Urteil des BSG vom 13.03.2017

BSG (haftung, ohg, kläger, ausscheiden, unternehmer, gesellschaft, gesellschafter, wechsel, unfallversicherung, forderung)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 27.5.2008, B 2 U 19/07 R
Gesetzliche Unfallversicherung - gesamtschuldnerische Beitragshaftung eines
ausgeschiedenen Gesellschafters gem § 150 Abs 4 SGB 7 - Insolvenz - keine
Sperrwirkung gem § 93 InsO - Akzessorietät - Verletzung der Mitteilungspflicht gem §
192 Abs 4 S 1 SGB 7 - früherer Unternehmer - Abgrenzung zur Haftung gem §§ 160,
128 HGB
Leitsätze
Der Beitragshaftung des früheren Unternehmers nach § 150 Abs 4 SGB 7 steht nicht entgegen,
dass nach § 93 InsO die persönliche Haftung des Gesellschafters für Verbindlichkeiten der
Gesellschaft während deren Insolvenzverfahrens nicht geltend gemacht werden kann.
Tatbestand
1 Umstritten ist die Pflicht des Klägers zur Zahlung von Beiträgen an die beklagte
Berufsgenossenschaft (BG) als früherer Unternehmer nach § 150 Abs 4 des Siebten Buches
Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII).
2 Der Kläger war neben seinen Söhnen Gesellschafter der B und S OHG (im Folgenden: OHG).
Ausweislich des Eintrags im Handelsregister vom 4. Januar 2001 ist der Kläger aus der
offenen Handelsgesellschaft (OHG) ausgeschieden, nach seinen Angaben zum 31.
Dezember 2000. Auf den Beitragsbescheid der Beklagten für das Jahr 2001 an die OHG
wurden keine Zahlungen geleistet. Mit Beschluss des Amtsgerichts Idar-Oberstein vom 16.
August 2002 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der OHG eröffnet und ein
Insolvenzverwalter bestellt. Die Beklagte meldete als Forderungen Beiträge für die Zeit vom 1.
Januar 2001 bis zum 15. August 2002 in Höhe von 14.997,90 Euro zuzüglich
Säumniszuschlägen in Höhe von 754,50 Euro, insgesamt 15.752,40 Euro an.
3 Den selben Betrag setzte sie gegenüber dem Kläger persönlich als Forderung fest, weil sie
von seinem Ausscheiden aus der OHG erst im August 2002 erfahren habe und er gemäß §
150 Abs 4 SGB VII für die Beiträge gesamtschuldnerisch hafte (Bescheid vom 6. Dezember
2002, Widerspruchsbescheid vom 29. April 2003).
4 Das angerufene Sozialgericht Mainz (SG) hat die Bescheide aufgehoben, weil die Beklagte
durch § 93 der Insolvenzordnung (InsO) für die Dauer des Insolvenzverfahrens am Erlass
eines Bescheides über die Forderung gegenüber dem Kläger persönlich gehindert sei, eine
solche könne nur vom Insolvenzverwalter wirksam geltend gemacht werden (Urteil vom 27.
Januar 2006). Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) hat das Urteil des SG
aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Mai 2007). Es führt zur Begründung im
Wesentlichen aus: Der Kläger sei iS des § 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII "Unternehmer" der OHG
gewesen. Als solcher hafte er gemäß § 150 Abs 4 SGB VII gesamtschuldnerisch für die
Beiträge und die damit zusammenhängenden Leistungen bis zum Ablauf des Kalenderjahres,
in dem der Unternehmerwechsel angezeigt worden sei. Entgegen dem Vorbringen des
Klägers habe eine Anzeige über sein Ausscheiden aus der OHG gegenüber der Beklagten
Ende des Jahres 2000/Anfang des Jahres 2001 nicht festgestellt werden können. Ob die
Beklagte im Juli oder August des Jahres 2002 von seinem Ausscheiden Kenntnis erlangt
habe, könne dahinstehen, da der Kläger jedenfalls bis zum Ablauf des Jahres 2002 zur
Zahlung der Beiträge usw verpflichtet sei.
5 Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der OHG und insbesondere § 93
InsO ständen der persönlichen Haftung des Klägers nicht entgegen. Die Vorschrift habe den
Zweck, einen Wettlauf der Insolvenzgläubiger bei der Durchsetzung der persönlichen Haftung
der Gesellschafter einer Personengesellschaft nach § 128 des Handelsgesetzbuchs (HGB) zu
verhindern. § 93 InsO sei vorliegend jedoch nicht anwendbar, weil dieser keine Ansprüche
umfasse, die auf einem von der Gesellschaft rechtlich unabhängigem Rechtsgrund,
insbesondere einer rechtlich selbstständigen Verpflichtung des Gesellschafters beruhten
(Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 4. Juli 2002 - IX ZR 265/01 -
BGHZ 151, 245 und das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 2. November 2001 - VII B
155/01 - BFHE 197, 1). So sei es indes hier, weil der umstrittene Bescheid der Beklagten nicht
mit der akzessorischen Haftung des Klägers als Gesellschafter der OHG, sondern mit dessen
rechtlich eigener Verpflichtung aus § 150 Abs 4 SGB VII begründet worden sei. Im Übrigen
gehe die Haftung nach § 150 Abs 4 SGB VII weit über die nach §§ 128, 160 HGB hinaus, weil
sie gerade Beiträge erst nach dem Ausscheiden aus der Gesellschaft umfasse.
6 Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts
und macht geltend: § 93 InsO stehe einer Inanspruchnahme seinerseits durch die Beklagte
entgegen. In den angeführten Entscheidungen des BGH und des BFH sei insbesondere
darauf abgestellt worden, dass vorsätzliche und grob fahrlässige Pflichtverletzungen
vorgelegen hätten und die angewandte Haftungsnorm des § 69 der Abgabenordnung (AO)
Schadensersatzcharakter habe. § 150 Abs 4 SGB VII habe keinen Schadensersatzcharakter
und sei mit einer derartigen Haftungsnorm nicht vergleichbar. Die Haftung des § 150 Abs 4
SGB VII gehe auch nicht über die Haftung der §§ 128, 160 HGB weit hinaus. Beide
Regelungen setzten kein Verschulden voraus und hätten keinen Schadensersatzcharakter.
Es sei kein Grund für eine Ausnahme von § 93 InsO zu erkennen, da § 150 Abs 4 SGB VII
keine eigenständige sozialversicherungsrechtliche Haftungsvorschrift sei, die ein
Verschulden wie die finanzrechtlichen Vorschriften voraussetze. Nur bei einem Pflichtverstoß
könne die Sperrwirkung des § 93 InsO entfallen. Die Entstehungsgeschichte des § 93 InsO
spreche ebenfalls gegen eine Ausnahme zu Gunsten des § 150 Abs 4 SGB VII, weil in der
Gesetzesbegründung (BT-Drucks 12/2443 S 139 f) nur besondere Haftungstatbestände aus
rechtsgeschäftlicher Haftung oder nach den Grundsätzen der Vertrauenshaftung oder aus
unerlaubter Handlung angeführt würden.
7 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. Mai 2007 aufzuheben und die
Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 27. Januar 2006
zurückzuweisen.
8 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht auf die Berufung der
beklagten BG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Kläger ist
verpflichtet an die Beklagte insgesamt 15.752,40 Euro an Beiträgen und
Säumniszuschlägen zu zahlen. Denn er haftet für diese Beiträge als früherer Unternehmer
der OHG gemäß § 150 Abs 4 SGB VII (nachfolgend 1.) und diese Haftung ist nicht durch §
93 InsO ausgeschlossen (nachfolgend 2.).
10 1. Nach § 150 Abs 4 SGB VII sind bei einem Wechsel der Person des Unternehmers der
bisherige Unternehmer und sein Nachfolger bis zum Ablauf des Kalenderjahres, in dem der
Wechsel angezeigt wurde, zur Zahlung der Beiträge und damit zusammenhängender
Leistungen als Gesamtschuldner verpflichtet.
11 Diese Voraussetzungen sind vorliegend für die strittigen Jahre 2001 und 2002 erfüllt, wie
sich aus den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und daher
für den Senat bindenden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes ) tatsächlichen
Feststellungen des LSG ergibt. Zwar ist der Kläger Ende des Jahres 2000 oder Anfang des
Jahres 2001 aus der OHG ausgeschieden. Dieses Ausscheiden und der darin liegende
Wechsel des bzw der Unternehmer, weil nur noch seine Söhne als Gesellschafter in der
OHG verblieben waren, wurde der Beklagten jedoch nach den im Revisionsverfahren nicht
mehr umstrittenen Feststellungen des LSG damals nicht angezeigt (vgl zu dieser
Anzeigepflicht § 192 Abs 4 Satz 1 SGB VII). Vielmehr hat die Beklagte von dem
Ausscheiden des Klägers aus der OHG erst im Laufe des im Jahre 2002 eröffneten
Insolvenzverfahrens über die OHG Kenntnis erlangt.
12 2. Dieser Haftung des Klägers aus § 150 Abs 4 SGB VII für die Beiträge und
Säumniszuschläge der OHG aus den Jahren 2001 und 2002 steht § 93 InsO nicht entgegen.
13 § 93 InsO lautet: "Ist das Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft ohne
Rechtspersönlichkeit oder einer Kommanditgesellschaft auf Aktien eröffnet, so kann die
persönliche Haftung eines Gesellschafters für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft
während der Dauer des Insolvenzverfahrens nur vom Insolvenzverwalter geltend gemacht
werden." Schon vom Wortlaut her bezieht sich die Regelung auf "die persönliche Haftung
eines Gesellschafters für die Verbindlichkeiten einer Gesellschaft" ohne
Rechtspersönlichkeit, wie vorliegend der OHG. Die Wendung "persönliche Haftung eines
Gesellschafters" knüpft ersichtlich gerade bei einer OHG an die persönliche Haftung ihrer
Gesellschafter nach § 128 HGB an. Dies wird auch durch die Begründung des
Gesetzentwurfs für die InsO, in dem der heutige § 93 dem § 105 entsprach, bestätigt (BT-
Drucks 12/2443 S 139 f; ebenso: BFH, Urteil vom 2. November 2001 - VII B 155/01 - BFHE
197, 1 mwN; BGH, Urteil vom 4. Juli 2002 - IX ZR 265/01 - BGHZ 151, 245 mwN).
14 § 150 Abs 4 SGB VII als Rechtsgrundlage für die Beitragshaftung des früheren
Unternehmers, dessen Voraussetzungen oben festgestellt wurden, knüpft aber nicht an
diese persönliche Haftung des OHG-Gesellschafters nach § 128 HGB bzw des
ausgeschiedenen OHG-Gesellschafters iVm § 160 HGB an, sondern ist ein eigenständiger
Haftungstatbestand des Beitragsrechts der gesetzlichen Unfallversicherung, der in keinerlei
Beziehung zu den speziellen Regelungen der Gesellschafterhaftung nach dem HGB steht,
wie den Ausführungen unter 1. entnommen werden kann.
15 Aus dem Sinn und Zweck des § 93 InsO folgt nichts anderes, wie schon der BFH und der
BGH unter Bezugnahme auf die schon angeführte Begründung zur InsO und in
Übereinstimmung mit der Mehrheit im Schrifttum zu der steuerrechtlichen Haftungsnorm des
§ 69 AO ausgeführt haben (BFH, Urteil vom 2. November 2001 - VII B 155/01 - BFHE 197, 1,
RdNr 9 ff mwN; BGH, Urteil vom 4. Juli 2002 - IX ZR 265/01 - BGHZ 151, 245, RdNr 9 ff
mwN). Zwar soll § 93 InsO sicherstellen, dass die Insolvenzmasse im Interesse der
gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger nicht durch den schnelleren Zugriff einzelner
Gläubiger auf die persönlich haftenden Gesellschafter geschmälert wird. Dies rechtfertigt
jedoch nicht, die Ansprüche anderer Gläubiger, die diese gegenüber dem Gesellschafter
persönlich haben, in das Insolvenzverfahren mit einzubeziehen und damit zu entwerten,
zumal dies zu einem Eingriff in ihr Eigentumsrecht nach Art 14 des Grundgesetzes führen
würde.
16 Angesichts der Grundkonzeption des § 93 InsO, der an der akzessorischen Haftung des
Gesellschafters für die Schulden der Gesellschaft anknüpft, und dem eigenständigen
Haftungstatbestand des § 150 Abs 4 SGB VII zwischen dem früheren Unternehmer und der
BG als Beitragsgläubigerin kommt es auf den Rechtscharakter dieses Haftungstatbestandes,
ob er verschuldensabhängig ist, Schadenscharakter hat usw, entgegen der Auffassung der
Revision nicht an. Für derartige Einschränkungen sprechen weder der Wortlaut der Normen
noch sonstige Gründe. Auch der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 12/2443 S 139 f) ist keine
Beschränkung auf besondere Haftungstatbestände zu entnehmen. Darüber hinaus ist zu
beachten, dass es zu einer Haftung für die Folgejahre nur kommen kann, wenn die
Mitteilungspflicht gegenüber dem Unfallversicherungsträger über den Wechsel in der Person
des Unternehmers nach § 192 Abs 4 Satz 1 SGB VII verletzt wird.
17 Die Revision verkennt auch, dass die Haftung des früheren Unternehmers nach § 150 Abs 4
SGB VII weiter reicht als die Haftung des früheren OHG-Gesellschafters nach §§ 160, 128
HGB. Die Haftung des letzteren umfasst Verbindlichkeiten, die bis zu seinem Ausscheiden
aus der Gesellschaft - vorliegend Ende des Jahres 2000/Anfang des Jahres 2001 begründet
wurden. Die Haftung nach § 150 Abs 4 SGB VII zielt jedoch typischerweise gerade auf die
Haftung für Beitragsschulden ab, die erst nach dem Ausscheiden entstanden sind.
18 Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 SGG iVm § 154 Abs 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung, weil der Kläger das Verfahren nicht als Versicherter, sondern
als Unternehmer führt. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a Abs 1 SGG
iVm § 52 des Gerichtskostengesetzes. Der festgesetzte Streitwert entspricht der nach den
Feststellungen des LSG umstrittenen Forderung.