweises des Beklagten auf § 96 und § 153 SGG - über ihn nicht mitentscheiden. Sollte das LSG
angenommen haben, eine Entscheidung insoweit sei deswegen nicht zu treffen gewesen, weil der Bescheid vom 30.
September 1996 - wegen der (vermeintlichen) Unzulässigkeit der Berufung - nicht Gegenstand des Verfahrens
geworden sei, so wäre dies rechtsirrig gewesen, da die Rechtswirkungen des § 96 SGG im 2. Rechtszug jedenfalls
dann nicht von der Zulässigkeit der Berufung abhängen, wenn - wie hier - der Zweitbescheid nach Einlegung der
Berufung ergangen ist (§ 153 Abs 1 iVm § 96 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, RdNr 7 zu § 96 mwN). Daher war
das - vom Kläger auch gerügte - Unterbleiben einer (sachlichen) Entscheidung über den Bescheid vom 30. September
1996 verfahrensfehlerhaft und würde schon für sich genommen die Zurückverweisung des Rechtsstreits rechtfertigen
(vgl Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, RdNr 12 zur § 96; BSGE 4, 26; BSG Urteil vom 20. Juni 1989 Az 6 RKa 26/88 =
Arzt u R 1990, Nr 5, 29).
Auf die weitere Rüge der Revision, das LSG habe zu Unrecht über den Bescheid vom 30. September 1996 durch
Beschluss statt durch Urteil entschieden, ist hier nicht einzugehen, weil der angefochtene Beschluss dahin
auszulegen ist, daß das LSG über diesen Bescheid keine Entscheidung getroffen hat (vgl zu der von der Revision
insoweit aufgeworfenen verfahrensrechtlichen Frage Wickinghoff, SGb 1995, 59, 60 ff und LSG Baden-Württemberg,
Breithaupt 1998 S 761).
Bei der das Verfahren abschließenden Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu
entscheiden haben.