Urteil des BSG vom 06.02.2003

BSG: wartezeit, erfüllung, gleichbehandlung, luxemburg, gesetzesinitiative, gesetzesänderung, reform, gesetzesmaterialien, vergleich, grundrecht

Bundessozialgericht
Urteil vom 06.02.2003
Sozialgericht Trier S 2 RJ 123/01
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 2 RJ 247/01
Bundessozialgericht B 13 RJ 17/02 R
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. Februar 2002 wird
zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu
erstatten.
Gründe:
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Altersrente. Streitig ist insbesondere, ob die von ihm zur
landwirtschaftlichen Alterskasse entrichteten Beiträge auf die Wartezeit in der gesetzlichen Rentenversicherung
anrechenbar sind.
Den Antrag des Klägers auf Gewährung von Regelaltersrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. Januar 2001
und Widerspruchsbescheid vom 9. April 2001 ab, weil der Kläger zur deutschen Rentenversicherung der Arbeiter nur
fünf Monate Pflichtbeiträge entrichtet habe (Juli bis November 1970) und die Wartezeit gemäß § 50 Sozialgesetzbuch
- Sechstes Buch (SGB VI) selbst dann nicht erfüllt sei, wenn - entgegen Art 48 Abs 1 der Verordnung (EWG) Nr
1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 (EWGV 1408/71) - die vom Kläger in Luxemburg zurückgelegten 19 Monate
Rentenversicherungsbeitragszeiten mitberücksichtigt würden; eine Anrechnung von Beiträgen sonstiger
Alterssicherungssysteme (hier: Beiträge zur landwirtschaftlichen Alterskasse) sei im Gesetz nicht vorgesehen.
Das Sozialgericht (SG) hat die auf eine analoge Anwendung des § 17 Abs 1 Satz 2 Nr 1 des Gesetzes über die
Alterssicherung der Landwirte (ALG) gestützte Klage durch Gerichtsbescheid vom 22. August 2001 abgewiesen. Das
Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 20. Februar 2002 zurückgewiesen und zur
Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Es könne offen bleiben, ob der Anspruch des Klägers schon gemäß Art 48
Abs 1 EWGV 1408/71 ausgeschlossen sei, weil die in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten weniger als
ein Jahr betrügen. Jedenfalls fehle es an der nach § 35 Nr 2, § 50 Abs 1 SGB VI erforderlichen Erfüllung der
allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren. Nach § 51 Abs 1 SGB VI seien Kalendermonate mit Beitragszeiten auf die
allgemeine Wartezeit anrechenbar; Beitragszeiten seien nach § 55 Abs 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht
Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge entrichtet worden seien. An die landwirtschaftliche Alterskasse gezahlte
Beiträge seien keine zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichteten Beiträge; denn die durch das ALG geregelte
Altersversorgung der Landwirte stelle ein von der Rentenversicherung des SGB VI unabhängiges Versorgungssystem
dar. Für die vom Kläger geforderte analoge Anwendung des § 17 Abs 1 Satz 2 Nr 1 ALG sei - mangels
ausfüllungsbedürftiger Lücke im Gesetz - kein Raum. Dies ergebe sich insbesondere aus den Gesetzesmaterialien
zum Gesetz zur Reform der agrarsozialen Sicherung (ASRG) sowie der Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Reform der agrarsozialen Sicherung (ASRG-ÄndG) vom 15. Dezember 1995 (BGBl I S
1814, berichtigt BGBl 1996 I S 683). Ziel beider Gesetze sei es gewesen, insbesondere die eigenständige
Alterssicherung der Ehefrauen von Nebenerwerbslandwirten zu verbessern. Ein Verstoß gegen den
Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) könne nicht festgestellt werden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung allgemeiner Rechtsgrundsätze (analoge
Anwendung des § 17 Abs 1 Satz 2 Nr 1 ALG) sowie die Verletzung des Art 3 Abs 1 GG und führt zur Begründung
aus: Entgegen dem Vorläufer des ALG, dem Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte (GAL), handele es sich beim
ALG nicht mehr um ein Sonderrentenversicherungssystem, das ausschließlich sozial- und agrarpolitischen Zielen
diene und auf die Bedürfnisse der landwirtschaftlichen Bevölkerung zugeschnitten sei. Wesentliche Abweichungen
zum System der gesetzlichen Rentenversicherung bestünden nicht mehr; beide Systeme gewährten Leistungen unter
vergleichbarer Beitragslast. Die analoge Anwendung des § 17 Abs 1 Satz 2 Nr 1 ALG sei sowohl geboten, um eine
systemwidrige Lücke des Gesetzes zu schließen, als auch aus Gründen der Gleichbehandlung. Ein sachlicher Grund
zur Ungleichbehandlung bei der Berücksichtigung von Beitragszeiten zur Alterssicherung der Landwirte und von
Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung liege nicht vor.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz
vom 20. Februar 2002 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Trier vom 22. August 2001 aufzuheben und die
Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 25. Januar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.
April 2001 zu verurteilen, ihm Regelaltersrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung von
Regelaltersrente. Denn er erfüllt die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren gemäß § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 35 Nr 2
SGB VI nicht. Wie das LSG im angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt hat, sind die vom Kläger zur
Alterssicherung der Landwirte nach dem System des ALG entrichteten Beiträge nicht anrechenbar. Es handelt sich
insoweit nicht um Beitragszeiten iS des § 51 Abs 1 SGB VI.
Nach dem Zweiten Abschnitt, Zweiter Titel des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) unterscheidet das Gesetz
zwischen einzelnen Sozialleistungen sowie den für ihre Erbringung zuständigen Leistungsträgern (§§ 18 ff SGB I).
Nach § 23 Abs 1 SGB I wird für den Bereich "Rentenversicherung einschließlich der Alterssicherung der Landwirte"
unterschieden zwischen Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (Nr 1) und solchen in der Alterssicherung
der Landwirte (Nr 2). Das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ist im SGB VI geregelt, das der Alterssicherung
der Landwirte im ALG. Für letztere bestehen mit den landwirtschaftlichen Alterskassen gemäß § 23 Abs 2 Nr 4 SGB I
besondere Träger.
In der - vorliegend allein betroffenen - gesetzlichen Rentenversicherung werden auf die allgemeine Wartezeit des § 50
Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI gemäß § 51 Abs 1 SGB VI ua "Beitragszeiten" angerechnet. Beitragszeiten sind gemäß §
55 Abs 1 SGB VI Zeiten,
für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind;
für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten;
für die Entgeltpunkte gutgeschrieben worden sind, weil gleichzeitig Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung
oder Zeiten der Pflege eines pflegebedürftigen Kindes für mehrere Kinder vorliegen.
Allein im Streit ist, ob es sich bei den vom Kläger zur Alterssicherung der Landwirte entrichteten Beiträgen (auch) um
Pflichtbeiträge iS der Definition des § 55 Abs 1 Satz 1 SGB VI - obiger Spiegelstrich 1 - handelt. Dies hat das LSG
mit zutreffenden Gründen, die sich der erkennende Senat zu Eigen macht, verneint. Mit "Pflichtbeitragszeiten" iS des
§ 55 Abs 1 Satz 1 SGB VI können im System der gesetzlichen Rentenversicherung schon aus systematischen
Erwägungen nur Zeiten gemeint sein, in denen nach Bundesrecht gerade zu diesem Sicherungssystem Pflichtbeiträge
entrichtet worden sind.
Eine analoge Anwendung des § 17 Abs 1 Satz 2 Nr 1 ALG (Berücksichtigung von Pflichtbeiträgen und freiwilligen
Beiträgen zu einer landwirtschaftlichen Alterskasse auf die Wartezeit für eine Regelaltersrente nach dem SGB VI)
scheitert am Vorliegen einer ausfüllungsbedürftigen Lücke im Gesetz. Das LSG hat zutreffend festgestellt, dass eine
solche Gesetzeslücke nicht vorliegt. Es hat insbesondere die Unterschiede in beiden Alterssicherungssystemen
herausgearbeitet, die durch die agrarpolitische Zielsetzung des ALG bedingt sind: Beispielhaft hat es zum einen die
Voraussetzung der Abgabe des landwirtschaftlichen Unternehmens für eine Rente (§ 11 Abs 1 Nr 3, § 13 Abs 1 Satz
1 Nr 4 ALG), zum anderen die Gewährung von Beitragszuschüssen (§ 32 ALG) genannt, so dass die nach dem ALG
entrichteten Beiträge schon ihrer Art nach nicht mit den Beiträgen nach dem SGB VI vergleichbar sind. Auch wenn
das Leistungsspektrum der landwirtschaftlichen Alterssicherung dem der gesetzlichen Rentenversicherung immer
mehr angenähert worden ist, hebt das LSG zu Recht hervor, dass eine vollständige "Gleichschaltung" der Systeme
nicht in der Intention des Gesetzgebers lag.
Zwar war es ua Ziel der Gesetzesinitiative mehrerer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, eine verbesserte
Durchlässigkeit zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Alterssicherung der Landwirte zu schaffen
(BT-Drucks 13/1349). Hierzu war insbesondere beabsichtigt, Pflichtbeitragszeiten in der Alterssicherung der Landwirte
ebenso auf die Wartezeiten und zur Erfüllung weiterer anspruchsbegründender Zeiten (Berücksichtigungszeiten,
Gesamtleistungsbewertung) in der gesetzlichen Rentenversicherung anzurechnen wie umgekehrt Pflichtbeitragszeiten
in der gesetzlichen Rentenversicherung auf die Wartezeit in der Alterssicherung der Landwirte.
Dieser Gesetzesinitiative war allerdings nur zum Teil Erfolg beschieden.
Der in der BT-Drucks 13/1349 dokumentierten politischen Initiative zur gegenseitigen Anrechnung von
Versicherungszeiten hat der Gesetzgeber mit dem ASRG-ÄndG nur teilweise entsprochen (vgl BT-Drucks 13/3057 zu
A II, zweiter Absatz, S 25). Er hat § 17 Abs 1 ALG allein dahingehend geändert, dass nunmehr in der Alterssicherung
der Landwirte (ua) Pflichtbeitragszeiten der gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet werden, nicht aber
umgekehrt auch Beiträge zur Alterssicherung der Landwirte auf die Wartezeit in der gesetzlichen Rentenversicherung
(vgl BT-Drucks 13/3057, zu B, Nr 6 Buchst a S 26).
Maßgeblicher Zweck dieser gesetzlichen Änderung war es, die eigenständige Sicherung der Bäuerinnen -
insbesondere die Situation der Ehefrauen von Nebenerwerbslandwirten - zu verbessern und der Tatsache Rechnung
zu tragen, dass die Situation dieser Ehefrauen und ihrer Familien häufig dadurch gekennzeichnet ist, dass die
wirtschaftliche Existenz und spätere Alterssicherung auf außerlandwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit beruht (BT-Drucks
13/2747 zu A I, erster Absatz S 12). Entsprechend wird zur Begründung der geänderten Regelung in § 17 ALG
ausgeführt: "In der Alterssicherung der Landwirte sollen künftig für Rentenansprüche dem Grunde nach sowohl
Beitragszeiten nach diesem Gesetz als auch Zeiten angerechnet werden, für die Pflichtbeiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung gezahlt sind" (BT-Drucks 13/2747 zu B Nr 6 Buchst a S 13).
Da sich mithin aus den Materialien zum ASRG-ÄndG ergibt, dass durch die Gesetzesänderung insbesondere den
Interessen der Bäuerinnen Rechnung getragen werden sollte, kann von einer systemwidrigen Lücke im SGB VI
hinsichtlich (auch) der Anrechenbarkeit von Beiträgen zur Alterssicherung der Landwirte auf die Wartezeit in der
gesetzlichen Rentenversicherung nicht ausgegangen werden. Eine analoge Anwendung des § 17 Abs 1 Satz 2 Nr 1
ALG verbietet sich daher.
Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist eine entsprechende Anwendung der vorgenannten Vorschrift auch nicht
aus Gründen der Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 GG) geboten. Das Grundrecht auf Gleichbehandlung ist verletzt,
wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl
zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche
Behandlung rechtfertigen könnten (vgl zB BVerfGE 55, 72 = NJW 1981, 271; BVerfGE 98, 1 = SozR 3-5755 Art 2 §
27 Nr 1 mwN; BVerfG SozR 3-1100 Art 3 Nr 176 mwN). Die Anwendung einer bestimmten Regelung - hier: des § 17
Abs 1 Satz 2 Nr 1 ALG - auf einen anderen als den unmittelbar geregelten Sachverhalt könnte der Kläger daher nur
begehren, wenn wesentlich Gleiches ungleich behandelt werden würde. Der vom Gesetzgeber in den
Gesetzesmaterialien hervorgehobene Punkt einer verbesserten Alterssicherung der Frauen in der Landwirtschaft,
insbesondere der Ehefrauen von Nebenerwerbslandwirten, trägt aber gerade einem besonderen Bedürfnis einer
bestimmten Personengruppe Rechnung, der der Kläger nicht angehört. Die - umgekehrte - Anrechnung der zur
Alterssicherung der Landwirte entrichteten Beiträge auch auf die gesetzliche Rentenversicherung ist daher aus der mit
der Gesetzesänderung verfolgten Intention des Gesetzgebers nicht geboten. Das "Untätigbleiben" des Gesetzgebers
verletzt insoweit - als der in der BT-Drucks 13/1349 dokumentierten Gesetzesinitiative nicht weitergehend gefolgt
worden ist - das Willkürverbot nicht.
Eine Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber anderen Versicherten, die lediglich fünf Kalendermonate
Beitragszeiten im Sicherungssystem der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt haben, ergibt sich ebenfalls
nicht. Gemäß § 210 Abs 1 Nr 2 iVm mit Abs 3 Satz 1 SGB VI werden Versicherten, die das 65. Lebensjahr vollendet
und die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt haben, die Arbeitnehmeranteile der Beiträge auf Antrag erstattet.
Nicht zu entscheiden hatte der Senat die Frage, inwieweit die zur deutschen Alterssicherung der Landwirte
entrichteten Beiträge - bei Fehlen eines entsprechenden Sicherungssystems in Luxemburg - möglicherweise bei
Beantragung einer Rentenleistung in Luxemburg aus den dort zurückgelegten 19 Monaten
Rentenversicherungsbeitragszeiten in Anwendung des Art 45 Abs 3 EWGV 1408/71 zu berücksichtigen sind. Der
Wortlaut dieser Vorschrift könnte nahe legen, dass landwirtschaftliche Zeiten aus diesem "Sondersystem für
Selbständige" für die Erfüllung von Wartezeiten berücksichtigungsfähig, für die Rentenberechnung (Rentenhöhe)
jedoch als verbraucht anzusehen sind (vgl Kinzel/ Kunhardt/Lais, EU/EWR Textausgabe mit Erläuterungen,
herausgegeben von der BfA, 16. Aufl 2000, S 148, 149).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz.