Urteil des BSG vom 20.01.2000

BSG: anzeige, zahl, ausgleichsabgabe, beweismittel, klagebefugnis, urkunde, beschäftigungspflicht, arbeitsamt, gefahr, form

Bundessozialgericht
Urteil vom 20.01.2000
Sozialgericht München S 40 Al 1001/95
Bayerisches Landessozialgericht L 9 AL 167/96
Bundessozialgericht B 7 AL 26/99 R
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Oktober 1998, das
Urteil des Sozialgerichts München vom 5. März 1996 sowie der Bescheid der Beklagten vom 22. November 1994 in
der Gestalt des Widerspruchs- bescheids vom 6. Juni 1995 aufgehoben. Die Beklagte hat dem Kläger die
außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe:
I
Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit eines gemäß § 13 Abs 2 Schwerbehindertengesetz (SchwbG)
erlassenen Feststellungsbescheids der beklagten Bundesanstalt für Arbeit für das Kalenderjahr 1993 streitig.
Der Kläger, dessen Sitz in M. ist, unterhält im Bundesgebiet mehrere Einrichtungen zur Förderung der angewandten
Forschung. Im Februar 1994 gab er für die Betriebe in M. nach § 13 Abs 2 SchwbG die - für Grund und Höhe der
Ausgleichsabgabe (§ 11 SchwbG) maßgebliche - Anzeige über die Zahl der Arbeitsplätze und die Zahl der
beschäftigten Schwerbehinderten ab; in der Folgezeit wurden (im Februar, August und November) mehrere
Schwerbehinderte nachgemeldet. Mit Schreiben vom 21. Oktober 1994 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, daß
gemäß § 7 Abs 1 SchwbG zu den Arbeitsplätzen iS des SchwbG auch Stellen gehörten, auf denen andere als die
gesondert genannten Auszubildenden zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt würden, bei der Berechnung der Zahl der
Pflichtplätze für Schwerbehinderte indes lediglich die Auszubildenden (im engen Sinn) nicht mitzählten. Zu diesen
"anderen zu ihrer beruflichen Bildung Eingestellten" zählten Praktikanten. Deshalb benötige man die genaue Anzahl
der vom Kläger angegebenen, bei ihm beschäftigten Praktikanten, aufgeschlüsselt nach Monaten. Diesem Ansinn
kam der Kläger mit Schreiben vom 18. November 1994 nach und teilte der Beklagten unter gesonderter
Aufschlüsselung nach Monaten die genaue Anzahl der Praktikantenplätze (2116 insgesamt) mit; allerdings erklärte er,
daß er die Berücksichtigung der Praktikantenplätze bei der Berechnung der Pflichtplätze nicht akzeptiere. Die
Beklagte erließ daraufhin gemäß § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG für das Kalenderjahr 1993 einen Bescheid, mit dem die
vom Kläger nach § 13 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SchwbG anzuzeigenden Verhältnisse auf der Grundlage der
erstatteten Anzeige festgestellt wurden; lediglich in der Spalte für die nach § 8 Satz 1 SchwbG bei der Berechnung
der Zahl von Pflichtplätzen nicht mitzuzählenden Auszubildenden wich die Beklagte von den Angaben des Klägers
insoweit ab, als sie die vom Kläger beschäftigten und angezeigten Praktikanten nicht den Auszubildenden zuordnete,
so daß sie zu einer größeren Anzahl an Pflichtplätzen gelangte (Bescheid vom 22. November 1994;
Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 1995).
Klage und Berufung hiergegen hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 5. März 1996; Urteil des
Landessozialgerichts (LSG) vom 29. Oktober 1998). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt,
die vom Kläger beschäftigten Praktikanten seien keine Auszubildenden iS des § 8 SchwbG. Die nach § 13 Abs 2
SchwbG abgegebene Anzeige sei damit unrichtig und die Beklagte berechtigt gewesen, den angefochtenen
Feststellungsbescheid gemäß § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG zu erlassen.
Mit seiner Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen § 8 Satz 1 SchwbG. Er ist der Ansicht, Auszubildende iS des
§ 8 Satz 1 SchwbG seien auch die bei ihm beschäftigten Praktikanten.
Er beantragt, das Urteil des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. November 1994 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 1995 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig. Sie ist innerhalb der Monatsfrist des § 164 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
eingelegt und innerhalb der auf einen rechtzeitig gestellten Antrag verlängerten Revisionsbegründungsfrist (§ 164 Abs
2 Satz 2 SGG) begründet worden.
Die Revision ist auch begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
Dabei stehen von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensfehler einer Sachentscheidung nicht entgegen.
Insbesondere kann dem Kläger nicht entgegengehalten werden, es fehle ihm an der Klagebefugnis iS des § 54 Abs 1
Satz 2 SGG, weil ihn der Feststellungsbescheid der Beklagten überhaupt nicht beschweren könne (vgl hierzu
insbesondere BSG SozR 3-3870 § 13 Nr 3 S 12 f). Dies ist allerdings nicht allein damit zu begründen, daß der
Feststellungsbescheid der Beklagten nur die Anzeige des Arbeitgebers ersetzt und für die Hauptfürsorgestelle
korrigiert und damit gewissermaßen in einem vorgezogenen "Beweissicherungsverfahren" die Funktion als
Beweismittel in Form einer öffentlichen Urkunde übernommen hat (BSG aaO). Denn die Urkunde kann naturgemäß nur
Tatsachen beweisen, nicht aber die Rechtsfrage beantworten, ob bei der Berechnung der Pflichtplätze, damit auch der
Ausgleichsabgabe nach § 11 SchwbG, Praktikantenplätze als Plätze für Auszubildende behandelt werden. Nur um die
Klärung dieser Rechtsfrage geht es indes dem Kläger und der Beklagten, die beide die Beantwortung dieser Frage
durch den Feststellungsbescheid als präjudiziert ansehen. Der Senat hat jedoch bereits klargestellt, daß der
Feststellungsbescheid nach § 13 Abs 2 des SchwbG (idF der Bekanntmachung vom 26. August 1986) nicht nur keine
Bindungswirkung gegenüber der Hauptfürsorgestelle erzeugt, sondern daß über die Ausgleichsabgabe, also auch über
die Berechnung der Pflichtquote, erst von der Hauptfürsorgestelle zu entscheiden ist (BSGE 74, 176, 178 ff = SozR 3-
3870 § 13 Nr 2; BSG SozR 3-3870 § 13 Nr 3 S 12 f). Gleichwohl ergibt sich die Klagebefugnis vorliegend daraus, daß
weiterhin die Gefahr besteht, daß die Beklagte, die Hauptfürsorgestelle oder das für eine Klage gegen die
Hauptfürsorgestelle zuständige Verwaltungsgericht eine andere Auffassung über die Rechtswirkungen eines
Feststellungsbescheids vertreten könnten als der erkennende Senat in den zitierten Entscheidungen (so bereits BSG
SozR 3-3870 § 13 Nr 3 S 13). Ungeachtet der beiden Entscheidungen des Senats ist die Auslegung und Reichweite
des § 13 Abs 2 SchwbG noch nicht abschließend geklärt (zu dieser Voraussetzung für die Klagebefugnis vgl BSG
SozR 3-8570 § 8 Nr 2 S 9), soweit es die Berechtigung der Beklagten zum Erlaß eines Feststellungsbescheids und
die Beurteilung seiner Wirkung betrifft. Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß die Beklagte ihren
Feststellungsbescheid einem Ordnungswidrigkeitsverfahren (§ 68 SchwbG) zugrunde legt.
Die Klage ist auch begründet. Unabhängig davon, wie die von den Beteiligten aufgeworfene Rechtsfrage zu § 8
SchwbG zu beantworten ist, war die Beklagte schon deshalb nicht befugt, einen Feststellungsbescheid zu erlassen,
weil die Voraussetzungen des § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG hierfür nicht vorlagen.
Nach § 13 Abs 2 Satz 1 SchwbG haben Arbeitgeber dem für ihren Sitz zuständigen Arbeitsamt unter Beifügung einer
Durchschrift für die Hauptfürsorgestelle einmal jährlich bis spätestens 31. März für das vorangegangene Kalenderjahr,
aufgegliedert nach Monaten, anzuzeigen
die Zahl der Arbeitsplätze nach § 7 Abs 1, darunter die nach § 8 Satz 1, sowie der Stellen nach § 7 Abs 2 und 3,
gesondert für jeden Betrieb und jede Dienststelle,
die Zahl der in den einzelnen Betrieben und Dienststellen beschäftigten Schwerbehinderten, Gleichgestellten und
sonstigen anrechnungsfähigen Personen, darunter die Zahlen der zur Ausbildung und der zur sonstigen beruflichen
Bildung eingestellten Schwerbehinderten und Gleichgestellten, gesondert nach ihrer Zugehörigkeit zu einer dieser
Gruppen,
Mehrfachanrechnungen und
den Gesamtbetrag der geschuldeten Ausgleichsabgabe.
Erstattet der Arbeitgeber die vorgeschriebene Anzeige bis zum 30. Juni nicht, nicht richtig oder nicht vollständig,
erläßt das Arbeitsamt einen Feststellungsbescheid über die nach Satz 1 Nrn 1 bis 3 anzuzeigenden Verhältnisse (§
13 Abs 2 Satz 2 SchwbG).
Vorliegend hat der Kläger nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 162 SGG) des LSG die
vorgeschriebene Anzeige richtig erstattet; daß dies erst nach dem 30. Juni 1994 geschehen ist, berechtigt die
Beklagte nicht zum Erlaß eines Feststellungsbescheids, weil die entsprechenden Angaben noch vor Erlaß des
Feststellungsbescheids gemacht worden sind.
Die Angaben des Klägers waren nämlich nur insoweit "unrichtig", als er die von ihm korrekt angezeigten 2116 Stellen
der bei ihm beschäftigten Praktikanten bei der Berechnung der Pflichtplätze nach § 8 SchwbG als Ausbildungsplätze
nicht mitgezählt hat, dies aber andererseits in seinem Schreiben vom 18. November 1994 auf den Hinweis der
Beklagten vom 21. Oktober 1994 ausdrücklich erklärt hat. Hierin ist keine unrichtige Anzeige iS des § 13 Abs 2 Satz
2 SchwbG zu sehen. Wie der Senat bereits früher entschieden hat, erschöpft sich der Regelungscharakter (§ 31 Satz
1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X)) des Feststellungsbescheids der Beklagten darin, daß die
"Verfügung" des Arbeitsamtes an die Stelle der Anzeige des Arbeitgebers tritt und deren Funktion als Beweismittel,
nunmehr in Form einer öffentlichen Urkunde (§ 418 ZPO), übernimmt (BSGE 74, 176, 179 = SozR 3-3870 § 13 Nr 2).
Diese Beweisfunktion kann sich aber nur auf Tat-, nicht auf Rechtsfragen erstrecken (BSG SozR 3-3870 § 13 Nr 3 S
13). Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, der Feststellungsbescheid diene außerdem der Vorbereitung
eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens und müsse deshalb über die aufgeworfene Rechtsfrage befinden. Zwar hat die
Beklagte nicht nur die Aufgabe, Bescheide der Hauptfürsorgestelle über die Ausgleichsabgabe - in tatsächlicher
Hinsicht - vorzubereiten, sondern auch, die Beschäftigungspflicht von Schwerbehinderten zu überwachen (§§ 33 Abs
1 Nr 7, 68 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 SchwbG); jedoch wird sie durch § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG nicht ermächtigt, in
Erfüllung dieser Aufgabe konkretisierende Zwischenverfügungen zur Beschäftigungspflicht von Schwerbehinderten
durch den Arbeitgeber zu treffen. Ersetzt vielmehr der Feststellungsbescheid nur eine fehlende, falsche oder
unvollständige Anzeige des Arbeitgebers, so erwächst der Beklagten das Recht zur Korrektur nur insoweit, als die
Anzeige in tatsächlicher Hinsicht falsch oder unvollkommen ist, nicht jedoch, soweit - wie hier - der Kläger in
tatsächlicher Hinsicht korrekte und vollständige Angaben macht und ausschließlich Streit über die rechtliche
Bewertung dieser korrekten tatsächlichen Angaben besteht. Nur bei fehlenden oder falschen tatsächlichen Angaben
des Arbeitgebers darf die Beklagte regelnd eingreifen und dabei ggf auch rechtliche Wertungen vornehmen bzw
richtigstellen. Hieran ändert sich nichts dadurch, daß der Kläger um einen rechtsmittelfähigen Bescheid gebeten hat.
Gesetzliche Kompetenzen zum Erlaß eines Verwaltungsaktes im Rahmen der gebundenen Verwaltung können nicht
entgegen der Gesetzeslage allein durch Übereinkunft zwischen der den Verwaltungsakt erlassenen Behörde und dem
Empfänger des Verwaltungsaktes geschaffen werden.
Die Beklagte war auch zum Erlaß des Feststellungsbescheids nicht deshalb berechtigt, weil der Kläger die Angaben
zu den Praktikantenstellen erst nach dem 30. Juni 1994 erstattet hat. Insoweit ist § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG im
Hinblick auf die Funktion des Feststellungsbescheids als Beweismittel einschränkend auszulegen. Zwar könnte der
Wortlaut des § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG eine Kompetenz der Beklagten zum Erlaß eines Feststellungsbescheids
immer schon dann nahelegen, wenn der Arbeitgeber bis 30. Juni des Folgejahrs seiner Verpflichtung nicht
nachgekommen ist, selbst wenn er die Anzeige nachträglich, vor Erlaß des Feststellungsbescheids, richtig und
vollständig erstattet. Dies würde jedoch der Funktion dieses Bescheids, (nur) die tatsächlichen Angaben des
Arbeitgebers zu ersetzen, widersprechen: Erstattet dieser die richtige und vollständige Anzeige noch vor Erlaß eines
Feststellungsbescheids, besteht keinerlei Notwendigkeit mehr für einen ersetzenden Akt der Beklagten; ein gleichwohl
ergehender Bescheid ist dann rechtswidrig. § 13 Abs 2 Satz 2 SchwbG verbietet es mithin der Beklagten zwar
generell, vor dem 1. Juli einen Feststellungsbescheid zu erlassen; er erlaubt ihr aber nicht den - späteren - Erlaß
eines Bescheids unabhängig davon, ob der Arbeitgeber nachträglich seiner Verpflichtung nachkommt. Eine andere
Frage ist es, ob ein Arbeitgeber, der die erforderlichen Anzeigen zu spät (nach dem 30. Juni oder gar nach dem 31.
März) erstattet, eine Ordnungswidrigkeit begeht (§ 68 Abs 1 Nrn 1 und 3 SchwbG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.