Urteil des BSG vom 25.06.2009

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Bundessozialgericht
Urteil vom 25.06.2009
Sozialgericht Düsseldorf S 34 KR 151/03
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 11 KR 9/06
Bundessozialgericht B 3 KR 2/08 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Dezember 2007
geändert und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 5. Januar 2006
zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in allen Rechtszügen zu erstatten.
Gründe:
I
1
Streitig ist die Versorgung des Klägers mit einer wasserfesten Unterschenkelprothese (auch Bade- oder
Schwimmprothese genannt).
2
Der 1941 geborene Kläger ist nach der Amputation des linken Unterschenkels von der beklagten Krankenkasse mit
einer normalen Laufprothese und - im Jahre 1992 - mit einer Badeprothese ausgestattet worden, die aber mittlerweile
funktionsuntauglich geworden und nicht mehr zu reparieren ist. Unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung vom
7.4.2003 und eines Kostenvoranschlages eines Sanitätshauses vom 16.4.2003 beantragte der Kläger die erneute
Versorgung mit einer Badeprothese. Die Beklagte lehnte die Ersatzbeschaffung ab, weil der Kläger im häuslichen
Bereich ausreichend mit Hilfsmitteln versorgt sei und er die Badeprothese nur zum Schwimmen benötige. Sportliche
Betätigungen und Freizeitaktivitäten zählten aber nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens,
sodass eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausscheide. Zum Behinderungsausgleich
beim Gehen und Stehen sei die Badeprothese nicht erforderlich; dafür stehe die normale Laufprothese zur Verfügung.
Um diese im Schwimmbad nutzen zu können, sei sie aber bereit, den Kläger mit einem sog "Xero-Sox"-Beinschutz
auszustatten. Diese Latexüberzüge müssten nur über die normale Laufprothese gezogen werden und seien
wasserdicht (Bescheid vom 12.6.2003, Widerspruchsbescheid vom 7.7.2003). Der Kläger lehnte das Angebot als
nicht gleichwertig ab.
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Mit der Klage hat der Kläger geltend gemacht, er benötige die Badeprothese nicht nur zum Schwimmen
(Schwimmbad, Thermalbad, Urlaub am Meer), sondern auch zu Hause beim Duschen und Baden. Zudem sei sie für
nächtliche Toilettengänge vorteilhaft, weil sie sich schneller anlegen lasse als die Alltagsprothese.
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Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 5.1.2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses
Urteil geändert und die Klage abgewiesen (Urteil des Berichterstatters vom 11.12.2007). Es hat ausgeführt, die
Funktionen des Gehens und Stehens seien auch bis zum Rand eines Schwimmbeckens und eines Gewässers durch
die vorhandene Laufprothese sichergestellt. Das Schwimmen selbst gehöre nicht zu den elementaren menschlichen
Grundbedürfnissen. Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) im Jahre 1979 entschieden, das Schwimmen diene bei
Beinamputierten der Befriedigung des Grundbedürfnisses auf sportliche Betätigung zur allgemeinen gesundheitlichen
Vorsorge, sodass eine Badeprothese von der Krankenkasse zur Verfügung gestellt werden müsse. Diese
Rechtsprechung sei aber überholt. Für sportliche Freizeitaktivitäten sei die GKV nicht eintrittspflichtig. Mehr als die
angebotenen Latexüberzüge könne der Kläger zur Ermöglichung des Schwimmens jedenfalls nicht verlangen. Sofern
der Beinschutz nicht wasserdicht abschließen und die Alltagsprothese deshalb beschädigt werden sollte, gehe dies zu
Lasten der Beklagten, die dann eine neue Prothese zur Verfügung stellen müsse, sodass dem Kläger insoweit kein
Nachteil drohe. Im häuslichen Bereich sei der Kläger auf kostengünstigere Hilfsmittel zu verweisen (Duschhocker,
Badewannenlift, Unterarmgehstützen).
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Mit der vom Berichterstatter des LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Das
LSG habe zu Unrecht die Voraussetzungen des § 33 SGB V verneint. Körperersatzstücke wie Prothesen dienten dem
unmittelbaren Behinderungsausgleich und damit immer der Befriedigung eines Grundbedürfnisses, hier des sicheren
Gehens und Stehens in Bereichen, in denen er mit Wasser bzw Nässe in Berührung komme und daher die nicht
wasserfeste Alltagsprothese wegen der Beschädigungsgefahr nicht zu verwenden sei. Damit biete die Badeprothese
wesentliche Gebrauchsvorteile zur Verbesserung der Stand- und Gangsicherheit im Alltagsleben. Der angebotene
Beinschutz sei dafür kein vollwertiger Ersatz. Außerdem müsse jedem Menschen eine "sportliche Grundbetätigung"
ermöglicht werden, die bei Beinamputierten am besten durch das regelmäßige Schwimmen erfolge; deshalb sei die
GKV leistungspflichtig.
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Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11.12.2007 zu ändern und die Berufung der
Beklagten gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 5.1.2006 zurückzuweisen.
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Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil als zutreffend und beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II
8
Die Revision des Klägers ist begründet. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten ist rechtswidrig. Der Kläger hat
einen Anspruch auf Versorgung mit der begehrten Badeprothese gemäß § 33 SGB V. Daher war das zusprechende
erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.
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1. Der Senat ist an einer den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung in der Sache nicht gehindert. Er war nicht
gehalten, das vom Berichterstatter des LSG als Einzelrichter getroffene Urteil (§ 155 Abs 4 SGG) aufzuheben und den
Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG),
obgleich das Berufungsurteil - legte man die Rechtsprechung des 9. Senats des BSG zugrunde (Urteil vom 8.11.2007
- B 9/9a SB 3/06 R -, BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2) - unter Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf
Entscheidung durch den "gesetzlichen Richter" (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) zustande gekommen ist und ein solcher
grundlegender Verfahrensfehler regelmäßig zur Zurückverweisung an den eigentlich zuständigen Spruchkörper führt.
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a) Nach der oa Rechtsprechung des 9. Senats des BSG hat der Vorsitzende oder der bestellte Berichterstatter eines
Senats des LSG im Fall der Vorlage entsprechender Einverständniserklärungen der Beteiligten nach pflichtgemäßem
Ermessen darüber zu entscheiden, ob er von der durch § 155 Abs 3 und 4 SGG eingeräumten Befugnis Gebrauch
gemacht, den Rechtsstreit allein zu entscheiden, oder ob es aus sachlichen Gründen bei der Entscheidung des
Rechtsstreits durch den Senat - in voller Besetzung, § 33 SGG - verbleibt. Bei einer Rechtssache von grundsätzlicher
Bedeutung sei eine Entscheidung allein durch den Vorsitzenden oder den bestellten Berichterstatter in der Regel
ermessensfehlerhaft und damit verfahrensfehlerhaft (BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, jeweils RdNr 20 - 23
mit weiteren Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen). Der Verfahrensfehler führe als absoluter Revisionsgrund -
auch ohne Rüge - zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 202
SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
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b) Der erkennende 3. Senat hat sich zu der Frage, ob der Vorsitzende oder der bestellte Berichterstatter des LSG in
den Fällen des § 155 Abs 3 und 4 SGG einen Rechtsstreit ohne Verstoß gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG allein
entscheiden darf, wenn er der Sache grundsätzliche Bedeutung beimisst oder er mit seiner Entscheidung von der
Rechtsprechung des BSG abweicht und dementsprechend auch die Revision zulässt, bisher nicht geäußert. Der
Senat neigt der Rechtsauffassung des 9. Senats im Grundsatz zu, dass dies im Regelfall zu verneinen ist; er sieht
Ausnahmen zB bei folgenden Fallgestaltungen: Eine Entscheidung durch den Vorsitzenden oder den bestellten
Einzelrichter dürfte dann ohne Verstoß gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG in Betracht kommen, wenn der LSG-Senat in
voller Besetzung (§ 33 SGG) einen Rechtsstreit entschieden und wegen der grundsätzlichen Bedeutung der dabei
maßgeblichen Rechtsfrage die Revision zugelassen hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und nunmehr Parallelverfahren
anstehen, die zur Entlastung des Senats mit Einverständnis der Beteiligten vom Vorsitzenden oder dem bestellten
Berichterstatter nach Maßgabe der Leitentscheidung des Senats entschieden werden. Ähnlich dürfte es sein, wenn
zum Zeitpunkt der LSG-Entscheidung bekannt ist, dass vergleichbare Fälle mit grundsätzlicher Bedeutung bereits
beim BSG anhängig sind.
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c) Einer abschließenden Entscheidung des erkennenden Senats zu diesem Problemkreis bedarf es jedoch nicht.
Selbst bei Annahme eines Verstoßes gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 SGG hat der dann gegebene absolute
Revisionsgrund (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO) nicht zwangsläufig zur Folge, dass der Rechtsstreit an das LSG
zurückverwiesen werden muss (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Anordnung der Zurückverweisung in dem vom 9. Senat
entschiedenen Fall (BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, jeweils RdNr 24) enthält nach dem
Gesamtzusammenhang der dortigen Entscheidungsgründe nicht etwa einen neuen allgemeinen Rechtssatz, dass in
solchen Fällen immer so zu verfahren ist und keine Ausnahmen vorgesehen sind, sondern folgt lediglich der ständigen
Rechtsprechung des BSG (vgl etwa Urteil vom 14.9.1994 - 3/1 RK 36/93 -, BSGE 75, 74, 77 = SozR 3-2500 § 33 Nr
12), dass die Zurückverweisung bei absoluten Revisionsgründen den Regelfall darstellt. Die Zurückverweisung war
danach nur prozessuale Rechtsfolge der konkreten Sach- und Rechtslage jenes Falles, wonach der Berichterstatter
bereits den Streitgegenstand ungenau erfasst hatte und in der Sache mehrere Entscheidungsmöglichkeiten zur
Diskussion standen, die von der Beantwortung diverser Rechtsfragen abhingen.
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Verfassungsrechtliche Schutzvorschriften haben dort ihre Grenzen, wo ein Rechtsstreit nach den konkreten
Gegebenheiten des Falles nur in einer ganz bestimmten Weise entschieden werden kann, eine andere Entscheidung
also unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt denkbar ist. Dies gilt für den Erfolg einer Klage (BSGE 76, 59, 67 =
SozR 3-5520 § 20 Nr 1) wie für deren Abweisung (BSGE 75, 74, 77 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12) gleichermaßen und ist
vom 6. Senat des BSG ausdrücklich auch für den Fall der fehlerhaften Besetzung des Gerichts entschieden worden
(BSGE 76, 59, 67 = SozR 3-5520 § 20 Nr 1).
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d) Im vorliegenden Fall war der Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht geklärt und nicht umstritten. In rechtlicher
Hinsicht kam eine andere Entscheidung, als die begehrte Leistung zuzusprechen, unter keinem denkbaren
Gesichtspunkt in Betracht. Deshalb konnte der Senat in der Sache entscheiden und von der Zurückverweisung
absehen.
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2. Maßgebend ist hier § 33 SGB V in der ab 1.4.2007 geltenden Fassung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes
vom 26.3.2007 (BGBl I 378), weil bei Leistungsklagen, auch wenn sie - wie hier - mit einer Anfechtungsklage
verbunden sind, grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgebend ist (Keller in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 54 RdNr 34 mwN). Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte
Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im
Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung
vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände
des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Nach § 33 Abs 1 Satz 4 SGB V
umfasst der Anspruch auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die
Ausbildung in ihrem Gebrauch und, soweit zum Schutz der Versicherten vor unvertretbaren gesundheitlichen Risiken
erforderlich, die nach dem Stand der Technik zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit und der technischen Sicherheit
notwendigen Wartungen und technischen Kontrollen. Im vorliegenden Fall geht es um die Variante der
Ersatzbeschaffung eines Hilfsmittels. Deren Tatbestandsvoraussetzungen sind hier erfüllt.
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3. Die Rechtswidrigkeit der Leistungsablehnung ergibt sich allerdings nicht bereits daraus, dass dem Kläger im Jahre
1992 die Badeprothese bestandskräftig bewilligt worden war und diese jetzt nicht mehr funktionstüchtig und auch nicht
mehr zu reparieren ist. Denn auch bei der Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln müssen sämtliche
Tatbestandsvoraussetzungen des § 33 SGB V erfüllt sein (vgl BSGE 79, 261, 263 = SozR 3-2500 § 33 Nr 21, S 114,
sowie BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 11). Die Kriterien der Eignung, Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und
Erforderlichkeit (vgl § 2 Abs 4, § 12 Abs 1, § 33 Abs 1 SGB V) sind also nicht nur für die erstmalige Ausstattung mit
einem bestimmten Hilfsmittel maßgeblich, sondern gelten auch für die Ersatzbeschaffung und sind deshalb wie bei
der erstmaligen Bewilligung eines Hilfsmittels zu prüfen. Die Ersatzbeschaffung kann also nicht verlangt werden,
wenn auch schon die erstmalige Bereitstellung dieses Hilfsmittels zum jetzigen Zeitpunkt nicht (mehr) beansprucht
werden könnte. Etwas anderes kann allenfalls gelten, wenn die Krankenkasse in einer Art Grundbescheid festgestellt
hat, dass ein Versicherter ein bestimmtes Hilfsmittel auf Dauer beanspruchen kann. Dann ist nur der beantragte
Ersatz des Hilfsmittels auf seine Notwendigkeit hin zu prüfen. In aller Regel fehlt es aber an einem solchen
Grundbescheid - und so auch hier. Wird ein Hilfsmittel antragsgemäß bewilligt, erledigt sich der Verwaltungsakt mit
der Übergabe des Hilfsmittels an den Versicherten. Eine Dauerwirkung kommt dem Verwaltungsakt in solchen Fällen
nicht zu. Ob und in welcher Form in Fällen der leihweisen Überlassung eines Hilfsmittels (§ 33 Abs 5 Satz 1 SGB V)
etwas anderes zu gelten hat, kann hier offenbleiben, weil die Badeprothese seinerzeit übereignet worden ist.
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4. Die Leistungsablehnung ist rechtswidrig, weil die Badeprothese hier zum Behinderungsausgleich erforderlich ist.
Dieser in § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V als 3. Variante genannte Zweck (vgl jetzt auch § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX) eines
von der GKV zu leistenden Hilfsmittels hat zweierlei Bedeutung.
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a) Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem
unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits,
und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die
gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die
unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die
Erhaltung bzw Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung
mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der
bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im
Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr 8,
jeweils RdNr 4 - C-leg-Prothese). Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden
Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber
unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen.
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b) Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen
(sog mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Rahmen ist die GKV allerdings nur für den Basisausgleich der
Folgen der Behinderung eintrittspflichtig. Es geht hier nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen
Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in
allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl § 1 SGB V sowie § 6 Abs 1 Nr 1 iVm § 5 Nr 1 und 3 SGB IX),
also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der
Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags
meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer
Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV daher nur zu
gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit
ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den
allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören,
Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen
eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSGE 93, 176, 180 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7; BSGE 91, 60, 63
= SozR 4-2500 § 33 Nr 3; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 14; stRspr). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines
geistigen Freiraums gehört ua die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das
Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw eines Schulwissens (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 29 und 46;
BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 11 RdNr 18). Zum körperlichen Freiraum gehört - im Sinne eines Basisausgleichs der
eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu
verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im
Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (zB
Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs. Soweit
überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind schon
immer zusätzliche qualitative Momente verlangt worden (vgl BSGE 93, 176, 180 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7 -
Erreichbarkeit ambulanter medizinischer Versorgung für Wachkomapatientin; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27 - Rollstuhl-
Bike für Jugendliche; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 46 - behindertengerechtes Dreirad; BSG SozR 2200 § 182b Nr 13 -
Faltrollstuhl).
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c) Dem Gegenstand nach besteht für den unmittelbaren ebenso wie für den mittelbaren Behinderungsausgleich
Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf
eine Optimalversorgung. Deshalb besteht kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere
Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (vgl BSG SozR 3-2500
§ 33 Nr 26 S 153; stRspr); andernfalls sind die Mehrkosten gemäß § 33 Abs 1 Satz 5 SGB V (ebenso § 31 Abs 3
SGB IX) von dem Versicherten selbst zu tragen. Demgemäß haben die Krankenkassen nicht für solche
"Innovationen" aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern sich
auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 44;
BSGE 93, 183, 188 = SozR 4-2500 § 33 Nr 8).
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5. Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze über die Hilfsmittelversorgung im Rahmen der GKV beim unmittelbaren und
mittelbaren Behinderungsausgleich (3. Variante des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V und § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX) wird
deutlich, dass die Beklagte und das LSG einen unrichtigen rechtlichen Ansatz gewählt haben. Sie haben die
Ablehnung des Leistungsantrages des Klägers damit begründet, dass die Badeprothese in erster Linie dazu dienen
solle, dem Kläger weiterhin den regelmäßigen Besuch eines Schwimmbads zu ermöglichen; die Sportausübung und
sonstige Freizeitaktivitäten zählten aber gerade nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens.
Damit haben sie fälschlich die Grundsätze des mittelbaren Behinderungsausgleichs angewandt, obgleich hier allein
die Grundsätze des unmittelbaren Behinderungsausgleichs heranzuziehen sind.
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Beinamputierte Versicherte, die mit einer normalen Laufprothese versorgt sind, können von der Krankenkasse die
zusätzliche Versorgung mit einer wasserfesten Prothese (Badeprothese, Schwimmprothese) verlangen, um sich zu
Hause in Bad und Dusche sowie außerhalb der Wohnung im Schwimmbad sicher und ohne Gefahr der Beschädigung
der regelmäßig nicht wasserfesten Alltagsprothese bewegen zu können. Maßgeblich ist, dass eine Badeprothese -
anders als die Beklagte und das LSG angenommen haben - dem unmittelbaren Behinderungsausgleich
beinamputierter Versicherter dient und ihnen im heimischen Nassbereich sowie im Schwimmbad ein sicheres Gehen
und Stehen ermöglicht. Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Besuch eines Schwimmbades einer sportlichen
Betätigung bzw einer Freizeitbeschäftigung dient (Schwimmen, Wassergymnastik) und solche Aktivitäten nicht zu den
allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören. Dem Anspruch auf Versorgung mit einer Badeprothese
kann auch nicht entgegengehalten werden, dass es am Markt Kunststoff-Überzüge gibt, die über die vorhandene
Alltagsprothese zu ziehen sind und diese vor Wasserschäden schützen. Dabei handelt es sich nicht um eine in
vollem Umfang gleichwertige Versorgungsalternative.
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a) Beinprothesen sind Körperersatzstücke gemäß § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Sie dienen dem unmittelbaren Ersatz
des fehlenden Körperteils und dessen ausgefallener Funktion. Sie sind auf den Ausgleich der Behinderung selbst
gerichtet und dienen der medizinischen Rehabilitation, ohne dass zusätzlich die Erfüllung eines allgemeinen
Grundbedürfnisses des täglichen Lebens zu prüfen ist, wie es bei Hilfsmitteln erforderlich wäre, die nur die direkten
und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen sollen. Bei einer Beinprothese geht es um das Grundbedürfnis
auf möglichst sicheres, gefahrloses Gehen und Stehen, wie es bei nicht behinderten Menschen durch die Funktion der
Beine gewährleistet ist. Diese Funktion muss in möglichst weitgehender Weise ausgeglichen werden (BSGE 93, 183
= SozR 4-2500 § 33 Nr 8 - C-leg-Prothese).
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b) Hieran ist anzuknüpfen, wenn es um die Versorgung mit einer Badeprothese geht. Die normale Beinprothese hat
einen Gebrauchsnachteil, weil sie nicht dort zu verwenden ist, wo der Benutzer beim Gehen und Stehen mit Wasser in
Kontakt kommt. Durch den Kontakt mit Wasser besteht die große Gefahr einer Beschädigung, sodass die Beklagte
zur Reparatur bzw zum Einsatz verpflichtet wäre, was erhebliche Kosten verursacht. Außerdem ist der Fuß einer
normalen Laufprothese so ausgelegt, dass er mit Schuhen getragen wird. Im Schwimmbad ist das Tragen von
Straßenschuhen in aller Regel verboten. Ohne Schuhe besteht eine besondere Rutschgefahr. Unterarmgehstützen
bieten nicht den gleichen Halt wie eine Beinprothese und sind für die Gang- und Standsicherheit nur ergänzend
heranzuziehen. Die normale Laufprothese ist beim Aufenthalt in und am Wasser (Schwimmbad, Fluss, See)
ungeeignet. Dieser Gebrauchsnachteil wird durch die zusätzliche Ausstattung mit einer Badeprothese kompensiert.
Die Badeprothese gleicht praktisch das Funktionsdefizit der Alltagsprothese im Nassbereich aus.
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c) Nicht abzustellen ist auf das Schwimmen als Freizeitbetätigung. Wie bereits ausgeführt, dient die Badeprothese
dem unmittelbaren Behinderungsausgleich beinamputierter Versicherter und ermöglicht ihnen im heimischen
Nassbereich sowie im Schwimmbad ein sicheres Gehen und Stehen; auf die Frage, ob ein Grundbedürfnis betroffen
ist, kommt es mithin nicht an. Darüber hinaus stellt die Ausübung von sportlichen Aktivitäten aber auch kein
allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar; dies gilt für den Freizeit- und Berufssport gleichermaßen. Es
ist deshalb nicht von Bedeutung, dass dem Freizeitsport und insbesondere dem Schwimmen in der Regel eine
gesundheitsfördernde Wirkung zukommt und beinamputierte Menschen von den Vorteilen des Schwimmens
besonders profitieren. Zudem ist zu berücksichtigen, dass man mit einer Badeprothese zwar schwimmen kann, viele
Betroffene auf das Anlegen der Prothese beim Schwimmen aber verzichten, weil sie wegen des Auftriebs eher
hinderlich ist (vgl AOK/MDK-Protokoll vom 30.1.2006).
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d) Soweit nach der früheren Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 10.10.1979 - 3 RK 30/79 - SozR 2200 § 182 Nr 55) der
Anspruch auf Versorgung mit einer Badeprothese auch auf die "Bedeutung des Schwimmens für die Gesunderhaltung
im Allgemeinen und des Versehrtenschwimmsports für die körperliche Ertüchtigung des behinderten Versicherten im
Besonderen" gestützt worden ist, stellt der Senat fest, dass dieser Aspekt weder der heutigen Lebenswirklichkeit
entspricht noch in der Sache entscheidungserhebliche Bedeutung besitzt. Etwas anderes kann allerdings bei
vertragsärztlich verordneter sportlicher Betätigung als ergänzende Leistung zur medizinischen Rehabilitation nach §
44 SGB IX gelten, nämlich beim sog Reha-Sport (§ 44 Abs 1 Nr 3 SGB IX) und beim Funktionstraining (§ 44 Abs 1 Nr
4 SGB IX). Nach der "Rahmenvereinbarung über den Reha-Sport und das Funktionstraining" vom 1.1.2007
(abgedruckt unter http://www.kbv.de/themen/2610.html) gehört zu den Reha-Sportarten das Schwimmen (Ziffer 5.1)
und zu den Funktionstrainingsarten die Wassergymnastik (Ziffer 6). Die dazu erforderlichen Hilfsmittel werden nach
den geltenden gesetzlichen Bestimmungen erbracht (Ziffer 17.3). Eine dafür erforderliche vertragsärztliche Verordnung
liegt hier aber nicht vor.
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e) Im häuslichen Bereich (Bad, Dusche) muss sich ein Versicherter nicht auf Badewannenlifter, Duschhocker,
Unterarmgehstützen und rutschfeste Matten verweisen lassen. Der unmittelbare Behinderungsausgleich durch ein
Körperersatzstück hat Vorrang gegenüber einem nur mittelbaren Ausgleich. Die genannten weiteren Hilfsmittel sind,
soweit erforderlich, nur ergänzend zur Verfügung zu stellen, soweit es sich nicht - wie die rutschfesten Matten - um
allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt.
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Der Vorrang des unmittelbaren Behinderungsausgleichs vor dem mittelbaren lässt sich auch aus dem
Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen (Art 3 Abs 3 Satz 2 GG) und aus dem Gebot gleichberechtigter
Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 1 SGB IX) ableiten. Außerdem ist in diesem
Zusammenhang bei berechtigten Anliegen das Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten nach § 9 SGB IX zu
berücksichtigen. Hierzu gehört auch der vom Kläger betonte Gebrauchsvorteil der Badeprothese für nächtliche
Toilettengänge.
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6. Die Beklagte kann den Kläger nicht auf den angebotenen Kunststoff-Überzug verweisen, weil es sich dabei nicht
um eine gleichwertige Versorgungsalternative handelt. Dieser Latexüberzug wurde in der Vergangenheit unter der
Bezeichnung "Xero-Sox" vertrieben. Mittlerweile wird das Produkt überwiegend unter den Artikelnamen "Dry-Pro
Waterproof Cast Protector" bzw "Dry-Pro Wasserdichter Körperschutz" angeboten, und zwar in den Varianten
Wasserdichter Armschutz, Beinschutz, Stomaschutz, Katheterschutz und Prothesenschutz.
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In den Internet-Auftritten des deutschen Vertriebsunternehmens sowie des britischen Herstellers
(http://www.drypro.de/gebrauchsanweisung.htm sowie http://www.squidoo.com/drypro) findet sich unter dem Stichwort
"Gebrauchsanweisung" folgender Warnhinweis: "Bitte beachten: Lassen Sie den Dry Pro nicht zu lange an. Wir
empfehlen eine maximale Tragedauer von 45 Minuten. Keine Anwendung bei gefäßkranken Menschen. Halten Sie
sich in nassen oder rutschigen Umgebungen fest. Dieses Produkt enthält natürliche Kautschukmilch. Verwenden Sie
dieses Produkt nicht, wenn Sie auf Latex allergisch reagieren. Befolgen Sie in jedem Fall die Anweisungen Ihres
Arztes."
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Die eingeschränkte Tragedauer und das Trageverbot für Menschen mit Gefäßerkrankungen stellen im Vergleich zu
einer Badeprothese einen deutlichen Gebrauchsnachteil dar. Im Übrigen wird der Dry Pro-Beinschutz in den Internet-
Auftritten in erster Linie als Nässeschutz für Gipsverbände, Bandagen und Wundverbände beworben; die
Verwendungsmöglichkeit als Prothesenschutz wird lediglich ergänzend erwähnt. Daraus ergibt sich in einer
Gesamtbetrachtung, dass der Latexüberzug nicht in gleichem Umfang zum sicheren Gehen und Stehen in
Nassbereichen geeignet ist wie eine Beinprothese. Auf die Frage, ob ein Versicherter den Latexüberzug allein wegen
seiner optischen Wirkung ablehnen könnte (§ 9 SGB IX sowie § 33 SGB I), kam es daher nicht an.
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7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.