Urteil des BSG vom 08.07.2009

BSG: niedersachsen, leistungsfähigkeit, uvg, unterhaltspflicht, auszahlung, selbstbehalt, geldleistung, nebeneinkommen, entstehungsgeschichte, absicht

Bundessozialgericht
Urteil vom 08.07.2009
Sozialgericht Hannover S 20 AL 136/03
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 7 AL 6/07
Bundessozialgericht B 11 AL 30/08 R
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. August
2008 und des Sozialgerichts Hannover vom 24. November 2006 sowie der Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember
2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Januar 2003 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, über
den Antrag auf Abzweigung für die Zeit von Dezember 2002 bis Mai 2004 unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Senats erneut zu entscheiden. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten des Beigeladenen. Der Streitwert wird auf 546,78 Euro festgesetzt.
Gründe:
I
1
Die klagende Stadt begehrt Abzweigung von der dem Beigeladenen in der Zeit von Dezember 2002 bis Mai 2004
bewilligten Arbeitslosenhilfe (Alhi) in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem erhöhten und dem allgemeinen
Leistungssatz.
2
Der 1967 geborene Beigeladene bezog seit Februar 2002 von der Beklagten Alhi in Höhe von 112,56 Euro
wöchentlich. Der Auszahlungsbetrag ergab sich aus einem Bemessungsentgelt von 265 Euro unter Berücksichtigung
der Leistungsgruppe A und des erhöhten Leistungssatzes nach § 195 Satz 1 Nr 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch
(SGB III) iVm § 129 Nr 1 SGB III. Die später dynamisierte Leistung wurde bis einschließlich 31. Mai 2004 an den
Beigeladenen ausgezahlt.
3
Seit August 1999 zahlte die Klägerin für das Land Niedersachsen an die leibliche und eheliche Tochter des
Beigeladenen - C (C.), geboren 21. Februar 1993 - Leistungen in Höhe von 151 Euro monatlich nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz (UVG), da der Beigeladene keinen Unterhalt leistete. Ein auf Zahlung von Unterhalt gegen
den Beigeladenen gerichteter vollstreckbarer Titel existierte nicht.
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Mit Schreiben vom 5. Dezember 2002 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, für C. einen angemessenen Teil der
dem Beigeladenen gewährten Leistungen gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) abzuzweigen und
auszuzahlen. Sie führte aus, sie beanspruche für den Fall der Bewilligung des erhöhten Leistungssatzes den
Erhöhungsbetrag unabhängig von der Höhe der wöchentlichen Leistungen, da der Beigeladene seiner Unterhaltspflicht
nicht nachkomme. Die Beklagte lehnte eine Abzweigung mit der Begründung ab, der Beigeladene sei nicht
leistungsfähig (Bescheid vom 12. Dezember 2002, Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2003).
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Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. November 2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat
die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 26. August 2008). In den Entscheidungsgründen hat das LSG
ua ausgeführt: Die Beklagte sei zur Auszahlung eines Teils der dem Kläger zustehenden Leistungen nicht verpflichtet;
dies gelte insbesondere für den kindbezogenen Differenzbetrag zwischen dem allgemeinen und dem erhöhten
Leistungssatz. Der Beigeladene sei nicht leistungsfähig. Da kein Unterhaltstitel bestehe, sei es Aufgabe der
Beklagten, den Selbstbehalt des Beigeladenen festzustellen. Dabei könne sie nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) auf die Düsseldorfer Tabelle zurückgreifen. Die dem Beigeladenen gewährte Alhi
zuzüglich Nebeneinkommen (insgesamt 652,76 Euro) erreiche nicht den maßgeblichen Selbstbehalt von 730 Euro.
Eine Ausweitung der Ausnahmeregelung für das Kindergeld auf den Unterschiedsbetrag zwischen dem allgemeinen
und dem erhöhten Leistungssatz nach § 129 SGB III sei nicht möglich. Eine unbewusste Regelungslücke sei nicht
erkennbar. Eine Zweckbestimmung wie beim Kindergeld, das in der Regel auch dem Kind zugute kommen solle, sei §
129 SGB III fremd. Der erhöhte Leistungssatz mildere zwar auch Aufwendungen im Zusammenhang mit der
Kindererziehung ab, ohne jedoch - wie das Kindergeld - ein Steuerungsinstrument im Rahmen des
Familienlastenausgleichs zur Sicherstellung des Existenzminimums zu sein. Der Gesetzesentwicklung und der dabei
dokumentierten Absicht des Gesetzgebers sei zu entnehmen, dass für die Einführung eines niedrigeren allgemeinen
Leistungssatzes nicht vordergründig familienpolitische Überlegungen ausschlaggebend gewesen seien, sondern die
angespannten Finanzlagen der Bundesanstalt für Arbeit und des Bundes. Gegen die Auffassung der Klägerin spreche
auch, dass der erhöhte Leistungssatz nach § 129 Nr 1 SGB III in gleicher Höhe unabhängig von der Zahl der Kinder
und von Unterhaltsverpflichtungen des Leistungsbezieher gezahlt werde, was nach der Rechtsprechung des BSG
verfassungsrechtlich hinzunehmen sei. Es stehe im Übrigen nicht fest, ob der dem Beigeladenen gewährte
kindbezogene Leistungsteil (Mehrbetrag ca acht Euro wöchentlich) nicht der Tochter C. zugute komme; dies könne zB
in Form von Naturalunterhalt erfolgt sein oder es sei denkbar, dass der Beigeladene den Unterschiedsbetrag zur
Verwirklichung seines Umgangsrechts verbrauche.
6
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 48 SGB I. Die gestaffelten
Zahlungen der Lohnersatzleistungen seien in ihrer Funktion dem Kindergeld vergleichbar. Der erhöhte Satz der Alhi
dürfe nicht der Verbesserung der Lebenssituation des Unterhaltspflichtigen dienen. Eine Analogie zum Kindergeld sei
auch deshalb möglich, weil die Regelung des § 48 SGB I bereits seit 1975 bestehe, die Staffelung der
Lohnersatzleistungen mit/ohne Kindermerkmal aber erst seit 1984 existiere. Die Aufzählung des § 48 SGB I könne
daher nicht als abschließend gewertet werden.
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Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG vom 26. August 2008 und das Urteil des SG vom 24. November 2006
sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.
Januar 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, über den Antrag auf Abzweigung vom 5. Dezember 2002 für
den Zeitraum Dezember 2002 bis Mai 2004 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu
entscheiden.
8
Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
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Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
II
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Die Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Entgegen der Auffassung
des LSG ist eine Abzweigung hinsichtlich des Unterschiedsbetrages zwischen dem erhöhten und dem allgemeinen
Leistungssatz der Alhi des Beigeladenen nicht von vornherein wegen dessen fehlender Leistungsfähigkeit
ausgeschlossen. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 14. Januar 2003 ist deshalb und wegen Fehlens einer Ermessensentscheidung
rechtswidrig.
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1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG ist zulässig. Der Klageanspruch betrifft Geldleistungen für mehr
als ein Jahr (§ 144 Abs 1 Satz 2 SGG).
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2. Mit der Klage macht die Klägerin ausschließlich Abzweigung gemäß § 48 SGB I wegen nach § 7 UVG auf das Land
Niedersachsen übergegangener Unterhaltsansprüche geltend, nicht etwa einen Erstattungsanspruch als nachrangig
verpflichteter Leistungsträger (vgl zu § 104 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch: BSGE 67, 6 = SozR 3-1200 § 48 Nr 1).
Insoweit ist das LSG unter Hinweis auf einschlägiges Landesrecht zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin
berechtigt ist, die rechtlichen Interessen des Landes Niedersachsen im vorliegenden Rechtsstreit wahrzunehmen. Die
vom LSG herangezogene Vorschrift des § 5 Abs 6 Satz 2 der Allgemeinen Zuständigkeitsverordnung für die
Gemeinden und Landkreise zur Ausführung von Bundesrecht (AllgZustVO-Kom) ermächtigt die für die Durchführung
des UVG nach § 5 Abs 6 Satz 1 AllgZustVO-Kom jeweils zuständige kommunale Gebietskörperschaft, die auf das
Land nach § 7 UVG übergegangenen Ansprüche gerichtlich und außergerichtlich geltend zu machen. Hieraus ergibt
sich, dass die Klage nicht vom Land Niedersachsen, sondern von der Klägerin selbst im Wege einer
Prozessstandschaft kraft Gesetzes erhoben worden ist. Dies ist im Einvernehmen mit Klägerin und Beklagter im
Wege der Berichtigung des Klagerubrums klargestellt worden.
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3. Das LSG hat zwar zutreffend angenommen, dass bei ausschließlicher Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB I
die Voraussetzungen für eine Abzweigung deshalb nicht vorliegen, weil der Beigeladene mangels Leistungsfähigkeit
nicht unterhaltspflichtig ist; auch können die Regelungen in § 48 Abs 1 Satz 2 und 3 SGB I nicht analog zu Gunsten
der Klägerin herangezogen werden. Das LSG hat aber nicht beachtet, dass sich in Bezug auf den Unterschiedsbetrag
zwischen dem erhöhten und dem allgemeinen Leistungssatz die Voraussetzungen für eine Abzweigung aus § 48 Abs
2 SGB I iVm der entsprechenden Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 1 und 4 SGB I ergeben.
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a) Eine Abzweigung in unmittelbarer Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB I ist nur möglich, wenn der
Leistungsberechtigte dem Ehegatten oder Kindern gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.
Das Bestehen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht setzt Unterhaltsfähigkeit nach den Vorschriften des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB) voraus; unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen
außer Stande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren (§ 1603 Abs 1 BGB;
vgl BSGE 57, 59, 61 f = SozR 1200 § 48 Nr 8; BSGE 93, 203, 205 = SozR 4-1200 § 48 Nr 1). Bei der Prüfung der
Unterhaltsfähigkeit hat das BSG in Fällen, in denen kein Unterhaltstitel vorliegt, jedenfalls in den sog alten
Bundesländern die Praxis der Beklagten gebilligt, die Düsseldorfer Tabelle als allgemein geeigneten Maßstab für die
Berechnung des Selbstbehalts des Leistungsberechtigten zu Grunde zu legen (BSG SozR 1200 § 48 Nr 11; SozR 3-
1200 § 48 Nr 4; zur gebotenen abweichenden Handhabung bei Vorliegen eines Unterhaltstitels: Urteil des 14. Senats
vom 17. März 2009, B 14 AS 34/07 R, RdNr 15 ff).
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Nach den getroffenen Feststellungen (§ 163 SGG) ist davon auszugehen, dass der Beigeladene mit der ihm
bewilligten Alhi sowie einem zusätzlich erzielten geringen Nebeneinkommen (monatliche Einnahmen insgesamt etwa
650 Euro) den im streitigen Zeitraum nach der Düsseldorfer Tabelle maßgeblichen Selbstbehalt von 730 Euro (vgl zu
diesem Betrag auch Urteil des 14. Senats vom 17. März 2009, B 14 AS 34/07 R, RdNr 17 mit Hinweis auf FamRZ
2003, 910, 912) nicht erreicht. Da ein Unterhaltstitel nicht vorliegt, ist die Folgerung der Beklagten, der Beigeladene
sei nicht leistungsfähig und nicht gesetzlich unterhaltspflichtig iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB I, zunächst nicht zu
beanstanden.
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b) Ein möglicher Anspruch auf Abzweigung lässt sich auch nicht aus einer entsprechenden Anwendung der
Regelungen in § 48 Abs 1 Satz 2 oder Satz 3 SGB I herleiten. Satz 2 des § 48 Abs 1 SGB I - eingefügt durch Gesetz
vom 20. Juli 1988 (BGBl I 1046) - besagt lediglich, dass bei bestimmten kinderbezogenen Leistungen entgegen
früherer Rechtsprechung des BSG (SozR 1200 § 48 Nr 4) eine Auszahlung auch zu Gunsten sog Zählkinder möglich
ist (vgl BT-Drucks 11/1004 S 11; Moll in Hauck/Noftz, SGB I, Stand 2008, § 48 RdNr 4). Die Regelung enthält keine
Aussage zur Frage, ob im Einzelfall auf das Merkmal der Unterhaltsfähigkeit iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB I
verzichtet werden kann; insoweit kann dahinstehen, ob der im erhöhten Leistungssatz enthaltene kindbezogene Anteil
überhaupt mit den in § 48 Abs 1 Satz 2 SGB I genannten Leistungen (ua "Kinderzuschläge") vergleichbar ist. Satz 3
des § 48 Abs 1 SGB I - eingefügt durch Gesetz vom 30. Juni 1989 (BGBl I 1294) - erlaubt zwar eine Auszahlung von
Kindergeld auch in Fällen, in denen der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist;
die Regelung bezieht sich jedoch, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, nur auf das Kindergeld. Eine Übertragung
auf den wegen eines Kindes gezahlten erhöhten Leistungssatz des Arbeitslosengeldes (Alg) bzw der Alhi ist wegen
der grundlegenden Unterschiede zwischen der Funktion des Kindergeldes einerseits und den Alg- bzw Alhi-
Bemessungsgrundsätzen andererseits nicht möglich (vgl dazu BSGE 79, 14, 15 ff = SozR 3-4100 § 111 Nr 14 S 50 ff;
Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand 2007, § 129 RdNr 21 ff; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, Stand 2006, §
129 RdNr 9, 15 ff).
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c) Die Tatbestandsvoraussetzungen einer Abzweigung zu Gunsten der Klägerin in Höhe des Unterschiedsbetrages
zwischen dem erhöhten und dem allgemeinen Leistungssatz ergeben sich jedoch aus § 48 Abs 2 SGB I iVm der
entsprechenden Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 1 und 4 SGB I.
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Nach § 48 Abs 2 SGB I gelten ua Abs 1 Satz 1 und 4 der Vorschrift entsprechend, wenn unter Berücksichtigung von
Kindern, denen gegenüber der Leistungsberechtigte nicht kraft Gesetzes unterhaltspflichtig ist, Geldleistungen
erbracht werden und der Leistungsberechtigte diese Kinder nicht unterhält. Die Regelung ermöglicht - im Unterschied
zur unmittelbaren Anwendung des Abs 1 Satz 1 des § 48 SGB I - eine Abzweigung auch dann, wenn der
Leistungsberechtigte dem die Auszahlung verlangenden Kind gegenüber nicht kraft Gesetzes unterhaltspflichtig ist.
Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn eine gesetzliche Unterhaltspflicht zB gegenüber Pflegekindern oder Kindern des
Ehepartners nicht in Betracht kommt (vgl Mrozynski, SGB I, 3. Aufl, § 48 RdNr 26). Die Formulierung "kraft Gesetzes
unterhaltspflichtig" erfasst vielmehr auch die Konstellation, dass eine konkrete Unterhaltspflicht wegen fehlender
Leistungsfähigkeit iS des § 1603 BGB nicht besteht (vgl BSG SozR 1200 § 48 Nr 3 S 3; BSGE 53, 218, 219 = SozR
1200 § 48 Nr 5 S 10; BSGE 57, 127, 129 = SozR 1200 § 48 Nr 9 S 36; Schellhorn in Kretschmer/von
Maydell/Schellhorn, GK-SGB I, 3. Aufl, § 48 RdNr 31). Unter den Voraussetzungen des Abs 2 des § 48 SGB I kann
einem Abzweigungsbegehren also nicht von vornherein der Einwand fehlender Leistungsfähigkeit des
Leistungsberechtigten entgegengehalten werden.
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Die weiteren Voraussetzungen des § 48 Abs 2 SGB I liegen vor. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist zu
entnehmen, dass der wegen mangelnder Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtige Beigeladene das eigentlich die
Abzweigung begehrende Kind, dessen gemäß § 7 UVG auf das Land übergegangenen Anspruch die Klägerin geltend
macht, im streitigen Zeitraum nicht unterhalten hat. Der Beigeladene hat im fraglichen Zeitraum zugunsten seiner
Tochter weder Unterhaltszahlungen erbracht noch sie in anderer Weise tatsächlich unterhalten (vgl BSGE 53, 218,
220 = SozR 1200 § 48 Nr 5; BSGE 57, 127, 130 = SozR 1200 § 48 Nr 9). Es kann deshalb offen bleiben, ob das
Merkmal "nicht unterhält" auch dann gegeben ist, wenn der Leistungsberechtigte an das Kind zwar Leistungen
erbringt, diese aber wertmäßig unter dem in Rede stehenden Abzweigungsbetrag liegen.
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Bei der erhaltenen Geldleistung handelt es sich auch hinsichtlich des von der Klägerin beanspruchten Anteils in Höhe
des Unterschiedsbetrages zwischen erhöhtem und allgemeinem Leistungssatz um eine Leistung, die "unter
Berücksichtigung von Kindern" erbracht worden ist. Hierbei ist auf die Bemessungsgrundsätze gemäß § 195 Satz 1 Nr
1 SGB III iVm § 129 Nr 1 SGB III abzustellen. Der erhöhte Leistungssatz (bei der Alhi 57 %) wird ua dann bewilligt,
wenn der Arbeitslose mindestens ein Kind iS des § 32 Abs 1 Einkommensteuergesetz (EStG) hat (also ein im ersten
Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind, vgl § 32 Abs 1 EStG, vgl Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, Stand
2006, § 129 RdNr 15). Der Beigeladene hat den erhöhten Leistungssatz also deshalb erhalten, weil er mit seiner
leiblichen Tochter C. im ersten Grad verwandt ist; insofern bestehen keine Zweifel, dass zu seinen Gunsten eine
Geldleistung "unter Berücksichtigung von Kindern" erbracht worden ist.
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Im Hinblick auf den Gesetzeswortlaut ("unter Berücksichtigung von Kindern") kommt es nicht auf die vom LSG im
Rahmen der Prüfung einer analogen Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 3 SGB I erörterte Frage an, inwieweit die den
Bemessungsregeln des SGB III bzw des Arbeitsförderungsgesetzes zu entnehmenden Ziele mit denen des
Kindergeldes im Einzelnen vergleichbar sind; unerheblich ist insbesondere, ob der kindbezogene Leistungsanteil wie
das Kindergeld in erster Linie der Unterhaltssicherung des minderjährigen Kindes dient oder ob er
Steuerungsinstrument im Rahmen des Familienlastenausgleichs ist (vgl dazu BSGE 79, 14, 22 = SozR 3-4100 § 111
Nr 14 S 58). Denn § 48 Abs 2 SGB I stellt nur darauf ab, ob bei der Leistungserbringung ein Kind berücksichtigt ist,
was bei der dem Beigeladenen bewilligten Leistung der Fall ist. Unter den gegebenen Umständen besteht kein Anlass
zur Erörterung der Frage, wie bei Vorhandensein mehrerer unterhaltsberechtigter Kinder die Aufteilung eines
Abzweigungsbetrages im Einzelnen zu handhaben ist (zB so genannte Kopfteilung). Im Übrigen ist nicht zweifelhaft,
dass der erhöhte Leistungssatz des Alg oder der Alhi jedenfalls auch erhöhte Aufwendungen im Zusammenhang mit
der Kindererziehung abmildern will (vgl zu diesem Zweck Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand 2007, § 129
RdNr 53 mwN).
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Gegen ein Vorliegen der Voraussetzung der Leistungsgewährung "unter Berücksichtigung von Kindern" spricht auch
nicht die Entstehungsgeschichte des § 48 Abs 2 SGB I, der zunächst idF des Gesetzes vom 11. Dezember 1975,
BGBl I 3015, dahin gefasst war, dass Leistungen "für Kinder" erbracht werden mussten. Die Formulierung "unter
Berücksichtigung" geht zurück auf die Einfügung des Abs 1 Satz 2 durch das Gesetz vom 20. Juli 1988 (BGBl I 1046)
und wurde in den Gesetzesmaterialien als "sprachliche Anpassung des Gesetzestextes zu der Änderung in Absatz 1"
bezeichnet (BT-Drucks 11/1004 S 11). Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, der Anwendungsbereich des Abs 2
beschränke sich nur auf die Fälle des Abs 1 Satz 2; denn der bereits vor Einführung des Abs 1 Satz 2 vorhandene
Abs 2 ist in seinem wesentlichen Regelungsgehalt erhalten geblieben und verweist in seiner geltenden Fassung nicht
nur auf Abs 1 Satz 2, sondern vor allem auch auf Abs 1 Satz 1. Eine Absicht des Gesetzgebers, der
Leistungserbringung "unter Berücksichtigung von Kindern" nur einen eingeschränkten Anwendungsbereich zu
eröffnen, lässt sich somit aus der Entstehungsgeschichte unter Einschluss der vorliegenden Materialien nicht
ableiten. Gegenteiliges ergibt sich im Übrigen nicht aus der von der Beklagten in ihrer Revisionserwiderung zitierten
Entscheidung des BSG vom 20. Juni 1984 (BSGE 57, 59 = SozR 1200 § 48 Nr 8), die allein die Auszahlung von
Teilen der Alhi an den Ehegatten des Arbeitslosen gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 SGB I betraf.
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Die Möglichkeit eine Abzweigung in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen erhöhtem und allgemeinem
Leistungssatz nach § 48 Abs 2 SGB I iVm § 48 Abs 1 Satz 1 SGB I scheitert schließlich nicht daran, dass die
Entscheidung über die Höhe des Alg bzw der Alhi einheitlich erfolgt und Berechnungselemente nicht Gegenstand
eines Verfügungssatzes sein können (vgl ua BSG SozR 3-4100 § 136 Nr 12; Pawlak in Spellbrink/Eicher, Kasseler
Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 11 RdNr 15). Insoweit greift der Einwand nicht durch, der Vorteil eines
erhöhten Leistungssatzes sei als nicht abtrennbarer Bestandteil des Alg oder der Alhi anzusehen (in diesem Sinne
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15. August 1996, L 12 Ar 487/96). Denn von der Frage der sich grundsätzlich auf
den Verfügungssatz beschränkenden Bindungswirkung (vgl BSG SozR 3-4100 § 136 Nr 12 S 67) ist die Frage zu
unterscheiden, in welcher Höhe Geldleistungen nach den Vorgaben des § 48 SGB I abgezweigt werden können (vgl ua
BSGE 55, 245, 247 = SozR 1200 § 48 Nr 7 zum Beurteilungsspielraum). Eine Abzweigung "in angemessener Höhe"
schließt immer die Möglichkeit ein, nur Teile einer Leistung zu erfassen. Auch lässt sich der Unterschied zwischen
dem erhöhten Leistungssatz von 57 % im Vergleich zum Leistungssatz von 53 % (§ 195 SGB III) eindeutig ermitteln.
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4. Da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs 2 SGB I vorliegen, liegt die Entscheidung über die Abzweigung
in entsprechender Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB I im Ermessen der Beklagten. Der Leistungsträger kann
uU auch dann, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, von einer Abzweigung absehen, wenn sie ihm nach den
Umständen des Einzelfalls nicht angezeigt erscheint (vgl dazu Urteil des 14. Senats vom 17. März 2009, B 14 AS
34/07 R, RdNr 16 mwN). Da die Beklagte eine Ermessensentscheidung bislang nicht getroffen hat, ist sie hierzu
antragsgemäß zu verurteilen.
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Dass im vorliegenden Fall keine andere Entscheidung als eine vollständige Abzweigung oder eine Ablehnung hätte
getroffen werden können (Ermessensreduzierung auf Null) ist nicht ersichtlich. Zwar scheidet nach den vorstehenden
Ausführungen eine Ablehnung unter Hinweis auf den Selbstbehalt nach der Düsseldorfer Tabelle aus; als ein im
Rahmen der Ermessensausübung möglicherweise erheblicher Umstand kommt aber der vom LSG erwähnte
Gesichtspunkt in Betracht, dass der Beigeladene den erhöhten Leistungssatz zur Erbringung von Naturalunterhalt
oder zur Ausübung des Umgangsrechts verwendet haben könnte. Weitere Gesichtspunkte sind denkbar. So könnte
etwa von Bedeutung sein, ob der Beigeladene sonstigen Unterhaltsverpflichtungen ausgesetzt ist (vgl insoweit BSGE
93, 203, 208 = SozR 4-1200 § 48 Nr 1) oder ob ihm in Konsequenz einer Abzweigung Sozialhilfebedürftigkeit droht.
Sollte sich ein derartiger Sachverhalt feststellen lassen, wäre er bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), da weder die
Klägerin noch die Beklagte zu den in § 183 SGG genannten Personen gehören (vgl Urteil des 14. Senats vom 17.
März 2009, B 14 AS 34/07 R, RdNr 22). Eine Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung außergerichtlicher Kosten
des Beigeladenen, der sich am Verfahren nicht beteiligt hat, erscheint unbillig (§ 162 Abs 3 VwGO).
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6. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 52 Abs 3, 47 Abs 1
Gerichtskostengesetz.