Urteil des BSG vom 11.12.2008

BSG: gesetzlicher vertreter, jugendamt, eltern, unverschuldete verhinderung, eigenes verschulden, jugendhilfe, alter, pfleger, unterlassen, prozessfähigkeit

Bundessozialgericht
Urteil vom 11.12.2008
Sozialgericht Bayreuth S 10 VG 2/05
Bayerisches Landessozialgericht L 15 VG 1/06
Bundessozialgericht B 9/9a VG 1/07 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Februar 2007
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger auch schon für die Zeit vom 1.6.1997 bis 31.1.2000 Anspruch auf
Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG)
hat.
2
Der am 13.9.1990 geborene Kläger wurde in der Zeit von 1995 bis März 1998 ua von seinen leiblichen Eltern sexuell
missbraucht. Diese wurden deswegen zu einer Haftstrafe verurteilt.
3
Durch Beschluss vom 5.3.1998 entzog das Amtsgericht B. - Vormundschaftsgericht - (AG) den Eltern das Recht der
Aufenthaltsbestimmung sowie das Recht auf Beantragung von Leistungen nach dem SGB VIII (Kinder- und
Jugendhilfegesetz) für den Kläger und übertrug die entzogenen Rechte dem Kreisjugendamt B. als Pfleger. Außerdem
ordnete es ua an, dass die Eltern den Kläger dem Kreisjugendamt B. herauszugeben haben. Durch Beschluss des AG
vom 31.3.1999 wurde den Eltern die gesamte Personensorge entzogen; das Kreisjugendamt B. wurde insoweit zum
Pfleger bestellt.
4
Im Februar 2000 beantragte das Landratsamt B. - Kreisjugendamt - als gesetzlicher Vertreter des Klägers beim
Beklagten (Versorgungsamt B. ) die Gewährung von "Leistungen nach dem OEG". Dieser stellte daraufhin beim
Kläger als Folgen einer Schädigung nach dem OEG iVm dem BVG fest:
- ab 1.2.2000: "Sekundäre Enkopresis, emotionale und soziale Verunsicherung, dissoziales Verhalten, Angststörung"
im Sinne der Entstehung,
- ab 1.7.2002: "Emotionale und soziale Verunsicherung, Somatisationen" im Sinne der Entstehung.
Er bewertete die sich aus den Schädigungsfolgen ergebende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vom 1.2.2000 bis
30.6.2002 mit 40 vH und ab 1.7.2002 mit 30 vH. Dementsprechend gewährte er ab 1.2.2000 Beschädigtengrundrente
(Bescheide vom 3.6.2003 und 4.6.2003 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 4.2.2005).
5
Den auf einen früheren Leistungsbeginn gerichteten Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid
vom 21.3.2005). Zur Begründung führte er aus: Eine Rückwirkung der Leistungen über den Zeitpunkt der
Antragstellung hinaus sei nicht möglich. Es treffe zwar zu, dass das Opfer selbst nicht in der Lage gewesen sei, den
Antrag fristgemäß zu stellen. Das Jugendamt sei jedoch bereits am 5.3.1998 mit dem Recht der
Aufenthaltsbestimmung und der Beantragung von Leistungen nach dem SGB VIII betraut worden. Damit habe gemäß
§ 97 SGB VIII auch die Beantragung von Leistungen nach dem OEG zum Aufgabenbereich des Jugendamts gehört.
6
Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat die Klage mit im Wesentlichen ähnlicher Begründung abgewiesen
(Gerichtsbescheid vom 1.2.2006 in der Gestalt des Berichtigungsbeschlusses vom 21.12.2006).
7
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 13.2.2007). Es
hat ua ausgeführt: § 97 SGB VIII stünde im Spannungsverhältnis zur Antragsbefugnis nach § 1 Abs 1 OEG iVm § 60
Abs 1 Sätze 1 bis 3 BVG. Hier stünden sich das Kreisjugendamt als Träger der Kinder- und Jugendhilfe und als
personensorgeberechtigter gesetzlicher Vertreter des Klägers in Personalunion gegenüber. Entsprechende
Versorgungsleistungen nach dem OEG hätten bereits nach dem Beschluss vom 5.3.1998 geltend gemacht werden
können. Denn der erstattungsberechtigte Jugendhilfeträger hätte als Prozessstandschafter des eigentlich Berechtigten
auftreten und ein Verfahren nach § 97 SGB VIII betreiben können.
8
Das Landratsamt Bamberg - Jugendamt - hat am 24.4.2007 für den Kläger Revision eingelegt und begründet. Es hat
am 27.10.2008 mitgeteilt, dass es den Kläger seit der Vollendung des 18. Lebensjahres nicht mehr gesetzlich
vertrete. Der Senat hat daraufhin dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt und seinen Prozessbevollmächtigten
beigeordnet (Beschluss vom 27.11.2008).
9
Der Kläger rügt eine Verletzung des § 97 Satz 1 SGB VIII und des § 1909 Abs 1 BGB. Das Urteil des LSG habe im
Ergebnis zu seinen Lasten den durch Gerichtsbeschluss festgelegten Aufgabenbereich der Amtspflegschaft erweitert.
Dies widerspreche § 1909 Abs 1 Satz 1 BGB. Ein Jugendamt könne nur im Rahmen des gerichtlich festgelegten
Aufgabenbereichs unter Verdrängung der elterlichen Sorge einen Minderjährigen gesetzlich vertreten. Eine
Ausdehnung des Wirkungskreises einer Pflegschaft sei durch Vorschriften des öffentlichen Rechts, insbesondere §
97 Abs 1 SGB VIII, nicht möglich.
10
Der Kläger beantragt, das Urteil des Bayerischen LSG vom 13.2.2007 sowie den Gerichtsbescheid des SG Bayreuth
vom 1.2.2006 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 3.6.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 31.3.2005 zu verurteilen, ihm auch für die Zeit vom 1.6.1997 bis 31.1.2000
Beschädigtengrundrente nach dem OEG zu gewähren.
11
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
12
Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
II
13
1. Die am 24.4.2007 vom Jugendamt eingelegte und begründete Revision ist zulässig. Dieses war als damaliger
Amtspfleger an Stelle der Eltern gesetzlicher Vertreter des zu diesem Zeitpunkt noch minderjährigen Klägers (§§ 2,
1626, 1629, 1793, 1915 BGB; § 55 SGB VIII). Als solcher konnte das Jugendamt im Namen des Klägers die Revision
wirksam beim BSG einlegen und begründen (§ 164 Abs 1 und Abs 2 SGG). Diese Prozesshandlungen unterlagen
nach den zum Zeitpunkt der Revisionseinlegung und Revisionsbegründung geltenden prozessrechtlichen Vorschriften
nicht dem Vertretungszwang (§ 166 Abs 1 SGG in der bis zum 30.6.2008 geltenden Fassung), denn dieser galt nicht
für "Behörden".
14
Das Privileg von Behörden, von Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, sich vor dem
Bundessozialgericht (BSG) selbst zu vertreten, beruht auf dem besonderen Status als Träger öffentlicher Verwaltung.
Diesen Status hat eine Behörde auch dann, wenn sie einen Beteiligten im Rahmen ihrer Aufgaben als Amtspfleger
gesetzlich vertritt (so schon zum Amtsvormund BSGE 3, 121, 122 f, und zum Amtspfleger BSGE 36, 234, 235); denn
auch insoweit handelt das Jugendamt nicht als gewillkürter Vertreter, sondern nimmt eine ihm übertragene Aufgabe
der öffentlichen Verwaltung, nämlich der Jugendhilfe, wahr (vgl § 2 Abs 3 Nr 11, § 55 Abs 1 SGB VIII).
15
Der gesetzlichen Vertretung durch das Jugendamt steht auch nicht entgegen, dass der Kläger im Zeitpunkt der
Revisionseinlegung als über 15jähriger iS von § 36 Abs 1 SGB I sozialrechtlich handlungsfähig und damit auch
prozessfähig iS von § 71 Abs 2 SGG war. Die ältere Rechtsprechung des BSG (vgl Beschluss vom 28.1.1959, SozR
Nr 2 zu § 71 SGG; Beschluss vom 6.4.1967, SozR Nr 34 zu § 166 SGG), wonach eine solche beschränkte
Prozessfähigkeit die auf Gesetz beruhende Vertretungsmacht des Jugendamts ausschließt, ist überholt, denn sie
beruhte auf der Auslegung und Anwendung zwischenzeitlich außer Kraft getretenen Rechts (nämlich auf den - in den
zitierten Entscheidungen allerdings nicht genannten - § 1546 Abs 1 Satz 3, § 1613 Abs 6
Reichsversicherungsordnung). Zur Anwendung und Auslegung des nunmehr geltenden § 36 Abs 1 Satz 1 SGB I hat
der Senat bereits mit Urteil vom 28.4.2005 (B 9a/9 VG 1/04 R, BSGE 94, 282 = SozR 4-3800 § 1 Nr 8, jeweils RdNr 6)
entschieden, dass die daraus folgende Handlungsfähigkeit die Befugnisse gesetzlicher Vertreter nicht völlig verdrängt,
sondern ergänzend neben die gesetzliche Vertretungsmacht tritt, mit der Folge, dass das Jugendamt für einen
"passiven" Jugendlichen im Alter von zumindest 15 Jahren uneingeschränkt Sozialleistungsanträge stellen und
(gerichtlich) verfolgen kann. Die partielle Prozessfähigkeit dieser Personen (§ 71 Abs 2 SGG iVm § 36 Abs 1 Satz 1
SGB I) betrifft also nur deren eigene Prozesshandlungen.
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2. Die Revision ist insoweit begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Ob dem Kläger auch für die Zeit
vom 1.6.1997 bis 31.1.2000 Beschädigtengrundrente nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG iVm § 31 Abs 1 BVG zusteht, kann
der Senat wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen.
17
Ein Anspruch auf Entschädigung (Versorgung) nach dem OEG setzt nach dessen § 1 Abs 1 Satz 1 allgemein voraus,
dass eine natürliche Person ("wer") im (räumlichen) Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen,
rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Außerdem ist ein wirksamer Antrag ("auf
Antrag") weitere materiell-rechtliche Voraussetzung (zu den allgemeinen Leistungsvoraussetzungen für eine
Entschädigung nach dem OEG zuletzt BSG, Urteil vom 8.11.2007 - B 9/9a VG 3/05 R - Breithaupt 2008, 507, auch
zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
18
Der Leistungsbeginn der Beschädigtenversorgung - hier der Beschädigtengrundrente - ist in § 60 Abs 1 BVG geregelt
(zum Konzept des § 60 Abs 1 BVG: BSGE 92, 34 = SozR 4-3100 § 60 Nr 1, jeweils RdNr 20; vgl auch BSG SozR 3-
3100 § 60 Nr 3 S 4; BSGE 94, 282 = SozR 4-3800 § 1 Nr 8, jeweils RdNr 5). Diese Vorschrift ist nach § 1 Abs 1 Satz
1 OEG auf die Opferentschädigung entsprechend anwendbar.
19
Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG iVm § 60 Abs 1 Satz 1 BVG beginnt auch bei Opfern von Gewalttaten die
Beschädigtenversorgung (hier die Beschädigtengrundrente) im Grundsatz mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen
materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Ausnahmsweise eröffnet § 60 Abs 1 Satz 2 BVG eine
Rückwirkung, wenn der Antrag binnen Jahresfrist nach dem Eintritt der Schädigung gestellt wird. Die Jahresfrist wird
nach § 60 Abs 1 Satz 3 BVG wiederum (in die Vergangenheit hinein) um den Zeitraum verlängert, in dem eine
unverschuldete Verhinderung der Antragstellung vorlag. Ihrer Wirkung nach verschafft die (verlängerte) Jahresfrist
eine Wiedereinsetzung in den Stand bei Eintritt der Schädigung. Entgegen der Auffassung des Beklagten und der
Vorinstanzen sind hier die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs 1 Satz 3 BVG gegeben,
denn der Kläger war vom Eintritt der Schädigung bis jedenfalls März 1999 ohne sein Verschulden gehindert, beim
Versorgungsamt Beschädigtengrundrente nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG iVm § 31 Abs 1 BVG zu beantragen.
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Ein eigenes Verschulden des Klägers in der Zeit vor der tatsächlichen Antragstellung im Februar 2000 scheidet schon
deshalb aus, weil dieser als damals unter 15jähriger noch nicht sozialrechtlich handlungsfähig (§ 36 Abs 1 SGB I) war
und deshalb keine rechtswirksamen Willenserklärungen abgeben, mithin auch keinen Antrag nach dem OEG stellen
konnte (zum Antrag als einseitige, empfangsbedürftige, öffentlich-rechtliche Willenserklärung stellvertretend BSG
SozR 3-1200 § 16 Nr 2 S 5; BSG SozR 4-1200 § 44 Nr 2 RdNr 23).
21
Der Kläger muss sich für die Zeit vor März 1999 auch nicht entsprechend der in § 27 Abs 1 Satz 2 SGB X getroffenen
Regelung sowie den zu § 67 Abs 1 SGG von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ein Verschulden seines
gesetzlichen Vertreters zurechnen lassen (vgl BSGE 59, 40, 41 f = SozR 3800 § 1 Nr 5 S 13; BSG SozR 3-3100 § 60
Nr 3 S 5; BSGE 94, 282 = SozR 4-3800 § 1 Nr 8, jeweils RdNr 6; zur Zurechnung des Verschuldens des gesetzlichen
Vertreters auch § 51 Abs 2 ZPO).
22
Gesetzliche Vertreter waren bis März 1998 allein die Eltern (§§ 1626, 1629 BGB) und ab diesem Zeitpunkt sowohl die
Eltern als auch das Jugendamt als Amtspfleger (§§ 1793, 1915 BGB). Den Eltern war die sich aus der elterlichen
Sorge (§ 1626 Abs 1 Satz 1 BGB) ergebende Personensorge (§ 1626 Abs 1 Satz 2 BGB) vom AG durch Beschluss
vom 5.3.1998 nach §§ 1666, 1666a BGB nur hinsichtlich des Rechts der Aufenthaltsbestimmung und des Rechts auf
Beantragung von Leistungen nach dem SGB VIII entzogen und insoweit dem Jugendamt als Ergänzungspfleger (§
1909 BGB; § 55 SGB VIII) übertragen worden. Nur für diese Angelegenheiten (diesen Wirkungskreis) war das
Jugendamt damit gesetzlicher Vertreter. Die übrigen sich aus der Personensorge und der Vermögenssorge
ergebenden Rechte und Pflichten blieben bei den Eltern; für diese Angelegenheiten waren diese nach wie vor
gesetzlicher Vertreter des Klägers. Erst durch Beschluss des AG vom 31.3.1999 wurde dem Jugendamt als
Amtspfleger der Wirkungskreis der gesamten Personensorge für den Kläger übertragen.
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Dass es die Eltern als im streitigen Zeitraum gesetzliche Vertreter des Klägers pflichtwidrig unterlassen haben,
rechtzeitig für diesen beim zuständigen Versorgungsamt einen Antrag auf Beschädigtengrundrente nach dem OEG
iVm dem BVG zu stellen, kann dem Kläger nicht als Verschulden zugerechnet werden. Dies hat das BSG bereits in
ständiger Rechtsprechung entschieden (vgl BSGE 59, 40, 42 = SozR 3800 § 1 Nr 5 S 13; BSGE 94, 282 = SozR 4-
3800 § 1 Nr 8, jeweils RdNr 8 f). Denn es darf sich nicht nachteilig auf den Versorgungsanspruch des minderjährigen
Gewaltopfers auswirken, dass sein gesetzlicher Vertreter den Widerspruch zwischen seinen Eigeninteressen (als
Täter unentdeckt zu bleiben) und den Interessen des von ihm gesetzlich Vertretenen zu dessen Lasten löst.
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Wegen des beschränkten Umfangs der ihm übertragenen Personensorge und damit seiner Vertretungsbefugnis konnte
das Jugendamt als Amtspfleger in der Zeit vom Eintritt der Schädigung bis März 1999 für den Kläger keinen
rechtswirksamen Antrag nach dem OEG stellen. Entgegen der Auffassung des Beklagten und der Vorinstanzen darf
es dem Kläger auch nicht als Verschulden seines gesetzlichen Vertreters zugerechnet werden, dass es das
Jugendamt in der Zeit von März 1998 bis März 1999 unterlassen hat, nach § 97 Satz 1 SGB VIII beim zuständigen
Versorgungsamt einen Antrag auf Beschädigtengrundrente zu stellen. Denn die sich aus dieser gesetzlichen
Bestimmung ergebende Antragsbefugnis des Jugendamtes wurde nicht von dem konkreten Wirkungskreis der
seinerzeit bestehenden Amtspflegschaft (§ 55 SGB VIII), also auch nicht von der gesetzlichen Vertretung (§§ 1793,
1915 BGB) umfasst.
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Dem Jugendamt war vom Vormundschaftsgericht mit Beschluss vom 5.3.1998 - abgesehen von dem Recht der
Aufenthaltsbestimmung - nur die Aufgabe übertragen worden, als personensorgeberechtigter Pfleger und damit als
gesetzlicher Vertreter im Namen und Interesse des Klägers Anträge auf Leistungen nach dem SGB VIII zu stellen,
also für diesen ein Verwaltungsverfahren im Rahmen der Jugendhilfe einzuleiten. Leistungen der Jugendhilfe sind
nach § 2 Abs 2 SGB VIII die im Zweiten Kapitel des SGB VIII geregelten Leistungen (§ 11 bis § 41). Dazu gehört zB
die Befugnis, Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (§§ 27, 33 SGB VIII), also die Unterbringung in einer Pflegefamilie
beantragen zu können. Darunter fällt jedoch nicht die Befugnis des Jugendamts, nach § 97 Satz 1 SGB VIII beim
zuständigen Versorgungsamt ein Verwaltungsverfahren zur Feststellung einer Leistungspflicht nach dem OEG
einzuleiten. Diese im Achten Kapitel "Kostenbeteiligung" des SGB VIII geregelte Befugnis steht dem Jugendamt nur
als erstattungsberechtigter Leistungsträger zu und bezieht sich darauf, im eigenen Interesse und im eigenen Namen
gegenüber einem anderen Leistungsträger ein fremdes Recht geltend zu machen, nämlich die Feststellung einer
(anderen) Sozialleistung zu betreiben und (als gesetzlicher Prozessstandschafter des eigentlich Berechtigten) gegen
eine ablehnende Entscheidung Rechtsmittel einzulegen (zu § 97 SGB VIII: BSG, Urteil vom 15.2.2000 - B 11 AL
73/99 R, veröffentlicht in juris; zu § 82a JWG alter Fassung: BayVGH, VGHE BY 43, 63 = FamRZ 1990, 1007 =
FEVS 41, 4; zu § 91a BSHG alter Fassung: BSGE 70, 72, 75 f = SozR 3-5910 § 91a Nr 1 S 4 f; BSGE 80, 93, 94 =
SozR 3-2500 § 33 Nr 24 S 136; BSGE 82, 112, 116 f = SozR 3-5910 § 91a Nr 4 S 20 f; BSG SozR 3-5910 § 91a Nr 7
S 31 f).
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Die Befugnis des Jugendamts nach § 97 Satz 1 SGB VIII besteht somit unabhängig von den diesem im Rahmen der
gesetzlichen Vertretung übertragenen Aufgaben als Amtspfleger. Sie kann demnach für sich genommen keine
Verschuldenszurechnung zu Lasten des Klägers begründen. Die vom Beklagten und von den Vorinstanzen vertretene
Auffassung, die ab März 1998 bestehende, auf bestimmte Angelegenheiten beschränkte Ergänzungspflegschaft des
Jugendamtes habe im vorliegenden Fall (mittelbar) auch die Befugnis nach § 97 Satz 1 SGB VIII umfasst,
widerspricht dem Schutzzweck der gesetzlichen Vertretung. Dieser gebietet es, dem beschränkt geschäftsfähigen (§§
104 ff BGB) Minderjährigen das Handeln oder Unterlassen seines gesetzlichen Vertreters nur insoweit zuzurechnen,
als dessen Aufgaben- und Wirkungskreis reicht. Das Recht, als gesetzlicher Vertreter (Amtspfleger) im Namen des
Klägers für diesen beim zuständigen Versorgungsamt Beschädigtengrundrente beantragen zu können, wurde dem
Jugendamt vom AG erst mit Beschluss vom 31.3.1999 als Teil der umfassenden Personensorge übertragen.
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Da demnach der Kläger vom Eintritt der Schädigung bis März 1999 ohne Verschulden gehindert war,
Beschädigtenversorgung (hier Beschädigtengrundrente) zu beantragen, verlängert sich die Jahresfrist nach § 60 Abs 1
Satz 3 BVG um den Zeitraum der Verhinderung. Dies hat zur Folge, dass sich der Beginn der Jahresfrist des § 60
Abs 1 Satz 2 BVG "aufschiebt", diese also erst mit Ablauf des Verhinderungszeitraums zu laufen beginnt. Die
Antragstellung durch das Jugendamt als Amtspfleger und damit gesetzlicher Vertreter des Klägers im Februar 2000
erfolgte mithin noch innerhalb der verlängerten Jahresfrist, sodass dem Kläger vom Eintritt der Schädigung an ein
Anspruch auf Beschädigtengrundrente zusteht, sofern ab diesem Zeitpunkt Folgen der Schädigung mit einer MdE in
rentenberechtigender Höhe vorgelegen haben.
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Das LSG hat weder festgestellt, zu welchem genauen Zeitpunkt die Schädigung eingetreten ist, noch, ab welchem
genauen Zeitpunkt Folgen der Schädigung mit einer MdE um mindestens 25 vH (§ 30 Abs 1 Satz 2, § 31 Abs 1 BVG
damaliger Fassung) vorgelegen haben. Da der Senat die fehlenden Feststellungen im Revisionsverfahren nicht treffen
kann (vgl § 163 SGG), ist die Berufungsentscheidung aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§
170 Abs 2 Satz 2 SGG).
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3. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.