Urteil des BSG vom 10.12.2002

BSG: hilflosigkeit, kommunikation, wohnung, pflegezulage, fremder, zahl, nahrung, körperpflege, ernährung, versorgung

Bundessozialgericht
Urteil vom 10.12.2002
Sozialgericht Lübeck
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 9 V 3/01 R
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Januar 2001
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin gemäß § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) für die Zeit ab
November 1998 Anspruch auf Gewährung einer Pflegezulage nach Stufe I hat.
Die 1928 geborene Klägerin wurde 1948 aus russischer Zwangsarbeit nach Deutschland entlassen. Zunächst erhielt
sie Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH. Zuletzt stellte der Beklagte mit Bescheid
vom 8. Januar 1996 ab 1. August 1989 unter Anerkennung folgender Schädigungsfolgen eine MdE um 80 vH fest:
1. Teilverlust der äußeren drei Langfinger der rechten Hand und Amputationsschwiele des Mittelfingers und
Kuppendefekt des Zeigefingers,
2. Neurodermitis,
3. Osteoporose der Wirbelsäule,
4. Zwerchfell-Rippenfellverlötung rechts,
5. chronifiziertes schweres depressives Syndrom mit psychosomatischen Störungen im Sinne einer chronifizierten
posttraumatischen Belastungsstörung,
und zwar zu 1. und 4. hervorgerufen, zu 2., 3. und 5. verschlimmert durch schädigende Einwirkungen im Sinne von §
1 BVG.
Den von der Klägerin am 23. Juni 1993 gestellten Antrag auf Gewährung einer Pflegezulage nach § 35 Abs 1 BVG
lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, der vorhandene Hilfebedarf werde im Wesentlichen durch
schädigungsunabhängige Leiden verursacht (Bescheid vom 31. Januar 1996, Widerspruchsbescheid vom 23. August
1996).
Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Lübeck (SG) den Beklagten durch Urteil vom 1. Dezember
1998 unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin ab 26. November 1998 Pflegezulage
nach Pflegestufe I zu gewähren. Die Klägerin habe einen täglichen schädigungsbedingten Hilfebedarf von mehr als
einer Stunde.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG
aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung seines Urteils vom 15. Januar 2001 hat es im Wesentlichen
ausgeführt: Bei der Klägerin liege keine Hilflosigkeit iS des § 35 Abs 1 BVG in seiner am 1. April 1995 in Kraft
getretenen Neufassung vor. Unter Beachtung der vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Rechtsgrundsätze sei
die Rechtsprechung zur Zuerkennung des Merkzeichens "H" nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG)
heranzuziehen. Danach seien sämtliche Verrichtungen des täglichen Lebens, die mit der Versorgung iS einer Wartung
und Pflege der betroffenen Personen unmittelbar zusammenhingen, zu berücksichtigen, während ein Hilfebedarf für
hauswirtschaftliche Verrichtungen bei der Beurteilung der Hilflosigkeit außer Betracht zu bleiben habe.
Unter Beachtung dieser rechtlichen Voraussetzungen bedürfe die Klägerin zwar für eine Reihe von wiederkehrenden
Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages dauernd fremder Hilfe. Nach
dem Gesamtergebnis des Verfahrens betrage der Bedarf der Klägerin an fremder Hilfe im täglichen Durchschnitt aber
nur wenig mehr als eine Stunde, nämlich für die Verrichtungen beim An- und Auskleiden täglich zwei Mal 5 Minuten,
für das Kämmen ca 6 Minuten, bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung zwei Mal 5 Minuten bzw drei Mal
täglich 3 Minuten, insgesamt 10 Minuten, für die Hilfe beim täglichen Baden und Eincremen zwei Mal 15 Minuten bzw
für das Baden 20 und für das Salben 10 Minuten (= täglich 30 Minuten). Für die notwendige Hilfe beim Verlassen und
Wiederaufsuchen der Wohnung, zB für Arzt- und Anwendungstermine, seien zunächst durchschnittlich am Tag 6
Minuten anzusetzen. Auch unabhängig davon sei für die erforderliche Kommunikation ein täglicher Bedarf von 10
Minuten zu beachten. Mithin ergebe sich ein täglicher Zeitaufwand an fremder Hilfe von 62 Minuten, der auch
schädigungsbedingt sei.
Dieser Zeitaufwand reiche für die Annahme von Hilflosigkeit iS des § 35 BVG nicht aus. Zwar habe sich das BSG
bislang nicht völlig klar und eindeutig zur zeitlichen Mindestgrenze des Hilfebedarfs erklärt. Aus seiner
Rechtsprechung gehe jedoch hervor, dass jedenfalls nicht hilflos sei, wer täglich nur in einem relativ geringem Umfang
von einer Stunde auf fremde Hilfe angewiesen sei. Das Erfordernis eines eine Stunde übersteigenden Hilfebedarfs sei
damit begründet worden, dass die Hilfe Dritter auch zeitlich in erheblichem Umfang erforderlich sein müsse. Dazu
zwinge die Höhe des Pauschbetrages in § 33b Abs 3 Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG). Mit 7.200 DM liege er
mehr als 2 ½ mal so hoch wie der Pauschbetrag für Behinderte mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100.
Dieser Begünstigungsumfang sei nur mit sprunghaft wachsenden außergewöhnlichen Belastungen zu erklären.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 35 BVG. Zur Begründung trägt sie ua vor: Das BSG habe
mit Urteil vom 2. Juli 1997 - 9 RV 15/95 - bezogen auf den Hilfebedarf von einer Mindestgrenze von einer Stunde
täglich gesprochen. Auch in seinem Urteil vom 10. September 1997 - 9 RV 8/96 - sei das BSG davon ausgegangen,
dass Hilflosigkeit nicht vorliege, wenn der Zeitaufwand für den Hilfebedarf unter einer Stunde täglich liege. Danach sei
sie als hilflos anzusehen. Bei der Festsetzung des Hilfebedarfs dürfe nicht von Durchschnittswerten ausgegangen
werden, vielmehr müsse der Zeitaufwand individuell ermittelt werden. Er betrage bei ihr deutlich mehr als täglich 62
Minuten. Im Übrigen sei sie seit 1995 in die Pflegstufe II nach dem Pflegeversicherungsgesetz eingestuft.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 15. Januar 2001 aufzuheben und die Berufung des Beklagten
gegen das Urteil des SG Lübeck vom 1. Dezember 1998 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend. Der vom LSG für die Klägerin ermittelte zeitliche Hilfebedarf liege
deutlich unter 2 Stunden und sei daher unter Berücksichtigung des Rundschreibens des Bundesministeriums für
Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 31. August 1998 - VI 5 -55463-5/1 (55492) - nicht erheblich.
II
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Die berufungs-gerichtlichen
Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um abschließend entscheiden zu können, ob der Klägerin die begehrte
Pflegezulage zusteht.
Gemäß § 35 Abs 1 Satz 1 BVG hat ein Beschädigter, solange er infolge der Schädigung hilflos ist, Anspruch auf
Zahlung einer monatlichen Pflegezulage der Stufe I. Hilflos iS des Satzes 1 ist der Beschädigte, wenn er für eine
Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im
Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf (§ 35 Abs 1 Satz 2 BVG). Diese Voraussetzungen sind nach
Satz 3 dieser Bestimmung auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung zu den in Satz 2
genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine
ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist.
35 Abs 1 BVG ist seit dem 1. April 1995 mehrfach neu gefasst worden. Das ist hier jedoch nicht rechtserheblich, denn
der Maßstab für den Inhalt des Begriffs "hilflos" hat sich dadurch nicht geändert. Erforderlich ist stets, dass die
anerkannten Schädigungsfolgen jedenfalls eine annähernd gleichwertige Mitursache für den Gesamtzustand bilden,
der bei der Prüfung von Hilflosigkeit von Bedeutung ist (vgl insoweit bereits BSGE 41, 80, 83 f = SozR 3100 § 35 Nr
2). Diese Voraussetzung hat das LSG unter Berufung auf die im Verfahren gehörten drei Sachverständigen
unangegriffen und damit bindend (§ 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) bejaht.
Zu den von § 35 Abs 1 BVG erfassten Verrichtungen zählt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl zB
BSG, Urteil vom 2. Juli 1997 in SozR 3-3100 § 35 Nr 6) nicht der Hilfebedarf bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen.
Solche Verrichtungen haben für die Beurteilung, ob bei der Klägerin Hilflosigkeit vorliegt, deshalb außer Betracht zu
bleiben. Bei den zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf des täglichen Lebens
unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und
regelmäßig wiederkehren (vgl dazu auch Bürck, ZfS 1998, 97, 100). Dazu zählen zunächst die auch von der
Pflegeversicherung (vgl § 14 Abs 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI)) erfassten Bereiche der Körperpflege
(Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentlehrung), Ernährung
(mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden,
Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Hinzu kommen nach der
Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 72, 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6; ähnlich auch Nr 21 Abs 3 der Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG, hrsg vom BMA, 1996
(AHP 1996)) Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistige Anregungen und Kommunikation (Sehen, Hören,
Sprechen und Fähigkeit zu Interaktionen).
Das LSG hat sich bei seinen Feststellungen zum Hilfebedarf der Klägerin im Wesentlichen an diesen Vorgaben
orientiert. Im Einzelnen hat es als täglichen Zeitaufwand für Hilfe beim An- und Auskleiden zwei Mal 5 Minuten (= 10
Minuten), bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung zwei Mal 5 Minuten bzw drei Mal ca 3 Minuten (insgesamt
jedenfalls 10 Minuten), beim Baden und Eincremen zwei Mal täglich 15 Minuten bzw beim Baden ein Mal 20 Minuten
und beim Eincremen ein Mal 10 Minuten (= 30 Minuten) sowie beim Kämmen zwei Mal 3 Minuten (= 6 Minuten) als
erforderlich angesehen. Hinzu kommt nach der Beurteilung des LSG die notwendige Hilfe beim Verlassen und
Wiederaufsuchen der Wohnung, wobei die Vorinstanz pro Woche von zweimaligen Begleitungen zu Arzt- und
Anwendungsterminen mit einem Zeitaufwand von jeweils 15 Minuten (= 30 Minuten/Woche) ausgeht und daraus einen
täglichen Hilfebedarf von durchschnittlich 6 Minuten errechnet. Diese Vorgehensweise ist zum Einen deshalb
bedenklich, weil ein Hilfebedarf, der nicht im Ablauf eines jeden Tages auftritt, nach der ausdrücklichen gesetzlichen
Bestimmung des § 35 Abs 1 Satz 2 BVG nicht berücksichtigungsfähig ist. Zum Anderen scheint das
Berufungsgericht insoweit nur die tatsächlichen Gepflogenheiten der Klägerin im Zeitpunkt der gutachterlichen
Untersuchungen im Auge gehabt zu haben, jedoch nicht deren tatsächlichen Bedarf an Mobilität außerhalb der
Wohnung. Insoweit hätte geprüft werden müssen, ob die Klägerin nicht auch an anderen Tagen der Woche ein
berechtigtes Interesse hat, ihre Wohnung zu verlassen, auch wenn dieses Bedürfnis bislang noch nicht hinreichend
befriedigt werden konnte.
Ähnlich verhält es sich mit den Feststellungen des LSG zum Bereich der geistigen Anregung und Kommunikation.
Insoweit ist es insbesondere erforderlich, den individuellen Bedarf an Kommunikation innerhalb und außerhalb der
Wohnung sowie die dabei erforderliche fremde Hilfe zu ermitteln. Hier ist etwa zu denken an Besuche bei Bekannten
und, soweit gesundheitlich möglich, auch an den Besuch gesellschaftlicher, politischer, sportlicher oder kultureller
oder anderer, den Hilfsbedürftigen interessierender Veranstaltungen. Die jeweils vorhandenen Bedürfnisse und deren
Befriedigungsmöglichkeiten müssen im Einzelfall nach Inhalt und Umfang sowie nach zeitlicher Dauer und Lage im
Tagesablauf festgestellt werden. Daran fehlt es hier. Das LSG hat lediglich ohne nähere Begründung festgestellt, dass
für die notwendige Kommunikation der Klägerin ein täglicher Bedarf von zwei Mal 5 Minuten (= 10 Minuten) zu
beachten sei. Gerade im Hinblick auf die psychische Erkrankung der Klägerin hätte es im vorliegenden Fall näherer
Ausführungen dazu bedurft, in welchem Umfang sie zur geistigen Anregung und Kommunikation fremder Hilfe bedarf.
Weitere Feststellungen des LSG zu dem genannten Verrichtungsbereich sind hier nicht etwa deshalb entbehrlich, weil
der vom LSG festgestellte und vom Beklagten insoweit auch nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffene
(vgl § 163 SGG) Umfang des Hilfebedarfs der Klägerin von etwas mehr als einer Stunde am Tag bereits ausreichen
würde, um Hilflosigkeit iS von § 35 Abs 1 BVG zu bejahen. Dabei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
Zunächst kann eine "bei einer Reihe von Verrichtungen" wiederkehrende Hilfe regelmäßig erst dann angenommen
werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl BSG
SozR 3-3100 § 35 Nr 6; Urteil vom 2. Juli 1997 - 9 RVs 9/96 in VersorgVerw 1997, 94; vgl auch BT-Drucks 12/5262 S
164) ist darüber hinaus ein Hilfebedarf erheblichen Umfangs erforderlich. Dies richtet sich nach dem Verhältnis der
dem Beschädigten ohne fremde Hilfe nicht mehr möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe
noch bewältigen kann. In der Regel wird dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und
den zeitlichen Aufwand abzustellen sein.
Mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in der sozialen Pflegeversicherung (vgl § 15 SGB XI) hält es der erkennende
Senat für sachgerecht, die Erheblichkeit des Hilfebedarfs in erster Linie nach dem täglichen Zeitaufwand für
erforderliche Betreuungsleistungen zu beurteilen. Dazu hat er bereits entschieden, dass derjenige nicht iS von § 35
BVG bzw § 33b EStG hilflos ist, der nur in relativ geringem Umfange, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe
angewiesen ist (vgl BSGE 67, 204, 207 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 12; BSG SozR 3-3100 §
35 Nr 6; Senatsurteil vom 10. September 1997 - 9 RV 8/96 -). Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass bei einem
Überschreiten dieser Mindestgrenze in jedem Fall Hilflosigkeit zu bejahen ist. Vielmehr sieht der Senat einen täglichen
Zeitaufwand - für sich genommen - erst dann als hinreichend erheblich an, wenn er mindestens zwei Stunden erreicht.
Diese Grenzziehung soll den Bedürfnissen der Praxis Rechnung tragen (vgl dazu auch das Rundschreiben des BMA
vom 31. August 1998 - VI 5-55463-5/1 (55492)); sie ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Da die Begriffe der Pflegebedürftigkeit (vgl §§ 14, 15 SGB XI) und der Hilflosigkeit (vgl § 35 BVG, § 33b EStG) nicht
völlig übereinstimmen (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 12), können im vorliegenden Zusammenhang die zeitlichen
Grenzwerte der sozialen Pflegeversicherung zwar nicht unmittelbar übernommen werden, sie lassen sich jedoch als
gewisse Orientierungspunkte nutzen. Immerhin decken sich die von beiden Begriffen erfassten Verrichtungsbereiche
insoweit, als es die sog Grundpflege (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) betrifft. Im Rahmen des § 35 BVG
kommt noch der Bereich der geistigen Anregung und Kommunikation hinzu, außerdem sind hier - anders als
grundsätzlich in der Pflegeversicherung (vgl BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 8) - auch Anleitung, Überwachung und
Bereitschaft zu berücksichtigen (vgl § 35 Abs 1 Satz 3 BVG). Da im Hinblick auf den insoweit erweiterten Maßstab
bei der Prüfung von Hilflosigkeit leichter ein größerer Zeitaufwand für fremde Betreuungsleistungen erreicht wird als im
Bereich der Grundpflege bei der Pflegeversicherung, liegt es nahe, hier von einer Zwei-Stunden-Grenze auszugehen,
was dem Grundpflegeerfordernis für die Pflegestufe II der Pflegeversicherung entspricht (vgl § 15 Abs 3 Nr 2 SGB XI).
Ein weiteres Argument für eine solche Grenzziehung lässt sich aus § 33b EStG gewinnen, der in seinem Abs 6 Satz
2 und 3 wörtlich mit § 35 Abs 1 Satz 2 und 3 BVG übereinstimmt. Die Höhe des durch diese Vorschrift dem
steuerpflichtigen behinderten Menschen gewährten Pauschbetrages von 7.200 DM bzw 3.700 EUR hebt sich
außerordentlich von dem Pauschbetrag ab, der behinderten Menschen mit einem GdB von 100 zusteht (1.420 EUR
bzw 2.760 DM). Dieser Begünstigungssprung ist nur bei Erforderlichkeit zeitaufwändiger und deshalb entsprechend
teurer Hilfeleistungen erklärbar und gerechtfertigt. Eine entsprechende Tendenz ergibt sich auch aus § 65 Abs 2 Satz
2 Einkommensteuerdurchführungsverordnung 2000 (BGBl I, 717), wonach der Nachweis von Hilflosigkeit nicht nur
durch einen Schwerbehindertenausweis mit eingetragenem Merkzeichen "H" erbracht werden kann, sondern auch
durch die Einstufung als Schwerstpflegebedürftiger in Pflegestufe III nach § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI. Da diese
Vorschrift lediglich alternative Nachweismöglichkeiten für Leistungen eröffnet, zwingt sie nicht dazu, den für die
Bejahung von Hilflosigkeit erforderlichen Zeitaufwand mit mehr als 2 Stunden anzusetzen.
Um den individuellen Verhältnissen des Beschädigten hinreichend Rechnung tragen zu können, erscheint es geboten,
bei der Beurteilung von Hilflosigkeit nicht allein auf den täglichen Betreuungsaufwand abzustellen. Vielmehr kommt
dabei auch weiteren Umständen der Hilfeleistung, insbesondere ihrem wirtschaftlichen Wert, Bedeutung zu. Dieser
Wert wird wesentlich durch die Zahl und die zeitliche Verteilung der Verrichtungen mitbestimmt, bei denen fremde
Hilfe erforderlich ist. Denn eine Hilfsperson kann regelmäßig nur für zusammenhängende Zeitabschnitte, nicht jedoch
für einzelne Handreichungen herangezogen bzw beschäftigt werden. Dieser Umstand rechtfertigt es, Hilflosigkeit iS
von § 35 BVG bereits bei einem täglichen Zeitaufwand für fremde Hilfe zwischen einer und zwei Stunden dann
anzunehmen, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege (wegen der Zahl der Verrichtungen bzw
ungünstiger zeitlicher Verteilung der Hilfeleistungen) besonders hoch ist.
Gemessen an diesen Kriterien reichen die Tatsachenfeststellungen des LSG zum Umfang des bei der Klägerin
erforderlichen Hilfebedarfs für eine Bejahung der Voraussetzungen des § 35 Abs 1 Satz 2 und 3 BVG nicht aus. Nach
der bisherigen Beurteilung der Vorinstanz liegt der Zeitaufwand für existenzsichernde Betreuung der Klägerin zwischen
einer und zwei Stunden. Damit kommt es auf die besonderen Umstände der Hilfeleistung, insbesondere ihren
wirtschaftlichen Wert an. Dazu fehlt es an berufungsgerichtlichen Feststellungen.
Da der erkennende Senat die nach alledem gebotenen weiteren Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst
durchführen kann (vgl § 163 SGG), ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG
zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG). In dem wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG
insbesondere den wirtschaftlichen Wert der erforderlichen Hilfeleistungen unter Berücksichtigung des Mobilitäts- und
Kommunikationsbedarfs der Klägerin ermitteln müssen. Dabei wird es sich auch damit auseinander zu setzen haben,
dass die Klägerin seit 1995 in die Pflegestufe II nach dem SGB XI eingestuft ist, dh nach den Feststellungen der
zuständigen Pflegekasse als Schwerpflegebedürftige täglich im Durchschnitt mindestens drei Stunden Pflegezeit,
davon zwei Stunden Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität), benötigt (vgl § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 2 iVm Abs 3
Nr 2 SGB XI).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.