Urteil des BSG vom 09.10.2012

BSG: Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz, fiktive Einbeziehung, betriebliche Voraussetzung, DDR-Planwirtschaft, VEB Rohrleitungsbau Aschersleben

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 9.10.2012, B 5 RS 5/12 R
Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz - fiktive
Einbeziehung - betriebliche Voraussetzung - DDR-Planwirtschaft - VEB Rohrleitungsbau
Aschersleben
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 15.
März 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht
zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Feststellung der Zeit vom 1.9.1974 bis
30.6.1990 als Zeit der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen
Intelligenz (AVItech) sowie der während dieser Zeit erzielten Arbeitsentgelte hat.
2 Der am 1950 geborene Kläger ist berechtigt, die Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen
(Urkunde der Ingenieurschule für Anlagenbau G. vom 26.7.1974).
3 Im Anschluss an die Verleihung dieser Berechtigung war der Kläger nach den
Feststellungen des LSG ab 1.9.1974 beim VEB Kombinat Rohrleitungen und Isolierungen,
Betrieb R. , später VEB Rohrleitungsbau F., Betriebsteil A. sowie ab 1978 beim VEB
Rohrleitungsbau A. bis 30.6.1990 als Produktionslenker und zuletzt als Gruppenleiter
Preise bzw Leiter der Abteilung Preise und Abrechnung tätig.
4 Eine förmliche Versorgungszusage erhielt der Kläger zur Zeit der DDR nicht.
5 Den Antrag des Klägers auf Feststellung von Zusatzversorgungsanwartschaften lehnte die
Beklagte ab (Bescheid vom 29.1.2004, Widerspruchsbescheid vom 14.4.2004).
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Klage und Berufung des Klägers sind ebenfalls erfolglos geblieben (Urteil des SG
Magdeburg vom 24.11.2005; Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 15.3.2012). Zur
Begründung hat das Berufungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe
gemäß § 8 Abs 3 S 1 iVm Abs 2 und § 1 Abs 1 S 1 AAÜG keinen Anspruch auf die
beantragte Feststellung von Zugehörigkeitszeiten zum Zusatzversorgungssystem. Er
unterfalle nicht dem Geltungsbereich des § 1 Abs 1 AAÜG, weil er weder tatsächlich noch
im Wege der Unterstellung der AVItech angehört habe. Dem Kläger sei weder von
Organen der DDR eine Versorgung zugesagt noch sei er aufgrund einer
Rehabilitierungsentscheidung in ein Versorgungssystem einbezogen worden. Auch habe
ein rechtsstaatswidriger Entzug einer Versorgungsanwartschaft in seinem Fall nicht
stattgefunden. Der Rechtsprechung des BSG, nach der die Zugehörigkeit zu einem
Zusatzversorgungssystem nach § 1 Abs 1 S 1 AAÜG ebenso im Wege der Unterstellung
vorliegen könne, folge der Senat nicht. Abgesehen davon lägen auch die vom BSG
aufgestellten Voraussetzungen für eine fingierte Versorgungsanwartschaft nicht vor. Zwar
erfülle der Kläger als Ingenieur die persönliche Voraussetzung und sei auch als
Gruppenleiter Preise bzw Leiter der Abteilung Preise und Abrechnung am Stichtag
30.6.1990 entsprechend seiner erworbenen Qualifikation tätig gewesen. Zum 30.6.1990
sei er jedoch nicht in einem volkseigenen Produktionsbetrieb der Industrie oder des
Bauwesens oder einem gleichgestellten Betrieb beschäftigt gewesen. Fraglich sei schon,
ob es am 30.6.1990 überhaupt noch VEB gegeben habe, die organisatorisch dem
industriellen Produktionssektor der DDR Planwirtschaft zugeordnet gewesen seien. Denn
es sei zweifelhaft, ob es im Jahr 1990 eine Planwirtschaft iS des Art 9 Abs 3 der
Verfassung der DDR, auf die das BSG abstelle, überhaupt noch gegeben habe.
Abgesehen davon erfülle der VEB Rohrleitungsbau A. nicht die Vorgaben des BSG für
einen Produktionsbetrieb iS der AVItech. Der VEB sei kein Betrieb gewesen, der
Sachgüter im Hauptzweck industriell, dh serienmäßig wiederkehrend gefertigt habe. Der
Tätigkeitsschwerpunkt der in der Produktion eingesetzten Beschäftigten lasse sich der
Anlage 1 zur "Darstellung des Rohrleitungsbau A. " entnehmen. Danach habe sich für
das 2. Halbjahr 1990 folgende Auftragslage ergeben:
-
Stahlrohre: 16 km mit 16,3 Mio DM
-
Rohrleitungselemente: 900 t mit 4,5 Mio DM
-
Behälter: 0,65 Mio DM
-
Sonstige
industrielle
Leistungen
(Isolierarbeiten,
Montagearbeiten,
Serviceleistungen): 1 Mio DM.
7 Diese Zahlen verdeutlichten, dass dem VEB in erster Linie die Stahlrohrproduktion das
Gepräge gegeben habe. Eine Stahlrohrproduktion von 16 km im Halbjahr bzw -
entsprechend der Jahresvorgabe durch die staatliche Plankommission - von 39 km pro
Jahr bedeute eine monatliche Fertigung von ca 2700 bis 3300 Metern. Angesichts dieser
geringen Zahl könne von industrieller Massenfertigung in serieller Produktion keine Rede
sein. Hinzu komme, dass nach Auskunft des ehemaligen Direktors für Produktion bzw für
Technik und Produktion des VEB Rohrleitungsbau A. S. der Anteil der wiederholenden
Fertigung zwar ca 80 % betragen habe, sich die Produkte, zB Rohre, jedoch regelmäßig in
technischen Details unterschieden hätten. Dies bedeute, dass die Produktion zumindest
teilweise auch von individuellen Vorgaben abhängig gewesen sein dürfte, was zusätzlich
gegen eine serielle Massenproduktion spreche. Hiergegen spreche auch die ausweislich
der Betriebsgeschichte offenbar Mitte der 1980er Jahre vorgenommene Fertigung einer
Rauchgasanlage für Salzgitter. Dies verdeutliche, dass es nicht zuletzt im
Schwerpunktbereich des Betriebes, dem Rohrleitungsbau, zumindest auch eine
nennenswerte Produktion nach individuellen Kundenwünschen gegeben habe.
8 Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 8 Abs 3 S
1 iVm Abs 2 und § 1 Abs 1 S 1 AAÜG. Hierzu trägt er im Wesentlichen vor: Nach der
Rechtsprechung des BSG habe er Anspruch auf eine fiktive Einbeziehung in die
zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz. Er erfülle nicht nur die
persönliche und sachliche Voraussetzung, sondern auch die betriebliche Voraussetzung.
Entgegen der Rechtsauffassung des LSG habe es im Juni 1990 noch eine Planwirtschaft
iS von Art 9 Abs 3 der Verfassung der DDR gegeben. Auch sei der VEB Rohrleitungsbau
A. ein volkseigener Produktionsbetrieb iS des § 1 der Verordnung über die zusätzliche
Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen
gleichgestellten Betrieben (VO-AVItech) vom 17.8.1950 (GBl I Nr 93 S 844) iVm § 1 Abs 1
S 1 der Zweiten Durchführungsbestimmung zu dieser Verordnung (2. DB) vom 24.5.1951
(GBl Nr 62 S 487) gewesen. Der Tätigkeitsschwerpunkt des Betriebes habe in erster Linie
in der Stahlrohrproduktion gelegen. Die Schlussfolgerung des LSG, dass es sich bei einer
monatlichen Fertigung von ca 2700 bis 3300 m nur um eine geringe Zahl gehandelt habe,
sei nicht nachvollziehbar. Weder sei erkennbar, woraus das LSG diesen Schluss ziehe,
noch welchen Maßstab es hierbei anlege. Ab welcher Fertigungsmenge die vom VEB
Rohrleitungsbau A. hergestellten Rohre in den aktenkundigen Abmaßen eine
Massenproduktion ergeben hätten, erläutere das LSG ebenso wenig. Aus der vom
Berufungsgericht herangezogenen Anlage 1 zur "Darstellung des Rohrleitungsbau A."
ergebe sich, dass im 2. Halbjahr 1990 monatlich ca 150 000 kg Stahl durch den VEB
verarbeitet worden seien. Eine derartige Menge an Material könne gerade nicht ohne
industrielle und insbesondere serielle Produktionsmethoden verarbeitet werden. Darüber
hinaus wäre es nicht verständlich, wenn der Begriff "Massenproduktion" einzig und allein
an Stückzahlen oder laufende Meter anknüpfen würde. Ebenso wenig sei die Auffassung
des LSG nachvollziehbar, dass auch die im VEB Rohrleitungsbau A. zumindest teilweise
von individuellen Vorgaben abhängig gewesene Produktion gegen eine serielle
Massenproduktion spreche. Individuelle Vorgaben bedeuteten gerade nicht
Einzelanfertigung. Es bedeute vielmehr, dass in der Produktionsvorbereitung des
jeweiligen Betriebes Arbeitsschritte notwendig würden, um nach den jeweiligen Aufträgen
die vorhandene Maschinerie des Betriebes auf die neue Gegebenheit anzupassen. Nichts
anderes passiere, wenn ein Betrieb eine Katalogware herstelle, diese aber in
unterschiedlicher Ausführung (sei es nun bezogen auf Farbe, Größe oä). Ob nun völlig
kundenunabhängig Sachgüter auf Lager produziert würden oder aber daneben aufgrund
besonderer Auftragsstellung die industrielle Taktstraße auftragsbezogen eingerichtet
werde, könne für die Beurteilung, ob es sich um einen VEB der seriellen
Massenproduktion handele, nicht ausschlaggebend sein. Ebenso wenig stütze die
Betriebsgeschichte des VEB das Urteil des LSG. Bei dieser Dokumentation handele es
sich um eine Art Chronik des Betriebes, in welcher selbstverständlich nur Besonderheiten
Erwähnung fänden.
9
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. die Urteile des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 15. März 2012 und des
Sozialgerichts Magdeburg vom 24. November 2005 sowie den Bescheid der
Beklagten vom 29. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.
April 2004 aufzuheben und
2. die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 1. September 1974 bis 30. Juni 1990 als
Zeit der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz
sowie die in diesem Zeitraum erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.
10 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
11 Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.
Entscheidungsgründe
12 Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§
170 Abs 2 S 2 SGG). Eine Entscheidung in der Sache kann der Senat nicht treffen, weil
hierzu weitere Tatsachenfeststellungen des LSG erforderlich sind.
13 Der Kläger begehrt im Revisionsverfahren, die Beklagte zu verurteilen, seine
Beschäftigungszeit vom 1.9.1974 bis 30.6.1990 als Zeit der Zugehörigkeit zur AVItech
nebst der dabei erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.
14 Ob die Beklagte die begehrten rechtlichen Feststellungen hätte treffen müssen, lässt sich
ohne weitere Tatsachenfeststellungen nicht entscheiden. Als Anspruchsgrundlage kommt
allein § 8 Abs 2, Abs 3 S 1 und Abs 4 Nr 1 AAÜG in Betracht. Nach § 8 Abs 3 S 1 AAÜG
hat die Beklagte als Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssysteme der Anl 1 Nr 1
bis 27 (§ 8 Abs 4 Nr 1 AAÜG) dem Berechtigten durch Bescheid den Inhalt der Mitteilung
nach Abs 2 aaO bekanntzugeben. Diese Mitteilung hat folgende Daten zu enthalten (vgl
BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 10): Zeiten der Zugehörigkeit zu einem
Zusatzversorgungssystem, das hieraus tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt oder
Arbeitseinkommen, die Arbeitsausfalltage sowie - jedenfalls bis zum Inkrafttreten des 2.
AAÜG-ÄndG zum 3.8.2001 (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 14.12.2011 - B
5 R 2/10 R - Juris) - alle Tatumstände, die erforderlich sind, um eine besondere
Beitragsbemessungsgrenze anzuwenden (§§ 6, 7 AAÜG).
15 Allerdings hat der Versorgungsträger diese Daten nur festzustellen, wenn das AAÜG
anwendbar ist (BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 10 und Nr 6 S 37). Den Anwendungsbereich
des AAÜG, das am 1.8.1991 in Kraft getreten ist (Art 42 Abs 8 RÜG vom 25.7.1991, BGBl I
1606), regelt dessen seither unveränderter § 1 Abs 1. Danach gilt das Gesetz für
Ansprüche und Anwartschaften (= Versorgungsberechtigungen), die aufgrund der
Zugehörigkeit zu Zusatz- und Sonderversorgungssystemen (Versorgungssysteme iS der
Anl 1 und 2 im Beitrittsgebiet (§ 18 Abs 3 SGB IV) erworben worden sind (S 1). Soweit die
Regelungen der Versorgungssysteme einen Verlust der Anwartschaften bei einem
Ausscheiden aus dem Versorgungssystem vor dem Leistungsfall vorsahen, gilt dieser
Verlust als nicht eingetreten (S 2), so dass das AAÜG auch in diesen Fällen Geltung
beansprucht.
16 Aufgrund der Feststellungen des LSG kann nicht entschieden werden, ob der Kläger vom
persönlichen Anwendungsbereich des AAÜG erfasst ist, weil er am 1.8.1991 aus
bundesrechtlicher Sicht eine "aufgrund der Zugehörigkeit" zur AVItech "erworbene"
Anwartschaft hatte. Hierauf kommt es deshalb entscheidend an, weil der Kläger weder
einen "Anspruch" iS von § 1 Abs 1 S 1 AAÜG noch eine fiktive Anwartschaft gemäß S 2
aaO innehat.
17 1. Der Ausdruck "Anspruch" umfasst in seiner bundesrechtlichen Bedeutung das (Voll-
)Recht auf Versorgung, wie die in § 194 BGB umschriebene Berechtigung, an die auch §
40 SGB I anknüpft, vom Versorgungsträger (wiederkehrend) Leistungen, nämlich die
Zahlung eines bestimmten Geldbetrags zu verlangen. Dagegen umschreibt "Anwartschaft"
entsprechend dem bundesdeutschen Rechtsverständnis eine Rechtsposition unterhalb
der Vollrechtsebene, in der alle Voraussetzungen für den Anspruchserwerb bis auf den
Eintritt des Versicherungs- bzw Leistungsfalls (Versorgungsfall) erfüllt sind (BSG SozR 3-
8570 § 1 Nr 6 S 38 und Nr 7 S 54).
18 Ausgehend von diesem bundesrechtlichen Begriffsverständnis hat der Kläger schon
deshalb keinen "Anspruch" auf Versorgung iS des § 1 Abs 1 S 1 AAÜG erworben, weil bei
ihm bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1.8.1991 kein Versorgungsfall (Alter,
Invalidität) eingetreten war. Zu seinen Gunsten begründet auch nicht ausnahmsweise § 1
Abs 1 S 2 AAÜG eine (gesetzlich) fingierte Anwartschaft ab dem 1.8.1991, weil der Kläger
in der DDR nie konkret in ein Versorgungssystem einbezogen worden war und diese
Rechtsposition deshalb später auch nicht wieder verlieren konnte (vgl dazu BSG SozR 3-
8570 § 1 Nr 2 S 15 und Nr 3 S 20 f; SozR 4-8570 § 1 Nr 4 RdNr 8 f).
19 2. Dagegen kann auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht
entschieden werden, ob der Kläger "aufgrund der Zugehörigkeit" zu einem
Zusatzversorgungssystem eine "Anwartschaft" auf Versorgung iS von § 1 Abs 1 S 1 AAÜG
erworben hat. Der erkennende Senat hat die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (vgl
SozR 3-8570 § 1 Nr 7) zum Stichtag 30.6.1990 und zur sog erweiternden Auslegung im
Ergebnis in seinen Entscheidungen vom 15.6.2010 (vgl nur BSGE 106, 160 = SozR 4-
8570 § 1 Nr 17) ausdrücklich fortgeführt. Die Bedenken des LSG geben keinen Anlass zu
einer erneuten Prüfung.
20 Ausgangspunkt für die Beurteilung der Frage einer fiktiven Zugehörigkeit zum System der
AVItech in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben am Stichtag 30.6.1990
auf der Grundlage des am 1.8.1991 geltenden Bundesrechts sind die "Regelungen" für die
Versorgungssysteme, die gemäß Anl II Kap VIII Sachgebiet H Abschn III Nr 9 des Vertrags
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31.8.1990 (BGBl II 889) mit dem Beitritt
am 3.10.1990 zu - sekundärem - Bundesrecht geworden sind. Dies sind insbesondere die
VO-AVItech und die dazu ergangene 2. DB, soweit sie nicht gegen vorrangiges originäres
Bundesrecht oder höherrangiges Recht verstoßen.
21
Nach § 1 VO-AVItech und der dazu ergangenen 2.
DB hängt das Bestehen einer fingierten
Versorgungsanwartschaft von folgenden drei
Voraussetzungen ab (vgl BSG SozR 3-8570 § 1 Nr
2 S 14, Nr 5 S 33, Nr 6 S 40 f, Nr 7 S 60; SozR 4-
8570 § 1 Nr 9 S 48), die kumulativ vorliegen
müssen:
1.
von
der
Berechtigung,
eine
bestimmte
Berufsbezeichnung
zu
führen
(persönliche
Voraussetzung),
2.
von der Ausübung einer entsprechenden Tätigkeit
(sachliche Voraussetzung),
3.
und zwar in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im
Bereich der Industrie oder des Bauwesens (§ 1 Abs 1
2. DB) oder in einem durch § 1 Abs 2 2. DB
gleichgestellten Betrieb (betriebliche Voraussetzung).
22 Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) erfüllt der Kläger
die persönliche und sachliche Voraussetzung. Er ist berechtigt, die Berufsbezeichnung
"Ingenieur" zu führen, und am Stichtag entsprechend seiner Qualifikation tätig gewesen.
23 Ob der Kläger auch die betriebliche Voraussetzung erfüllt, konnte der Senat nicht
abschließend entscheiden. Aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG lässt sich
nicht beurteilen, ob der VEB Rohrleitungsbau A. ein volkseigener Produktionsbetrieb der
Industrie oder des Bauwesens ist. Hierunter fallen nur Produktionsdurchführungsbetriebe,
denen unmittelbar die industrielle Massenproduktion von Sachgütern das Gepräge gibt.
Der erkennende Senat hält auch insoweit an der Rechtsprechung des 4. Senats (vgl etwa
BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 46 f sowie SozR 4-8570 § 1 Nr 16 RdNr 21 und 23) fest, was
er zuletzt in mehreren am 19.7.2011, 28.9.2011 und 9.5.2012 verkündeten Urteilen (ua
BSGE 108, 300, 303; B 5 RS 8/10 R - Juris RdNr 19; B 5 RS 8/11 R - Juris RdNr 21)
nochmals betont hat.
24 Für das Vorliegen der betrieblichen Voraussetzung ist unerheblich, ob es am Stichtag
30.6.1990 noch VEB gegeben hat, die organisatorisch dem industriellen
Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft zugeordnet waren. Ob die betriebliche
Voraussetzung iS der VO-AVItech iVm der 2. DB erfüllt ist, bestimmt sich nach der
bisherigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung allein danach, ob der Kläger am 30.6.1990
- abgesehen von den gleichgestellten Betrieben - in einem volkseigenen
Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens beschäftigt gewesen ist, dh einem
VEB, dem die industrielle Fertigung das Gepräge gegeben hat. Hingegen ist entgegen der
Auffassung des LSG nicht auch konstitutiv auf seine organisatorische Zuordnung
abgestellt worden (so schon Hinweis des Senats im Urteil vom 19.7.2011 - B 5 RS 7/10 R
- BSGE 108, 300 RdNr 28). Bereits im Urteil vom 9.4.2002 (B 4 RA 41/01 R - SozR 3-8570
§ 1 Nr 6 S 47 f) hatte der 4. Senat des BSG eine derartige Bedeutung allenfalls -
ausdrücklich nicht tragend - nur als möglich in Erwägung gezogen. Schon in der
Entscheidung vom 6.5.2004 (B 4 RA 52/03 R - Juris RdNr 29) wurde ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass allein die fehlende Zuordnung zu einem Industrieministerium nicht
genügt, einen Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens abzulehnen.
Dementsprechend zieht auch die spätere Rechtsprechung den Umstand der
organisatorischen Zuordnung durchgehend als weder notwendiges noch hinreichendes
Hilfskriterium allenfalls bestätigend heran (vgl BSG Beschluss vom 13.2.2008 - B 4 RS
133/07 B - Juris RdNr 11). Hat aber die Frage der organisatorischen Zuordnung keine
konstitutive Bedeutung, ist unerheblich, ob es am Stichtag noch einen industriellen
Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft gegeben hat. Vielmehr ist allein die Rechtsform
des Betriebs als VEB sowie seine tatsächliche Produktionsweise entscheidungsrelevant.
25 Das LSG hat den Begriff des industriellen Produktionsbetriebes iS des § 1 VO-AVItech
iVm § 1 Abs 1 der 2. DB im Ansatz zutreffend bestimmt und ist darüber hinaus zu Recht
davon ausgegangen, dass der VEB Rohrleitungsbau A. unter Berücksichtigung der am
1.6.1990 für das 2. Halbjahr 1990 gelisteten Auftragslage hauptsächlich durch die
Stahlrohrproduktion geprägt worden ist. Im Übrigen hat das LSG jedoch unrichtige
Anforderungen an den industriellen Produktionsbetrieb gestellt und damit die betriebliche
Voraussetzung verkannt.
26 Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 9.5.2012 - B 5 RS 8/11 R - Juris RdNr 23),
dass der versorgungsrechtliche Begriff der Massenproduktion im Sinne der AVItech auf die
standardisierte Herstellung einer unbestimmten Vielzahl von Sachgütern gerichtet ist. Er
ist damit in quantitativer Hinsicht allein durch die potentielle Unbegrenztheit der
betrieblichen Produktion gekennzeichnet. Dagegen kommt es nicht auf das konkrete
Erreichen einer bestimmten Anzahl von Gütern an, die der Betrieb insgesamt produziert
oder an einzelne Kunden abgegeben hat. Ebenso wenig ist maßgeblich, welchen Anteil
die Produktion des jeweiligen VEB an der DDR-Gesamtproduktion hatte. In ihrem
wesentlichen qualitativen Aspekt unterscheidet sich die Massenproduktion von der
auftragsbezogenen Einzelfertigung mit Bezug zu individuellen Kundenwünschen als
ihrem Gegenstück (vgl BSGE 108, 300, 305) dadurch, dass der Hauptzweck des Betriebs
auf eine industrielle Fertigung standardisierter Produkte in einem standardisierten und
automatisierten Verfahren gerichtet ist (so grundlegend BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 47;
BSG vom 6.5.2004 - B 4 RA 44/03 R - Juris RdNr 17). Es ist in erster Linie diese
Produktionsweise, die den Begriff der Massenproduktion im vorliegenden Zusammenhang
kennzeichnet, und die inhaltliche Gesamtbetrachtung des Betriebes, die ihn zu einem
Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens macht. "Standardisiert und
automatisiert" in diesem Sinne ist alles hergestellt, was mit einem vom Hersteller
vorgegebenen Produkt nach Art, Aussehen und Bauweise identisch ist, aber auch
dasjenige Sachgut, das aus mehreren ihrerseits standardisiert und automatisiert
hergestellten Einzelteilen zusammengesetzt und Teil einer einseitig und abschließend
allein vom Hersteller vorgegebenen Produktpalette ist.
27 Nach Auffassung des LSG ist der VEB Rohrleitungsbau A. kein industrieller
Produktionsbetrieb gewesen, weil eine Stahlrohrproduktion von 16 km im Halbjahr bzw -
entsprechend der Jahresvorgabe durch die staatliche Plankommission - von 39 km pro
Jahr lediglich eine monatliche Fertigung von ca 2700 bis 3300 m bedeute und angesichts
dieser geringen Zahl von industrieller Massenfertigung in serieller Produktion nicht die
Rede sein könne. Nach Maßgabe der oben genannten Anforderungen kommt es indes
nicht darauf an, welche Anzahl von Gütern der Betrieb insgesamt produziert hat.
Quantitativ maßgeblich ist vielmehr die potentielle Unbegrenztheit der betrieblichen
Produktion. Ebenso wenig spricht zwingend gegen eine serielle Massenproduktion, dass
sich die wiederkehrend gefertigten Produkte - zB Rohre - nach den Feststellungen des
LSG regelmäßig in technischen Details unterschieden haben. Dies stünde nur dann der
Annahme einer industriellen Fertigung entgegen, wenn die Produktionsweise des
Betriebes von vornherein darauf angelegt war, allein den Wünschen des jeweiligen
Auftraggebers entsprechend Einzelstücke herzustellen, die so vom Hersteller nicht
vorgesehen waren. Kommt es dagegen zur Abgabe von nach individuellen Vorgaben
gefertigten Produkten, die in der vom Hersteller vorgegebenen Produktpalette enthalten
sind, ist die Eigenschaft als Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens nicht
gefährdet. Zu Recht weist die Revisionsbegründung darauf hin, dass es nicht
ausschlaggebend ist, ob kundenunabhängig Sachgüter auf Lager produziert werden oder
aufgrund besonderer Auftragsstellung die industrielle Taktstraße auftragsbezogen aus der
Palette des Herstellers eingerichtet wird.
28 Unerheblich ist schließlich, dass der VEB Rohrleitungsbau A. bzw einer seiner
Vorgängerbetriebe Mitte der 1980er Jahre eine Rauchgasanlage für Salzgitter
(offensichtlich als Einzelstück) hergestellt hat. Die Entscheidung, ob ein industrieller
Produktionsbetrieb im Sinne der versorgungsrechtlichen Bestimmungen vorliegt, richtet
sich allein nach den Produktionsbedingungen am Stichtag 30.6.1990. Unter
Berücksichtigung der vom LSG festgestellten Auftragslage ist zu diesem Zeitpunkt eine
individuell konzipierte Großanlage nicht gefertigt worden.
29 Das LSG wird nunmehr zunächst festzustellen haben, ob die Stahlrohrproduktion im VEB
Rohrleitungsbau A. durch ihre potentielle Unbegrenztheit gekennzeichnet war. Sollte dies
der Fall sein, wird das Berufungsgericht unter Beachtung der genannten Vorgaben zu
prüfen haben, ob bzw in welchem Ausmaß die Stahlrohre in einem standardisierten und
automatisierten Verfahren erstellt worden sind bzw wie individuelle Kundenwünsche in
der Produktion umgesetzt worden sind. Sollten die Produkte teilweise im Wege der
industriellen Massenproduktion und teilweise in auftrags- und kundenbezogener
Einzelfertigung gefertigt worden sein, sind diese Bereiche jeweils nach einheitlichen
Maßstäben zu bewerten und zueinander in Beziehung zu setzen. Insoweit bietet sich ein
Vergleich der jeweiligen Anteile am Umsatz oder Ertrag an.
30 Sollte der Kläger am Stichtag 30.6.1990 auch die betriebliche Voraussetzung erfüllen, wird
das LSG weiter festzustellen haben, ab welchem Zeitpunkt der Kläger als Gruppenleiter
Preise bzw Leiter der Abteilung Preise und Abrechnung tätig gewesen ist und ob seine
davor ausgeübte Beschäftigung ebenfalls der Tätigkeit eines Ingenieurs entsprochen hat.
Ferner wird das LSG festzustellen haben, ob auch die Vorgängerbetriebe des VEB
Rohrleitungsbau A. industrielle Produktionsbetriebe waren.
31 Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung durch das LSG vorbehalten.